Es ist keine bloße Willkür, wenn ich der Schwedin Karin Boye (1900–1941) den Namen einer „poétesse maudite“, einer „verfemten Dichterin“, gebe. Zeitlebens scheint sie die Vorstellung heimgesucht zu haben, verfemt, ja geradezu verdammt zu sein. Schon in dem Gedicht „Du sollst danken“, das die 24-Jährige veröffentlicht hat, heißt es: „Es gerät nicht immer schlecht, / Was verdammt ist von der Welt. / Die eigne Seele erringen oft, / die man für Verdammte hält.“ Auch in späteren Gedichten wie „Misstrauen“, „Der fallende Morgenstern“ und „Cherub“ hat Boye eindrücklich das Leiden, aber auch die besonderen Erkenntnischancen der von den Menschen oder gar von den Göttern Verfemten und Verdammten dargestellt. In dem Gedicht „Cherub“ findet sich auch der Vers, der Margit Abenius zum Titel einer frühen Boye-Biographie anregte: „Sie rufen dir nach: ‚Unrein, unrein!‘ / Denn von Reinheit waren sie nie heimgesucht.“ „Drabbad av renhet“ („Heimgesucht von Reinheit“) lautet der Titel der Biographie von Abenius.
Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen nach Reinheit und dem Gefühl des Verfemt-, Verdammt- und Unreinseins, entwickelte sich Boyes Leben auf tragische Weise, bis sie im Alter von 40 Jahren Selbstmord beging. Diese erschütternde Entwicklung kann man in dem knappen Nachwort des Übersetzers, das auf engem Raum die wesentlichen Informationen konzentriert, nachvollziehen. Es wäre wohl zu einseitig, wenn man Boyes Gefühl des Verfemtseins ausschließlich auf ihre (später offen gelebte) Homosexualität zurückführen würde, auch wenn diese zweifellos eine bedeutsame Rolle dabei gespielt hat. Das Leben Boyes soll hier nicht weiter thematisiert werden, sofern es nicht künstlerischen Ausdruck im lyrischen Werk der „poétesse maudite“ fand. Zu ihren Lebzeiten wurden vier Gedichtbände von Boye publiziert: „Wolken“ (1922), „Verborgenes Land“ (1924), „Herde“ (1927) und „Um des Baumes willen“ (1935). Nach ihrem Tod erschien dann im Jahr 1941 eine Sammlung nachgelassener Gedichte. Daneben war Boye auch als Prosaschriftstellerin tätig; am bekanntesten ist ihr dystopischer Roman „Kallocain“.
Eine Gesamtübersetzung des lyrischen Werkes von Karin Boye ins Deutsche war bisher ein Desiderat. Für die englische Sprache hat David McDuff diese Aufgabe bereits sehr gut bewältigt, auf Deutsch gab es aber nur die Teilübersetzungen von Nelly Sachs (in dem Sammelband zur schwedischen Lyrik des 20. Jahrhunderts „Von Welle und Granit“) und Hildegard Dietrich (in dem Boye-Auswahlband „Brennendes Silber“). Die letztgenannte Sammlung hat mich für Boye gewonnen. Es ist insbesondere die gelungene Mischung aus kristallener Klarheit der Sprache und großer Leidenschaftlichkeit, die mich an Boye schon lange fasziniert hat. Da ich des Schwedischen nicht mächtig bin, kann ich nicht beurteilen, wie originalgetreu die Übersetzungen von Hildegard Dietrich sind, bin aber nach wie vor begeistert von diesen Sprachkunstwerken. Sie bildeten für mich den Vergleichsmaßstab, mit dem ich an die Boye-Übersetzungen von Christian Ebbertz herantrat.
Vorweg muss ich sagen: Lyrik-Übersetzung gehört zu den schwierigsten Disziplinen im Umgang mit der Sprache. Die Übersetzung ist eine stete Gratwanderung zwischen Treue zum Original und dem Anschmiegen an die Eigenheiten der Zielsprache. Nicht umsonst hat Gottfried Benn das Gedicht als „das Unübersetzbare“ definiert, denn „nevermore“ ist nun einmal nicht „nimmermehr“, und deutsch „Tod“ ist nicht schwedisch „död“, bei aller Nähe, die aus dem gemeinsamen germanischen Stamm der beiden Sprachen erwächst.
