„Mythos ist keine Vorgeschichte; er ist zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt.“ – mit diesen Worten hat der Krieger, Autor und Philosoph Ernst Jünger schon beinah alles vorweggenommen, was es über das Wesen des Mythos und seine Aktualisierung innerhalb des Zeitgeschehens zu sagen gibt. Doch wie nähern wir uns solchen Gedanken inmitten einer „entzauberten“ Welt?
Der Mythos ist „zeitlos“ – das heißt: Das mythische Geschehen inklusive seiner Akteure gehört nicht einer bestimmten Zeitepoche an und schon gar nicht der Vergangenheit. Die Schöpfungsakte der Götter und die Taten der Heroen lassen sich nicht an einem bestimmten Punkt auf dem vom modernen Menschen gedachten linearen Zeitstrahl festmachen, sondern sie haben „in illo tempore“ (Mircea Eliade) stattgefunden, d.h. außerhalb der von uns erlebten Zeit. Die Geschichte verhält sich dabei zum Mythos wie das Abbild zum Urbild; in der geschichtlichen Realität verwirklicht sich alleine das, was durch das göttliche Wirken außerhalb der Zeit bewirkt wurde. Im Handeln der Götter und Helden ist das historische Geschehen bereits vorgebildet und durch die mythische Erzählung offenbart sich dem Menschen die sinnhafte Ordnung (kósmos) dieser Weltentfaltung. Da das mythische Geschehen also nicht in der Zeit verhaftet ist, gilt es ewig und kann jederzeit in diese Welt „einbrechen“ bzw. der konkrete geschichtliche Moment kann sich mit dem mythischen Vorbild identifizieren und sich seiner Übereinstimmung mit diesem vergewissern.
Symbol und Realität
Daneben der Mythos als „Wirklichkeit“ – dieser Gedanke stellt heutzutage wohl die noch größere Herausforderung dar. „Real“ ist im Zeitalter des Historischen Materialismus nur das, was sich empirisch feststellbar, sinnlich wahrnehmbar zuträgt, also nur die Summe der kausal verknüpften Prozesse menschlichen Handelns unter bestimmten natürlichen Bedingungen. Der Mythos als Erzählung kann nach dieser Denkart nur ein „Überbau“ sein, also ein narratives Abbild der tatsächlichen materiellen Verhältnisse, das sich in Abhängigkeit von diesen genauso stetig und unwiederbringlich verändert wie das historische Geschehen selbst.
Eine solche Anschauung unterscheidet sich diametral von zentralen Lehren der klassischen Philosophie und Spiritualität, wie sie z.B. im Platonismus oder in der indischen Metaphysik zur Blüte gelangten. „Wirklich“ ist hier nicht vorrangig die konkrete, sinnlich erfahrbare Welt, sondern vielmehr das geistig erfassbare Symbol, die platonische Idee, die dieser Welt vorangeht, aber als solche nicht Teil von ihr ist. Die materielle Welt hat Sinn nur als Ausdruck der universalen Idealbilder, wenn sie nicht sogar, wie im indischen Vedānta, als reine Illusion (māyā) abgetan wird. Auch der Mythos gehörte als symbolhafte Erzählung vom transzendenten Ursprung der Welt einst auf jene objektive Stufe der Wirklichkeit.
Das soeben umrissene klassische Verständnis des Mythos ist den meisten Zeitgenossen heute ebenso fremd, wie die Welt, der es entstammt. Wenn wir aber die „zeitlose Wirklichkeit“ des Mythos einmal als gültig unterstellen, so sollte es eigentlich jederzeit möglich sein, seine Aktualität zu bestätigen und selbst noch das Leben in der modernen Welt im Sinne mythischer Bilder zu erschließen. Wenn wir den Versuch wagen wollen, uns auf eine solche Perspektive einzulassen, um so womöglich einen anderen Blick auf die Geschichte und unseren Platz in ihr zu gewinnen, so benötigen wir Wegweiser und Vorbilder, um uns einen lebhaften Eindruck von der Realität des Symbolischen zu vermitteln und so die Brücke zwischen Gegenwart und mythischer Ewigkeit zu schlagen.
Einen solchen Vorboten und Wegbereiter finden wir in dem zeitgenössischen Dichter Rolf Schilling, seines Zeichens Korrespondent und Verehrer des eingangs zitierten Ernst Jünger.
