Wenn ich abends aus meinem Dachfenster schaue, während ich das Rollo herunterlasse, gibt es immer noch einen kleinen Stich in meinem Herzen, eine Art Stromstoß.
Ich hätte mich längst daran gewöhnt haben müssen, dass die Silhouette des Mannes im beleuchteten Fenster mir gegenüber nicht mehr zu sehen ist.
Viele Jahre lang hatte ich so mit ihm gelebt. Oft, wenn ich des Nachts wach lag, öffnete ich mein Fenster und sah auch bei ihm Licht. Ob es um zwei, drei oder vier war – ihn plagte offenbar die gleiche Schlaflosigkeit wie mich: Gruß an Dich, Verwandter, und an alle, die, in ihren Wohnungen umherwandelnd, in leiser Verzweiflung und dennoch voller Andacht der Stille nachhören und sich wieder und wieder selbst befragen: Was ist es, das mich wachhält? Was will die Nacht mir sagen? Was übersehe ich im Tageslicht? Lebe ich richtig?
Nachdem ich mit meinem Mann in das Viertel der westdeutsch dominierten Mittelständler und jungen Familien vorwiegend grün-orthodoxen Glaubens umgezogen war, liefen Martin hin und wieder zwei Kollegen über den Weg. Der eine war Richter und der andere, wie mein Mann, Rechtsanwalt. Beide wohnten im Haus gegenüber, der eine mit Familie in der ersten, der andere in der vierten Etage. War ich dabei, wenn Martin auf der Straße dem Rechtsanwalt Dr. Hartwig Schwartz begegnete, wechselten wir ein paar Worte und gingen unserer Wege. Nun wusste ich, wer in der Wohnung mit dem nächtlichen Dauerlicht wohnte: Ein großer, schlanker Mann Mitte vierzig mit intelligentem, aber verschlossenen Gesicht. Keine Frage – dieser Mann lebte allein.
Zufällig trafen wir ihn bei einer Veranstaltung des hiesigen Juristenbundes wieder. Thema war die Gefahr politisch korrekter Urteilsfindung seitens der deutschen Richterschaft. Der Richter aus dem ersten Stock hielt den Einführungsvortrag, sachlich und routiniert. Er sprach vom zunehmenden Druck, der auf die Richter- und Staatsanwaltschaft ausgeübt würde, Strafsachen an die aktuellen Einstellungen der politischen Klasse anzupassen. Insonderheit die Kriminalität der geflüchteten arabischen jungen Männer und ihrer Clans entwickele sich zu einem gewaltigen juristischen Problem. Dabei sei der Druck ein doppelter: zu dem der Politik kämen die Machtdemonstrationen der Familien in den Gerichtssälen, nicht selten aber auch außerhalb derselben: Richter würden bedroht und eingeschüchtert. Neben den kleinkriminellen Verbrechen, Drogenhandel und Nötigung zur Prostitution waren Ehrenmorde ein Thema, das die deutschen Juristen herausforderte, um nicht zu sagen: überforderte. Das von der Richterin Kirsten Heisig entwickelte und relativ erfolgreich umgesetzte Berliner Modell des Umgangs mit jugendlichen Straftätern, die insbesondere bei arabischen Männern überproportional vertreten waren, hatte sich bedauerlicher Weise nicht bundesweit durchgesetzt.
In der darauffolgenden Diskussion ergriff Hartwig Schwarz mehrfach das Wort. Der brillante Rhetor und scharfe, radikale Denker nahm keine Rücksicht auf die lauen Seelen der Zuhörer oder auf eventuelle Maßregelung ob seiner Haltung und sprach mit unerwarteter Vehemenz. Er bezeichnete die Willkommenskultur des politisch-medialen Komplexes ohne Umschweife als gescheitert. Sie sei auf unverantwortliche Weise naiv – sofern nicht Kalkül dahinterstecke. Die nicht genutzten juristischen Möglichkeiten zur Abschiebung Straffälliger und Migranten mit abgelehntem Asylantrag ließen auch letztere Variante als möglich erscheinen. Die von der unseren so verschiedenen Werte und Normen der islamischen Kultur und Religiosität dürften nicht als Entschuldigung für kriminelles Verhalten akzeptiert werden und strafmindernd wirken. Das Grundgesetz gelte für alle. Machten wir dahingehend Abstriche, nehme die Verachtung, die diese Klientel für ihr Gastland und dessen Bewohner ohnehin empfinde, zu und sporne sie zu weiteren Gesetzesbrüchen an. Er nannte Beispiele für eine nur als absurd zu bezeichnende juristische Praxis aus seiner eigenen Erfahrung.
