Protreptikos (IV): Einheit und Unendlichkeit

Was die antike Philosophie maßgeblich von der modernen unterscheidet, ist ihre besondere Wertschätzung der Metaphysik, die oft mit der Mathematik in Verbindung gebracht wurde. Antike Autoren, die über die grundlegenden Struktur von Sein und Werden oder das Wesen von Einheit und Vielheit nachgedacht haben, sind deshalb für zeitgenössische Leser oft schwer zugänglich. Was zunächst trocken und abstrakt klingt, führt jedoch über die bloße rationale Spekulation hinaus und bringt uns in Berührung mit dem allgegenwärtigen Faszinosum des Bewusstseins.

Parmenides identifizierte als erster hellenischer Philosoph das Sein (einai) mit Bewusstsein (noein). Das Nicht-Sein kann demnach niemals Gegenstand der bewussten Erfahrung sein, weshalb es darüber schlechthin nichts zu sagen oder zu wissen gibt. Für Parmenides ist das Sein also ein ganz und gar vollkommenes, ungebrochenes und unbewegtes Ganzes, während alle Veränderung und Bewegung nur ein vorläufiges Zerrbild der Wirklichkeit darstellt. Im scheinbaren Gegensatz zu diesem Denken der radikalen Einheit stehen die enigmatischen Aphorismen Heraklits, die gerade um die unaufhörliche Bewegung und die allgegenwärtige Spannung der Gegensätze im Sein kreisen. Auch wenn Heraklit in diesem fließenden Wechselspiel der Polaritäten immer wieder das Wirken einer einheitlichen Substanz („Feuer“) oder eines geistigen Prinzips (lógos) erkannte, galt er bereits in der klassischen Antike als Denker der Vielheit und Veränderung im Gegensatz zu Parmenides.

Die Pythagoreer waren es, die die Zahlen erstmals ausdrücklich zu Prinzipien der Wirklichkeit erhoben und damit auch die kosmologische und spirituelle Dimension von Mathematik, Geometrie und Musik zum Vorschein brachten. Als Ursprung der unendlichen Vielheit der Zahlen galt ihnen die Eins, in der keimhaft alle Zahlen enthalten sind und auf die sie sich stets zurückführen lassen (z.B. 3 = 1+1+1). Auch Platon, der stark von pythagoreischem Gedankengut beeinflusst war, machte das „Eine“ und die „unbestimmte Zweiheit“ zu den Grundprinzipien seiner ungeschriebenen Lehre, die auch in seinen Dialogen immer wieder durchscheint. Das Zusammenwirken dieser beiden Prinzipien, die auch als „Grenze“ (péras) und „Unbegrenztes“ (ápeiron) auftreten, sah er als bestimmende Grundstruktur aller Erkenntnisgebiete, die sich auch im ethischen Gegensatz von Gut und Böse oder in den politischen Kategorien von Frieden und Streit manifestiert.

„Was ist das Weiseste? – Die Zahl
Was ist das Schönste? – Die Harmonie“
Pythagoreische Akousmata

Das Wechselspiel von Einheit und Vielheit

Das antike Nachdenken über das Sein kreist letztlich immer wieder um das Verhältnis von Einheit und Vielheit: Alles, was ist, muss Anteil an der Einheit haben, da es nur dadurch überhaupt eine wahrnehmbare Identität bekommt. Nur, was sich eingrenzen und von anderen Dingen in irgendeiner Weise abgrenzen lässt, kann überhaupt als ein Etwas identifiziert und damit auch benannt werden. Das gilt auch für Dinge, die von Natur aus eine Vielheit in sich schließen, z.B. ein Volk oder ein Musikstück. Bei genauerem Hinsehen gibt es allerdings nichts in dieser Welt, was nicht auch einen Aspekt der Vielheit an sich trägt, da praktisch alles aus Teilen zusammengesetzt und/oder Teil eines Ganzen ist – ein Wald ist nur Wald durch das Zusammenleben einer Vielzahl an Lebewesen und auch ein Baum wäre kein Baum ohne Stamm, Äste und Blätter. Die spezifische Identität einer Sache, die sie von anderen unterscheidet, liegt jedoch gerade im Moment ihrer Einheit, während der Fokus auf ihre Vielheit eher dafür sorgt, dass ihr jeweiliges Sein zugunsten ihrer Teile in den Hintergrund tritt. Erst wenn sich die Teile auf ein gemeinsames Zentrum hin ausrichten (was hier nicht nur räumlich gemeint ist) und dabei dem Ganzen gewissermaßen ein Stück ihrer Individualität opfern, entsteht eine Ordnung, in der sich eine übergeordnete Einheit manifestieren kann. So wird beispielsweise aus vielen individuellen Musikern ein Sinfonie-Orchester oder aus vielen verschiedenen Menschen ein Gemeinwesen.

Einheit und Vielheit sind also stets miteinander verwoben. Traditionell wird dabei die Einheit mit dem Sein und die Vielheit mit dem Werden, der Bewegung zwischen den seienden Dingen, in Verbindung gebracht. Das Sein im Sinne der Identität ist das Ergebnis einer Begrenzung, während das Werden unaufhörlich die Grenzen zwischen den Dingen auflöst und neu bildet. Trotzdem sind diese beiden Pole des Seienden nie völlig voneinander getrennt, sondern zeigen sich immer zugleich und durchdringen einander. In gewisser Weise können Sein/Einheit/Grenze und Werden/Vielheit/Unbegrenztes daher wiederum als zwei Aspekte eines übergeordneten Einen begriffen werden. Dennoch ist ihr Verhältnis nicht beliebig. Wer etwa versucht, die Vielheit zur Grundlage der Einheit zu machen, findet sich schnell in einem infiniten Regress wieder, denn auch eine Vielheit lässt sich gar nicht denken ohne die Einheit ihrer jeweiligen Bestandteile. Oft wurde dem Einen daher ein gewisser ontologischer Vorrang vor dem Vielen eingeräumt.