Die Dichtung des Zeitlosen
Die entscheidenden Phasen im Leben Rolf Schillings, der zur seltenen Gattung der lebendigen deutschen Dichter gehört, fallen in die Epoche der innerdeutschen Spaltung zwischen Ost und West. Im Jahr 1950 im thüringischen Nordhausen in der damaligen DDR geboren, verlebt er sowohl seine Jugend als Student und Soldat, als auch auch die intensive Schaffensperiode als erwachsener Mann inmitten einer hochpolitischen Zeit. Dennoch zeigt die Dichtung Schillings praktisch keine Spuren von den gewaltigen geopolitischen und ideologischen Auseinandersetzungen dieser Jahre. Die Strömungen und Umwälzungen der Zeit berühren den Stoff seiner Arbeit kaum und auch die schlussendliche Wiedervereinigung der Deutschen in einem Staat geht an seinem Werk fast spurlos vorüber. Die hinzugewonnene politische Freiheit nach 1990 erlaubt zwar erstmals die Publikation seiner gesammelten Werke, die zu diesem Zeitpunkt bereits einen beträchtlichen Umfang aufweisen (nicht weniger als zehn Bände an Gedichten, Essays und Übersetzungen), und beschert ihm damit auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Trotzdem bleibt der Inhalt seines Schaffens stets der Zeit enthoben. Zwar ist der Dichter nach Schillings Verständnis eine nationale Figur, „denn er lebt von der Sprache und Mythologie seines Volkes“ – die geistige Heimat des Thüringer Poeten ist jedoch eher dem „Geheimen Deutschland“ des George–Kreises verwandt, als den verschiedenen politischen Spielarten des öffentlichen Deutschlands im 20. Jahrhundert.
Während also um ihn herum die eine progressive Utopie der anderen das Feld räumt, bleibt Schillings Werk alleine der überzeitlichen Sphäre des Mythischen verpflichtet. Seine Gedichte speisen sich aus der unerschöpflichen Quelle der mythischen Figuren, Taten und Symbole, wobei dem Dichter als Deutschen vor allem die Bilderwelten der nordisch-germanischen und der hellenischen Tradition nahestehen. Den ersten Rang unter den Gestalten nimmt dabei das Männliche, Heroische, bisweilen Phallische, ein: Schwert und Speer, Chaoskampf und Zeugungskraft, Ares und Eros, sind stets wiederkehrende Themen in Schillings Gesängen. Daneben findet das chthonisch-feminine Element seinen Ausdruck in einem feinsinnigen Gespür für die verborgenen Zauber von Welt und Natur. So stehen neben Titeln wie „Schwertzeit“ und „Gralshüter“ zahlreiche Hymnen an die symbolischen Kräfte der Flora und Fauna von Schillings mitteldeutscher Heimat. Immer wieder kreisen die Gedanken des Dichters auch um geweihte Landschaften und Orte in seinem „Holden Reich“, unter denen der Questenberg im Harz oder der geheimnisvolle Gipfel Arnshaugk einen besonderen Platz einnehmen.
Bei alledem ist Schilling nicht an eine bestimmte Überlieferung oder ein dogmatisches System der Interpretation gebunden. Die Bilder verschiedenster Sagenkreise, vom hohen Norden bis zum fernen Osten, fügen sich in seinem Gesang spielerisch zu einem schillernden Mosaik, wobei der Dichter stets mit Respekt und tiefem Verständnis an die einzelnen Mythologeme herantritt. Entscheidender als die äußere Gestalt der Symbole ist ihre Essenz, welche der wissende Blick in den Gewändern vieler Traditionen wiedererkennt. Die stetige symbolische Spannung der Gedichte führt jedoch auch dazu, dass diese anfangs schwer zugänglich sind und sich dem Leser erst nach und nach erschließen, wenn er einen weiteren Blick auf das Gesamtwerk des Dichters erlangt. Zum besseren Verständnis bieten sich hier Schillings Essays an, in denen der Dichter oft eine deutlichere Sprache spricht und viele der von ihm regelmäßig verwendeten Zeichen in einem weiteren Deutungszusammenhang erläutert. Dem hier behandelten Verhältnis von Mythos und Geschichte widmet sich Schilling beispielsweise eingehend in dem Essay-Band „Schwarzer Apollon“, dem auch die Zitate in diesem Text entnommen sind.
