Ein reichlich abgegriffenes Sprichwort von umstrittener Herkunft besagt, dass Tradition nicht in der Anbetung von Asche, sondern in der Weitergabe der Flamme zu sehen sei. Doch was tun, wenn die letzte Generation an Fackelträgern keine lichte Lohe, sondern allenfalls eine unstet glimmende Glut weitergereicht hat? Da einige Punkte des jüngst veröffentlichten Grundlegungstextes zum weiteren Ausholen verlocken, macht Andreas König den Anfang, indem er gedanklich unseren zweiten Luftschlosspfeiler umkreist.
Wer heute den Blick über die Kulturlandschaften Europas schweifen lässt, der wird selbst aus einer wohlwollenden Perspektive feststellen müssen, dass das Stadium der jugendlichen, schöpferischen Blüte im post-modernen Abendland schon eine ganze Weile zurückliegt.
Der funkensprühende Elan einer aufstrebenden Kultur ist längst den Alterserscheinungen der gesättigten Spätepoche gewichen: Verflachung, Standarisierung und Kommodifizierung. Literatur, Kunst, Musik und Film sind Produkte unter anderen Produkten, die zentral kalkuliert, am Fließband produziert und für den allgemeinen Verzehr optimiert werden. Die digitale Vernetzung macht alles jederzeit und für Jedermann verfügbar, was noch zur Stärkung des Mainstreams beigetragen hat, der durch wenige große Produktionsfirmen und Vertriebsplattformen repräsentiert wird. Zwar hat sich im kulturellen „Untergrund“ der digitalen Welt gleichzeitig ein extrem vielseitiger Dschungel an verschiedensten Nischen, Stilen und Kleinstkünstlern etabliert, doch ist das Maß an Fluktuation hier so hoch, dass sich nur selten ausgereiftere Formen verstetigen. Sobald sich einmal etwas Authentisches aus dieser Sphäre hervortut, sind die großen Verwerter jedenfalls schnell zur Stelle, um ihre Produktpalette um eine neue Sensation zu bereichern.
Obendrein leidet der Europäer von heute an einem Übermaß an Selbstreflektiertheit, das jede kompromisslose Stilsetzung von vornherein verdächtigt erscheinen lässt. Man kennt sich selbst einfach zu gut und ist sich seiner eigenen Ungereimtheiten zu bewusst, um noch unvoreingenommen etwas Neues zu versuchen oder gar expansive Ansprüche zu stellen. Stattdessen begibt man sich lieber in ironische Distanz zu sich selbst und verwendet seine Energie vor allem darauf, die Werke seiner Vorgänger zu kopieren, zu interpretieren oder zu kritisieren. In zeitlich verdichteter Form wird das z.B. an der Pop-Kultur der „Millenials“ (Geburtenjahrgänge ca. 1980 bis 1995) sichtbar, wo schon heute ein großer Teil der produzierten Unterhaltungsmedien, wie Filme und Videospiele, aus nostalgischen Neuauflagen der 80er und 90er Jahre besteht. Wo das Eigene nicht mehr recht taugt, um das weiterhin vorhandene Bedürfnis nach Faszination und Sinngebung zu befriedigen, sucht man außerdem sein Heil in der Fremde, verlässt dabei aber nur in den seltensten Fällen die vorgefertigten Schemata der westlichen Perspektive.
Wenn man uns also die Frage stellt, ob sich das Feuer der europäischen Kultur in absehbarer Zeit im großem Stil neu entfachen wird, so müssen wir, auch ohne dabei die altbekannte Leier vom „Untergang des Abendlandes“ anzustimmen, jedenfalls feststellen: Es sieht nicht danach aus.
Der Akt der Selbstverbrennung
Bei dieser nüchternen Bestandsaufnahme drängt sich unweigerlich die Folgefrage auf: Was bedeutet diese Lage für uns, die wir uns auf die Fahnen geschrieben haben, die europäische Kultur und Geistesgeschichte nicht so einfach der Aschetonne zu überlassen?
