Die intensive Auseinandersetzung mit Musik zählt seit meinen Jugendjahren zu den wichtigsten Einflussfaktoren, die meine Persönlichkeit geformt haben. Sie begleitet mich seither in allen Lebenslagen. Auch in meinem engsten Freundeskreis stellen der gemeinschaftliche Genuss und das leidenschaftliche Rezensieren von allerlei Klangkunst einen zentralen Teil unseres gemeinsamen Erfahrungsschatzes dar. Unzählige Stunden haben wir in stiller Andacht kreischenden E-Gitarren, klagenden Synthesizern und donnernden Orchestern gelauscht, dazu mehr als nur eine Flasche guten Weins entkorkt und im dionysischen Rausch der Klänge die ganze Welt vor uns ausgebreitet. Unsere musikalische Schatzkiste beherbergte ein vielfältiges Sammelsurium an Geschmeiden, angefangen bei Black Metal und Neofolk, über Post Rock, Country und Synth Pop, bis hin zu klassischen Symphonien und dem gemeinsamen Singen von bündischem Liedgut. Die Musik war uns dabei nicht bloß Hintergrundrauschen sondern Spiegel und Schlüssel zu allem, was sich in unseren jungen Seelen aufbäumte und überschäumen wollte. Hier fanden wir den ganzen Reichtum dessen, was uns im profanen Alltag zwischen Schule, Studium und Arbeit unterschlagen wurde.
Einer jener Abende ist mir besonders deutlich in Erinnerung geblieben: Der erste Korken knallte zu den Klängen von Richard Strauß‘ „Alpensinfonie“, das zweite Prosit erschallte über dem Tosen deutschen Doom Metals, das dritte wurde begleitet von dröhnendem Witch House aus Russland, das vierte untermalt von finnischem Glam Rock und mit dem fünften kamen wir zu Howard Shores feierlichem Soundtrack zum „Herrn der Ringe“ zur Ruhe. Noch unter den starken Eindrücken dieser Nacht begann ich darüber nachzusinnen, wie es sein konnte, dass sich all diese verschiedenen Stile in unserer Wahrnehmung zu einem sinnvollen Ganzen fügten, welches den gesamten Abend mit seinem geheimen Zeichen geprägt hatte. Wie konnten derart unterschiedliche Instrumente, Spielweisen und Ensembles in so ähnlicher Weise an unseren Herzen rühren? Es dauerte nicht lange, bis mir dämmerte, was die Essenz der gemeinschaftlichen Empfindung war, die sich als greifbare Atmosphäre über unser Beisammensein gelegt hatte: Es war der Schleier der Nostalgie.
Der Traum des Odysseus
Der Sinn dieses Begriffs, bestehend aus den Alt-Griechischen Wörtern für „Heimkehr“ (nóstos) und „Schmerz“ (álgos), spiegelt sich makellos im deutschen „Heimweh“: jenes unverwechselbare Gefühl von Verlust und Sehnsucht – das sanft wehmütige Empfinden, etwas unersetzbar Wichtiges verloren zu haben und in jedem Atemzug, jeder Geste, jedem Blick danach zu suchen und Ausschau zu halten über den grauen Meeren monotoner Gleichheit und Fremde. Das Objekt dieses Sehnens ist oft weniger ein tatsächlicher Ort als vielmehr das Traumbild eines solchen.
Die „Heimat“, nach der das Heimweh verlangt, ist ein sakraler Schimmer eines Ortes, einer Zeit oder eines Ereignis, der uns Geborgenheit, Zentralität und Erfüllung verheißt. Das „Weh“ liegt in der scheinbar unüberwindlichen Distanz durch schäumende Wogen aus Raum und Zeit, hinter denen sich der sichere Hafen verbirgt. Ob wir diese „Heimat“ tatsächlich verloren oder vielleicht sogar nie gekannt haben, ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist ihr ferner Schein, der Schmerz der Trennung und der heimliche Funke Hoffnung, dass wir ihr einst (wieder-)begegnen und in ihre Arme eingehen dürfen, in Ankunft oder Wiederkehr.
In Europa ist die künstlerische Verarbeitung dieser Empfindungen mindestens so alt wie unsere Schriftkultur selbst, ja die europäische Literatur beginnt quasi mit ihr: Die Nostalgia ist das zentrale Motiv von Homers „Odyssee“, der epischen Erzählung von den Irrfahrten des Odysseus, dem nach dem Sieg der Achäer über Troja von den olympischen Göttern die Rückkehr zu Frau und Sohn in der Heimat Ithaka verwehrt wird.