Form und Wirklichkeit
Den besonderen Rang erhält der vielseitige Traum-Stoff von Schillings Gedichten schließlich durch das strenge Bekenntnis zur Form, das seinem Werk die unverkennbare Gestalt verleiht: „Träume kann jeder haben, Visionen auch. Der Rang des Dichters bestimmt sich durch die Ausdrucks-Mittel über die er gebietet.“ So schöpft Schilling aus dem ganzen Arsenal der Stilmittel, welche die europäische Lyrik aufzubieten hat, und wendet sie so konsequent wie meisterhaft an. Am besten steht ihm dabei jedoch, was er den „schlanken Gesang“ nennt – schmale Verse in gleichmäßigem Rhythmus und unkompliziertem Reimschema, die in ihrer atmosphärischen Dichte und sprachlichen Finesse an die eddische Dichtung erinnern:
„Speer-erweckt aus Morgenträumen,
Sei, der nie die Waffen streckt,
Wo sich Drachenhäupter bäumen,
Speer-erweckt.“
Durch diesen Tribut an die Form hebt Schilling den Gegenstand seiner Gesänge auf die Höhe der Wirklichkeit: Das Gesagte entspringt nicht nur der ungezügelten, willkürlichen Subjektivität des Künstlers, sondern es ist Teil einer objektiven Ordnung, die ihrerseits den Sänger verpflichtet. Der Dichter empfängt, durch ihn tritt das Werk ins Dasein, doch der letzte Ursprung der Verse liegt außerhalb, im „Ganzen, das wir nicht schaffen können und das sich nur dem Opfernden schenkt“. Als Diener Apolls und Orpheus-Adept obliegt dem Dichter die Setzung von Maß, Stil und Gestalt, durch die das Formlose in der Zeit offenbart und fixiert wird. Dem entspricht in der Sprache des Mythos das Bild des strahlenden Python-Bezwingers. Noch einmal Schilling: „Kunst ist Form“ und „nicht die Freiheit von der Form, sondern die Freiheit in der Form ist das Faszinosum der Kunst.“ Dieser innige Drang zum Formen und Gestalten nach klassischem Maß ist es auch, was Rolf Schilling mit dem von ihm verehrten Bildhauer Arno Breker verbindet, den er noch kurz vor dessen Tod im Jahr 1991 treffen konnte. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt uns in dem Gedicht-Sammelband „Tage der Götter“ vor, der von Brekers Illustrationen geziert wird.
Die Stunde des Widders
Das Zeitalter der klassischen, „olympischen“ Mythologie identifiziert Schilling mit dem maskulinen Tierkreiszeichen des Widders, welchen er von seinem chthonischen Vorläufer, dem Stier, sowie den Fischen als Zeichen des christlichen Weltalters abhebt. Der Widder ist auch das Symbol, mit dem sich der Dichter persönlich am deutlichsten identifiziert: „Wer das Zeichen des Widders trägt, lebt immer in der Widder-Zeit, und im übrigen stehe ich in der Freiheit, meine Wappen selbst zu wählen und wieder abzutun.“ Das Entscheidende dabei ist – und damit schließt sich der Kreis zu den eingangs zitierten Worten Ernst Jüngers – dass jenes „mythische Zeitalter“ bei Schilling nicht der unwiederbringliche Splitter einer fernen Vergangenheit ist, sondern eine jederzeit vorhandene Möglichkeit, dem Weltganzen entgegenzutreten, egal welches Zeichen gerade die jeweilige historische Gegenwart prägt – „denn dem einzelnen ist es immer möglich, die Schranke der Zeit zu überschreiten.“ Die Epoche, die sich einst durch den Vorrang des Widders auszeichnete, mag vergangen sein; dennoch steht es dem Einzelnen frei, sich ihre Maße zum Vorbild zu wählen und diese im Rahmen seiner Zeit zu verwirklichen.
Diese Freiheit, innerhalb unserer geschichtlichen Epoche eigene Zeichen zu setzen und auch im Zeitalter des totalen mechanischen Weltzugriffs den Standpunkt des Mythos einzunehmen, führt uns die Lektüre eines Dichters wie Rolf Schilling lebhaft vor Augen. Eine solche Perspektive lässt sich weder herbeizwingen noch vortäuschen. Sie schenkt sich letztlich nur dem Suchenden, der sich ihr bereitwillig öffnet. Der Vorwurf des „Reaktionären“ ist dabei nur aus dem Blickwinkel dessen gerechtfertigt, der noch an einem linearen Bild von Zeit und Geschichte festhält. Wer jedoch in der Linie nur die Oberfläche des Kreises erkennt, die an jedem Punkt eine Verbindung zur Mitte besitzt, für den sind solche Anschuldigungen bedeutungslos geworden. Für ihn gilt allein das Wort des Dichters: „Wandlung, Wiedergeburt: sie ist immer möglich, gleichviel, wo die Weltstunde steht.“