Die oben bereits in der Übersetzung von Ebbertz zitierten Verse aus dem Gedicht „Du sollst danken“ wurden von Hildegard Dietrich wie folgt übersetzt: „Was die ganze Welt verworfen / ordnet sich im Kreise ein. / Vogelfrei gewinnst du / erst dein eignes Sein.“ Es wird bereits deutlich, was sich mir in anderen Vergleichen zwischen den Übersetzungen bestätigte: Dietrichs Übersetzungen „schwingen“ mehr als die von Ebbertz, sie werden den Eigenheiten des Deutschen besser gerecht und wirken sprachgewandter. Das heißt nun aber nicht, dass Ebbertz’ Lösungen immer schlechter wären. Manchmal scheinen mir Nuancen durchaus gelungener als bei Dietrich. Die vollkommene Übersetzung dürfte, wie gesagt, ohnehin unerreichbar sein.
Am stärksten wird Ebbertz dort, wo er sich der Beschränkungen von Reim und Metrum enthalten kann. Schon allein die Tatsache, dass man beispielsweise die starken Gedichte „O eine Klinge“ und „Genesung“ nicht bei Dietrich findet, rechtfertigt das Unternehmen von Ebbertz.
Allerdings gibt es auch einige Wermutstropfen bei der Lektüre von Ebbertz’ Übertragungen, besonders einige sprachlich zutiefst unnatürliche Wortstellungen. So etwas mag man für „poetisch“ oder für „dichterische Freiheit“ halten, doch vergisst man darüber, dass gerade die Sprache der Poesie dem (Nach-)Dichter keine Nachlässigkeiten vergibt. „Um des Reimes willen“ übersetzt Ebbertz zum Beispiel: „Hoch ich im Toresbogen steh“ – gebraucht wird nämlich ein Reim auf „je“. Es ließen sich noch viele weitere derartige Beispiele anführen, bis hin zur geradezu sinnentstellenden Konstruktion „ein des Geistes Asket“. Oder: „Damals der Tag war tief und ewig“. Oder: „Lass uns sein neu und schön!“ Oder: „ich mich nicht weniger sehne.“ In manchen dieser Fälle erschließt sich mir nicht einmal, warum der Übersetzer nicht einfach die vom Deutschen natürlich geforderte Wortstellung gewählt hat, statt die Worte in sein Prokrustesbett zu zwängen, da diese „Operation“ offenbar weder das Metrum noch der Reim erforderlich gemacht hat.
Sehr hilfreich ist hingegen die Darstellung von „thematisch-motivischen roten Fäden“ in den Gedichten Boyes, die der Übersetzer am Ende des Bandes in knapper Form vorlegt. Davon ausgehend, wird man als Leser angeregt, eigene Erkundungen anzustellen und weitere Fäden aufzuspüren. Was die Gedichte durchgängig prägt, ist der fundamentale Gegensatz zwischen Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit. Auf der einen Seite bringt Boye ihren Hass auf Illusion und Selbstbetrug, ihre Sehnsucht nach Ent-täuschung, nach unverstellter Wahrheit und größtmöglicher Wahrhaftigkeit zum Ausdruck; hemmend wirken dabei Schweigsamkeit und Verschlossenheit. Auf der anderen Seite feiert die Dichterin Klarheit, Reinheit und Ehrlichkeit, etwa im Bild des Quellwassers. Friedrich Nietzsches seelenverwandtes Gedicht „Sternen-Moral“, das Boye ins Schwedische übersetzt hat, spricht von dem einen Gebot, rein zu sein.
Trotz des tragischen Schicksals der Dichterin lähmt die Lektüre der Gedichte Boyes keineswegs. Die Gedichte wirken auch nicht niederdrückend. Wieder und wieder beschwören sie das Vertrauen in die „Kraft zerbrechlicher Dinge“ und in die Kraft des zarten Lebens, das oft gerade dort zum Durchbruch kommt und ungeahnte Stärke entfaltet, wo man es am wenigsten erwartet: in einem Kind, im Wildapfel, im Gras, in den Trieben eines Baumes.
„Alles kann zerbrechen.
Doch neu kann’s wieder heilen,
solange in uns lebendig bleibt
unser innerster Keim.“
Karin Boye: Sämtliche Gedichte. Aus dem Schwedischen von Christian Ebbertz. Edition Razamba, Offenbach am Main 2022. 218 S.