Immer wieder waren klassische wie abendländische Poeten, Schriftsteller und Musiker ergriffen von jener Sehnsucht nach der unerreichbar fernen Heimat, insbesondere in Zeiten, in denen die Planken unter den Füßen zu wanken begannen und die reißenden Ströme der Zeit drohten, Vertrautes hinfort zu spülen. Wohlvertraut ist uns Deutschen dabei vor allem die Stimmung der Romantiker, die in der magischen Natur, im Zauber des Mittelalters oder in den fabelhaften Untiefen des Traumes nach einem Rettungsanker in den Verwerfungen der einsetzenden Rationalisierung und Verdinglichung der Welt suchten. Insbesondere in der Musik reicht das Erbe der Romantiker noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein, woran die moderne Filmmusik unmittelbar anknüpft.
Heimweh als kulturelles Leitmotiv
Das wohl prominenteste Werk der zeitgenössischen Kultur, welches diese europäische Tradition der Nostalgie fortführt, ist dabei J.R.R. Tolkiens „Herr der Ringe“. Die mythisch-heroische Welt aus der Feder des angelsächsischen Gelehrten, deren Schauplätze und Protagonisten nahezu jedem jungen Europäer bekannt sind, ist erfüllt von der schmerzlichen Erinnerung an eine leuchtende Vergangenheit, von der die „Mittelerde“, in der sich die Handlung des Epos abspielt, nur noch einen schattenhaften Abglanz darstellt: Die Zeitalter paradiesischer Unschuld und heldenhafter Größe sind längst vergangen und werden nur noch von den wenigen verbleibenden Elben bezeugt, die noch nicht in ihre entrückte Heimat im Westen zurückgekehrt sind. Das sterbliche Menschengeschlecht ist längst in Ungnade gefallen und bedroht von der Tyrannei grausamer Hexer und Technokraten. Die letzten freien Völker haben ihren rechtmäßigen König vergessen und verkümmern langsam in mutloser Apathie, ihre Herrscher verdorben von Gier und Selbstsucht. Nicht zufällig entsteht beim Leser hier der Eindruck, eher eine Sammlung von Erzählungen aus längst vergangenen Epochen in Händen zu halten, als einen modernen, sauber komponierten Roman.
Tatsächlich bleibt beim genauen Hinsehen unverkennbar, dass auffällig viele Formen der gegenwärtigen Pop-Kultur von einer ähnlichen Sehnsucht nach lang verstrichenen oder noch nie erlebten Zeiten und Welten durchdrungen sind. So lieferte Tolkiens kunstvolle Verarbeitung der nordeuropäischen Mythen und Heldensagen den entscheidenden Anstoß für die Popularisierung der Fantasy–Literatur, die einen ganzen Kosmos pop-kultureller Formen hervorgebracht hat: von Romanen und Kurzgeschichten über Pen & Paper Rollenspiele bis hin zu Filmen, Serien und Videospielen, welche ihren Anhängern das Aufgehen in einer fantastischen Welt voller Abenteuer und kühner Herausforderung versprechen. Eine ähnliche Funktion erfüllt mittlerweile auch das Science-Fiction Genre, welches spätestens seit den Erfolgen von George Lucas‘ „Star Wars“ zahllose utopische Weltentwürfe hervorgebracht hat, in denen sich regelmäßig die Träume und Sehnsüchte der jeweiligen Autoren und ihrer Anhängerschaft nach einer „besseren“ oder zumindest aufregenderen Welt widerspiegeln.
Besonders deutlich tritt die nostalgische Stimmung der Pop-Kultur wiederum in der Musik hervor. Vielfältige Blüten hat in dieser Hinsicht vor allem die dunkle Romantik der „Schwarzen Szene“ getrieben: ob schwermütiger Gothic Rock, spektakuläre Mittelalter-Inszenierungen, streng-heroischer Martial Industrial oder pessimistischer Traditionalismus im Neofolk – allerorts manifestiert sich wieder jenes Sehnen nach einer entrückten Sphäre, deren Glanz einen Hauch von Erlösung aus der Banalität des Alltags verspricht. Die derzeit wohl virulenteste Form der pop-kulturellen Nostalgie findet sich allerdings in der elektronischen Musik, kursierend unter Labels wie „Synthwave“ oder „Retrowave“. Durch den Einsatz von Synthesizern, wie sie vor allem während der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts verbreitet waren, versuchen zahllose junge Künstler, die Ästhetik und Atmosphäre von Filmen und Videospielen jener Zeit wiederauferstehen zu lassen – ungeachtet der Tatsache, dass die meisten Konsumenten dieser Musik jene Epoche gar nicht oder nur im Kindesalter miterlebt haben. Diese nostalgische Mystifizierung der 80er Jahre in der Musik geht einher mit zahlreichen Neuauflagen oder verspäteten Fortsetzungen klassischer Hollywood-Streifen, wie etwa dem düsteren Sci-Fi Thriller „Blade Runner“, sowie vielfältigen anderen Versuchen, die Gegenwart in ein neonfarbenes Licht zu tauchen und ihr dadurch die Weihe zu erteilen.