Das Publikum geriet in Bewegung. Zustimmendes Gemurmel traf auf offene Empörung. Man dürfe doch nicht die Menschenrechte vergessen! Das sei doch blanke Islamophobie, was der Kollege da vom Stapel lasse!
Schwartz konterte: „Die Gleichheit der Menschen ist die Nacht, in der alle Katzen grau sind, wie Hegel das einst formulierte. Für unseren Gegenstand taugt diese Kategorie nicht, denn es geht hier nicht um einen abstrakten Menschen, eine Menschheit im Allgemeinen in Bezug auf die Natur oder den Kosmos. Nur in so einem Zusammenhang hat diese Abstraktion einen Sinn. Es geht um die Kompatibilität von Kulturen, um die konkreten Möglichkeiten friedlichen Zusammenlebens. Man darf nicht länger aus ideologischen Gründen die Augen davor verschließen, dass Angehörige des islamischen Kulturkreises von unserer Form der Gesellschaftlichkeit am weitesten entfernt sind und am wenigsten bereit, einen Rechtsstaat im Allgemeinen und unseren Rechtsstaat im Besonderen zu akzeptieren, von Hochachtung ganz zu schweigen. Diese Einsicht zeugt nicht von der Existenz eines phobischen Filters im Kopf, sondern ist das Ergebnis reiner Empirie.“
Das saß.
Nach einigem Für und Wider einigte man sich darauf, ein Memorandum zu verfassen und es dem Landesjustizministerium zu übergeben.
Da wir den gleichen Weg hatten, liefen wir gemeinsam nach Hause. Hartwig Schwartz analysierte mit uns die politische Lage. Unsere Einschätzungen deckten sich in vielen Fragen. Das war nicht selbstverständlich für Bewohner unseres Stadtteils. Er hatte den sarkastischen Witz, die Klarsicht und Illusionslosigkeit eines Mannes, dessen Gedankengang nicht durch die zarte Hand einer Frau in weichere Bahnen der Nachsicht und Milde gelenkt wird. Und er wäre ein interessanter Gesprächspartner für uns, waren sich mein Mann und ich einig, nachdem wir uns an der Haustür von unserem Nachbarn verabschiedet und uns gegenseitig eine gute Nacht gewünscht hatten.
Als wir eines Abends in einem fußläufig erreichbaren Gartenlokal Bier trinken und etwas essen wollten, klingelten wir an seiner Haustür und luden Herrn Schwartz ein, uns zu begleiten. Er lehnte ab, habe noch viel zu tun heute Abend. Ein andermal. Aber trotzdem vielen Dank.
Fortan grüßten wir uns freundlich auf der Straße, Schwartz und ich, aber ein lebhaftes Gespräch kam nicht mehr zustande, nur noch soziale Floskeln. Es war schwer, die Aura der Distanz zu überwinden, die ihn umgab, und den Panzer seiner Einsamkeit zu durchdringen. In der Kürze der Zeit eines zufälligen Zusammentreffens gelang es mir nicht.