Alles und Nichts

Das philosophische Denken stößt jedoch an seine natürlichen Grenzen, wenn es darum geht, das Eine an sich positiv zu beschreiben. Jede begriffliche Festlegung (z.B. „groß“) würde nämlich bedeuten, ihm das entsprechende Gegenteil (z.B. „klein“) abzusprechen und es so zu begrenzen. Doch was begrenzt ist, ist gleichzeitig etwas und etwas anderes nicht, womit es wiederum nur Eines von Zweien und somit nicht mehr ganz und gar Eins ist. Von dem, was sich nicht begrifflich festlegen lässt, gibt es aber streng genommen nichts präzises zu sagen und auch nichts zu denken. Wenn das Eine an sich also nicht irgendetwas sein kann, dann ist es gewissermaßen – Nichts. Trotzdem wäre es absurd, das Eine einfach zu verwerfen, da es sich doch auf geheimnisvolle Weise an jedem einzelnen Ding sowie an der Fülle des ganzen Seins zeigt. Scheinbar muss das Eine also vielmehr als Grund aufgefasst werden, der selbst nicht ein Teil des Seienden sondern dessen Voraussetzung ist. Dieser Grund ist gleichzeitig allgegenwärtig und nirgends festzumachen, weshalb von ihm in paradoxer Weise nur als „unaussprechlich“ gesprochen werden kann.

Diese schwindelerregenden Gedankenexperimente hat Platon in seinem Parmenides als erster in allen Konsequenzen durchgespielt. Dieser Dialog, in dem der Autor den gleichnamigen Philosophen aus Elea auf den jugendlichen Sokrates treffen und ihm eine Lektion im dialektischen Argumentieren erteilen lässt, ist womöglich das rätselhafteste Dokument der gesamten westlichen Philosophie und legte den Grundstein für das, was heute als „negative Theologie“ bezeichnet wird. Spätere Autoren wie Plotin oder Pseudo-Dionysius, die das Eine sowohl aus heidnischer als auch christlicher Perspektive als höchste Gottheit auffassten, machten eine regelrechte Kunst daraus, in ausschweifenden Beschreibungen die Unaussprechlichkeit dieses höchsten Prinzips zu betonen und sich dabei in immer paradoxere Formulierungen hineinzusteigern. Solche Texte zeigen, wie die philosophische Spekulation dort, wo so ihre Grenzen erreicht, allmählich den Charakter einer Meditation oder eines Gebets annehmen kann.

„[Das Höchste] lässt sich keineswegs in Worte fassen wie andere Lehrgegenstände, sondern aus häufiger gemeinsamer Bemühung um die Sache selbst und aus dem gemeinsamen Leben entsteht es plötzlich in der Seele – wie ein Feuer, das von einem übergesprungenen Funken entfacht wurde – und nährt sich dann schon aus sich selbst weiter.“
Platon, VII. Brief

Das Mysterium des Bewusstseins

Die rätselhafte Verwobenheit des Einen und Vielen ist indes keineswegs etwas, was wir nur in abstrakten mathematischen oder metaphysischen Überlegungen erfahren können. Wir erleben sie überall, wo wir in Harmonie mit anderen Menschen zusammenkommen und zum Teil eines Ganzen werden, das über uns hinausreicht, ganz besonders in der Musik und im Tanz. Der ewige Tanz von Einheit und Vielheit bildet auch die Grundstruktur all unserer bewussten Erfahrung und ist uns damit quasi in jedem Augenblick zugänglich: Alles, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, ist Eines und zugleich nur Eines unter Vielen. Alles befindet sich im stetigen Fluss der Zeit und bleibt doch jederzeit eingebettet in ein und dasselbe Feld ungebrochenen Gewahrseins. Alles, was wir wahrnehmen, hat seine ganz eigene, unverwechselbare Identität und ist doch untrennbar mit allem anderen im ständigen Austausch verbunden.

Das Bewusstsein als solches lässt sich dabei nicht wie andere Dinge vorstellen oder durch Beschreibungen erschöpfen, weil jede gedankliche Vorstellung und jedes Wort nur ein möglicher Ausdruck eben dieses Bewusstseins ist, das als unaussprechlicher Grund in jedem Akt des Erkennens anwesend und zugleich verborgen ist. Das gilt nicht nur für unser individuelles, begrenztes Bewusstsein, sondern auch für die unbegrenzte Zahl aller empfindsamen Wesen, die in unterschiedlichem Maß an der selben Bewusstheit teilhaben. Wenn es also einen Weg gibt, um sich diesem rätselhaften Grund, der in sich Einheit und Unendlichkeit vereint, zu nähern, dann führt er womöglich nicht über das Denken, sondern über die wachsende Intimität mit uns selbst, die uns auch in Einklang mit dem Kosmos bringt. Wenn wir den Blick nach innen richten und die Gedanken allmählich zur Ruhe kommen lassen, bleibt am Ende nur das wortlose Staunen, das nach Platon der Anfang aller Philosophie ist.

„Erkenne Dich Selbst!“
Inschrift am Tempel des delphischen Apollon

Literaturempfehlungen:

Parmenides, Vom Wesen des Seienden

Platon, Sophistes & Philebos

Aristoteles, Metaphysik (Buch I)

Iamblichus, The Theology of Arithmetic (engl. Übers. von Robin Waterfiel, Phanes Press, 1988)

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