Bei den etablierten lyrischen Stimmen des Kanons sind Qualität und Bekanntheitsgrad in etwa proportional. Für die in dieser Reihe vorgestellten „verschütteten Stimmen“ dagegen gilt, dass sich diese Werte umgekehrt proportional zueinander verhalten: einer sehr hohen Qualität entspricht ein sehr geringer Bekanntheitsgrad. Dies trifft besonders auf Theodor Kramer (1897–1958) zu, der manch einem als verkannter König, als einer der größten deutschen Dichter gilt – auch wenn ihn heute kaum noch jemand kennt, geschweige denn auf diesen Rang erheben würde.
Der Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller war verheißungsvoll: Thomas Mann nannte ihn „einen der größten Dichter der jüngeren Generation“, er wurde von Stefan Zweig und Carl Zuckmayer gefördert. Doch als Jude und Sozialdemokrat musste er 1939 aus Österreich nach England emigrieren. Seine Schriften wurden durch die Nationalsozialisten geächtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Werk nahezu vergessen. Das änderte sich auch bis zu seinem Tod im Jahr 1958 nicht. Erst durch Vertonungen seiner Lyrik erfolgte eine späte Wiederentdeckung: Das Duo „Zupfgeigenhansel“ und der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel erkannten die hohe Qualität der Gedichte Kramers und machten sie als Musiker einem größeren Publikum bekannt.
Durch ihren volksliedhaften Ton und ihre lebensnahe Beschreibung randständiger Milieus (Arbeiter, Prostituierte, Heimatlose, Bettler …) passen die Gedichte von Theodor Kramer sehr gut zum Gesang der genannten Musiker. Darüber hinaus besitzen diese Gedichte aber stets eine autonome literarische Qualität, die erneut zu entdecken wäre. Im Zsolnay Verlag liegen seine Gesammelten Gedichte in drei Bänden vor und sind weiterhin lieferbar. Daneben gibt es verschiedene Anthologien: Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gab eine Auswahl von Gedichten Kramers heraus; einer Sammlung von Liebesgedichten Kramers ist das hier vorgestellte Beispiel entnommen.
Kramer selbst betrachtete das Verseschreiben als eine Art Handwerk, dem er täglich gewissenhaft nachging. Er hat ein gewaltiges Werk von etwa 12000 Gedichten hinterlassen, von denen bisher nur rund 2000 veröffentlicht sind. „Mich kann nur kümmern, ob es sitzt und stimmt, / und nicht, was wer für sich in Anspruch nimmt“, schrieb er in „Geboren ward ich in die große Wende“.
Lied am Rand
Es frißt der Ruß bei uns am Rand sich in die Zeile ein; im Hinterhof ein Scherben Land ist alles zum Gedeihn. Wie bist du lieblich anzuschaun in deiner Wangen Flaum; ich bin aus schwarzem Holz der Zaun, du bist der Apfelbaum. Es liegt sich gut am Damm im Gras zu Abend längs der Bahn; die Drähte summen dies und das, die Welt steht aufgetan. Die Funken fallen in den Spelt, rennt laut der Zug davon; ich bin, was da verkohlt und fällt, du bist der zarte Mohn. Schwül ist bis lang nach Mitternacht es zwischen Haus und Haus; die Mauern strömen mehr als sacht die Glut des Tages aus. Es dreht sich das Akazienlaub und schwebt durch die Allee; ich bin, der an ihm frißt, der Staub, du bist der süße Schnee.