Eines Tages stellten sowohl Martin als auch ich fest, dass wir Schwartz seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Aber sein nächtliches Licht brannte noch. Und dann kam er mir auf der Straße entgegen, und ich erkannte ihn kaum wieder: sein Gesicht war teigig aufgedunsen, sein Körper formlos. Er lief mit nach vorn gebeugtem Oberkörper. Seine selbstbewusste, aufrechte Haltung war dahin, sein energischer Gang Geschichte. Das Nächstliegende wäre es gewesen, ihn zu grüßen und sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Aber das brachte ich nicht über mich. Er war so offensichtlich krank, dass die direkte Frage danach sich verbat. So empfand ich es. Ein verschlossener, scheuer Mann wie er wollte wahrscheinlich einfach seine Ruhe haben.
Von nun an sah ich wochenlang kein Licht in seinem Fenster und war erleichtert, wenn es wieder brannte. Aber er schleppte sich nur noch über den Asphalt. Seine Beine gehorchten ihm kaum noch. Er nahm weiter zu. Dann konnte er nur noch mit Rollator kleine, langsame Schritte gehen. Sein Anblick traf mich ins Mark. Wir grüßten und gingen aneinander vorbei. Aber nein, richtig muss es heißen: Ich ging an ihm vorbei. Ich hielt nicht an.
Das Licht war nun wochenlang aus oder wurde gar nicht mehr gelöscht, wenn Schwartz wieder zu Hause war. Was tat er in den Nächten und an den Tagen im Wissen, bald nicht mehr am Leben zu sein? Las er seine Lieblingsbücher noch einmal? Hörte er Musik? Schrieb er Tagebuch? Schlaf jedenfalls benötigte oder fand er kaum noch.
Ich haderte mit mir. Zum einen fühlte ich ein Bedürfnis, ihm zu helfen, sein offenkundig schwieriges Alltagsleben zu erleichtern, seine Einsamkeit auf den letzten Metern abzumildern. Auf der anderen Seite meinte ich zu wissen, dass ein solch einzelgängerischer Mensch jegliches Mitleid, auch tätiges, ablehnte und sterben wollte, wie er gelebt hatte: in vollkommener Eigenständigkeit. Was hätte ich ihm sagen, was anbieten können?
Einmal stand ich im Hauseingang und wartete auf eine Freundin. Unbemerkt von Schwartz – mit dem Rücken zu mir stützte er sich auf seine Gehhilfe – wurde ich Zeugin eines Gespräches zwischen ihm und einem seiner Kollegen, den auch ich vom Sehen kannte. Schwartz‘ Stimme war immer noch die alte und transportierte auch jetzt sein Selbstvertrauen und seinen ungeschmälerten Mut, auszusprechen, was andere sich nicht einmal zu denken gestatten. Keine Sentimentalität! Nie!
Ich schnappte nur einzelne Worte auf. Sie klangen nach einer galgenhumorigen Bewertung seiner jetzigen Situation. Beide Männer führten anscheinend ein unbeschwertes und unbefangenes kleines Gespräch. Schwartz hatte seine Kanzlei aufgegeben und, wie es den Anschein hatte, seinen Frieden gemacht mit der Welt, die ihm immer so fern gewesen war. Seine Menschscheu war von ihm abgefallen. Fast wirkte er – für seine Verhältnisse – leutselig, ja gelöst. Als habe das absehbare Ende seiner Existenz hienieden ihn auf gewisse Weise befreit, als sei eine Last von ihm abgefallen. Ich hätte ihn nur allzu gern einmal lachen sehen …
Es war mir nicht vergönnt. Von seinem letzten Aufenthalt in einer medizinischen Einrichtung (welcher Art auch immer; wir wussten es nicht) ist er nicht zurückgekehrt. Monatelang kein Licht in der Wohnung. Dann las Martin die Todesanzeige in einer juristischen Monatszeitschrift. Es dauerte einige Wochen, bis die Wohnung geräumt und renoviert war. Und dann kamen die Möbel und die neuen Mieter.
Manchmal sehe ich das junge Paar einander gegenüber im offenen Fenster sitzen, die Beine ineinander verhakt, rauchend und die Sonne genießend. Schon beim bloßen Anblick wird mir schwindlig. Und mir wird bewusst, dass ich Dr. Hartwig Schwartz’ Fenster nie zuvor im Sonnenlicht gesehen hatte.