Die Kultur der Heimatlosigkeit und ihr Horizont
Gesetzt, dass uns die Kultur einen Einblick in die Seele des Menschen, eines Volkes oder einer Generation erlaubt – was offenbart uns die zeitgenössische Kultur des Nostalgie über ihre Schöpfer und Genießer?
Augenscheinlich erzählt sie von einer Generation (zu der auch der Autor dieser Zeilen gehört), deren Grundempfinden die „Fremdheit“ in ihrer Zeit ist: Die Kulturlandschaften der westlichen Post-Moderne sind durchdrungen von Relativismus und Materialismus; schnelllebige Trends und flacher Unterhaltungswert dominieren die Wahrnehmung. Die Kultur wird als willkürlich (de-)konstruierbare Ware behandelt, deren Wert vor allem durch die erfolgreiche Vermarktung bestimmt wird. Solche Kultur-Güter erheben nicht länger den Anspruch, auf einen Sinngehalt außerhalb ihrer Zeit zu verweisen und bieten kaum mehr verlässliche Orientierungspunkte für ein Bedürfnis nach Wahrheit oder Tugend. In diesem Klima der Beliebigkeit entsteht in manchen sensibleren Naturen ein Gefühl der „Heimatlosigkeit“; sie wähnen sich einer „wahren Heimat“ beraubt, welche irgendwo außerhalb dieser uns bekannten Welt verborgen liegen muss, und in ihnen erwacht das vage Verlangen, jenen sagenumwobenen Ort wiederzufinden, den sie doch nie gekannt haben (sicher ist es kein Zufall, dass der wohl bekannteste Synthwave-Track „Resonance“ einem Projekt namens Home zuzurechnen ist). Diese Sehnsucht projizieren wir in die Vergangenheit oder Zukunft, kleiden sie in allerlei Gewänder und verklären dabei sogar die Jahre unserer Kindheit und deren ästhetischen Geschmack zum schillernden Phantasma einer „besseren Zeit“.
Die hier angestellten Überlegungen sind dabei keineswegs nur im Sinne eines herablassenden Kulturpessimismus zu verstehen, ganz im Gegenteil sogar: Auch wenn die gegenwärtige Kultur der Nostalgie vor allem die Äußerung einer inneren Orientierungslosigkeit darstellt, so hat sie doch mannigfaltige künstlerische Nischen hervorgebracht, die wertvolle Anknüpfungspunkte für diejenigen bieten, die im Meer der Beliebigkeit nach festem Boden unter den Füßen suchen.
Diese Bewegung birgt jedoch auch ein großes Risiko in Gestalt der passiven Fetischisierung und Idealisierung der Nostalgie „um ihrer selbst willen“, welche wiederum ein willkommenes Einfallstor für die Kommerzialisierung der jeweiligen Kunstformen darstellt. Das beste Beispiel hierfür ist die Subkultur der „Nerds“und „Geeks“, die ihre Identität allein aus der manischen Vernarrtheit in den einen oder anderen fiktiven Kosmos schöpfen. Hier wirkt gerade der exzessive Konsum als Sedativum, das zwar für eine Weile die Linderung der Nostalgia verspricht, dabei jedoch schnell in die Abhängigkeit führt.
Wenn wir tatsächlich zu einem kulturellen Leben finden wollen, das uns ein „Zuhause“ bieten und gleichzeitig zur Einsicht und Teilhabe an übergeordneten Wirklichkeiten verhelfen kann, so dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben, Gefallen an den Irrfahrten auf entgrenzten Ozeanen zu finden und dabei zu nützlichen Erfüllungsgehilfen der Kulturindustrie zu werden. Vielmehr müssen wir lernen, unser Heimweh ernst zu nehmen, und uns aufrichtig die Frage stellen, warum aller Konsum letztlich nicht in der Lage ist, den Durst nach Geborgenheit, Identität und Sinn zu stillen.
Die in der Kultur gelebte und erlebte Nostalgie sollte uns also nicht nur reiner Selbstzweck sein, sondern einen Ausgangspunkt darstellen, von dem aus sich ein Sinn für die Frage entwickeln lässt, was uns eigentlich fehlt. Ehe uns dieser Schritt in die „Selbstdurchsichtigkeit“ gelingt und wir die verlorene Heimat in den Blick fassen können, werden wir weiter den Traum des Odysseus träumen – beschattet von Neonlicht und Eichenlaub.
“What can you see on the horizon?
Why do the white gulls call?
Across the sea a pale moon rises
The ships have come to carry you home.”
Annie Lennox – Into The West