Eine mögliche Reaktion läge darin, sich rücksichtslos gegen die Umstände der Zeit aufzulehnen und ganz der Losung zu verschreiben, die Friedrich Gundolf am Ende seines Gedichtes, das als „Lied der Weißen Rose“ bekannt geworden ist, ausgibt: „Und in das Feuer, das verraucht, / Wirf dich als letztes Scheit.“
Wer diesen Weg des vollen Einsatzes und der heroischen Selbstaufgabe wählt, verdient zweifellos Respekt. Doch so faszinierend das Entfachen einer solchen Stichflamme im persönlichen Opfer auch wirken mag, verspricht es doch nicht, das erloschene Feuer auf Dauer neu zu entzünden. Gerade das Beispiel der Weißen Rose zeigt, dass auch ein kurzzeitiges Aufflammen wieder zu verrauchen droht, wenn nicht genug Brennstoff vorhanden ist, der sich von ihm anstecken lässt. Obendrein verbraucht sich damit womöglich der beste Zunder auf einen Schlag. Das Ergebnis mag ein Ehrfurcht einflößendes Leuchtfeuer sein, doch bleibt auch hiervon am Ende wenig über, was sich weitergeben ließe. Hier verbirgt sich deshalb auch die Gefahr der bloßen Inszenierung und des gemütlichen Einrichtens auf dem „verlorenen Posten“, das von der Verantwortung des Tradierens entbindet; zumal das System heute deutlich sanftere und unscheinbarere Mittel zur Wiedereingliederung von Abweichlern kennt als das Fallbeil.
Der Flamme Trabant
Daneben besteht jedoch noch eine andere Möglichkeit, das eigene „dennoch“ vor der „Stunde der Welt“ (Gottfried Benn) zu behaupten, die Gundolf in der zweiten Strophe seines Gedichts ebenfalls andeutet: „Dein Amt ist hüten, harren, sehn / Im Tag die Ewigkeit“
Was sich hier ankündigt, ist die Arbeit des sorgsamen Pflegens und Bewahrens, die zwar deutlich weniger Aussicht auf schnellen Ruhm verspricht, aber in ihrer fundamentalen Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Wenn die große Flamme der europäischen Kultur erloschen ist und keine Aussicht auf baldige Neuentzündung besteht, dann gilt es, die Glut zu hüten und Feuerwache zu halten. Das Ziel liegt dann nicht mehr darin, die Höhe der Stichflamme oder die Breite des Flächenbrands zu erhaschen, sondern das Glimmen zu verstetigen und in die Tiefe fortzusetzen. Diese Aufgabe ist eine umfassende und nicht mit der kurzzeitigen Renaissance eines Stils oder einem punktuellen Ausbruch von kreativer Kraft erledigt. Was dauern will, braucht tiefe Wurzeln, und deshalb gehört gerade das Hegen des kulturellen Urgrunds zu unseren Pflichten.
Dabei besteht natürlich das Risiko, sich bei allem Behüten und Beharren in der rein musealen „Aschebeschau“ zu verlieren. Es kann aber nicht nur darum gehen, eine möglichst große Zahl an ausgebrannten Hüllen zu versammeln und auszustellen. Deshalb streben wir nach der Konzentration auf das Wesentliche, Elementare und Dauerhafte, das sich im Strom der Zeit bereits behaupten konnte und ungetrübte Lebenskraft bereithält – im Zweifel lieber ein Homer, Platon oder Goethe als ein Dutzend vergessener Klassizisten.
Ex ardori clarior
Das reizvolle an dieser Aufgabe ist es aber vor allem, „im Tag die Ewigkeit“ zu erkennen, also nicht nur archivarisch die alten Meister auswendig zu lernen und Vergangenes zu bestaunen, sondern im Dickicht der Gegenwart nach Orten zu spähen, wo das Zeitlose in neuen Formen seine Gültigkeit beweist, oder im Idealfall diese Zonen selbst zu erschaffen. Die Glut soll also nicht völlig isoliert und vom frischen Atem der Zeit abgeschirmt vor sich hin glühen, sondern als Zündstoff für neue Ideen und Ausdrucksformen wirken, die sich unweigerlich aus den Bedingungen der Gegenwart speisen werden. Es sind die seltenen Momente, wenn im Spontanen der Funke einer höheren Ordnung aufblitzt, nach denen wir Ausschau halten. Der Drahtseilakt zwischen Zeitgemäßem und Zeitlosem ist die Herausforderung und zugleich der Reiz solcher Arbeit.
Auch wenn unsere Generation also nicht mit einer brennenden Fackel ins Rennen geschickt wurde und die Umstände der Zeit einem explosiven Zielsprint erhebliche Schranken setzen, entlässt uns das nicht aus der Verantwortung, Sorge zu tragen für das, was uns anvertraut wurde. Wir wollen dieser Lage begegnen, indem wir sie ernst nehmen und zusehen, ob sich nicht nach Art der antiken Pharmazie ein Heilmittel aus dem Gift gewinnen lässt: Die Zeit der Ermüdung als Periode des Atemholens, das Alter als Hort der Weisheit, die skeptische Nabelschau als prüfende Selbstvergewisserung, die große Offenheit und Unverbindlichkeit als Raum der Möglichkeiten und des Neubeginns.