Als Arne Kolb vor einigen Monaten mit reichhaltigen Kostproben seines aphoristischen Schaffens an die Redaktion herantrat, fühlten wir uns von den prägnantesten dieser Sentenzen wohlig an einen alten Bekannten erinnert. Dem ins Blaue hinein unterbreiteten Vorschlag, das eigene Verhältnis zu Nicolás Gómez Dávila in Essayform zu beleuchten, kommt Kolb nun auf eine Art und Weise nach, die unseren anfänglichen Eindruck der Geistes- und Gemütsverwandtschaft mit jedem Satz entschiedener festigt. Eine Rückschau in sechs Lidschlägen, flankiert durch traumdunkle Illustrationen unseres Leinwandhelden Elihu Vedder.
I.
„Falls das Universum ein System ist, kann es keine Evidenzen geben, die sich widersprechen. Aber wer garantiert uns, daß es eines ist?“
Mit Nicolás Gómez Dávila ist einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts von der wissenschaftlichen Zergliederung bislang fast vollständig unberührt geblieben. Von seinem Werk scheint das abstrahierende Denken, dessen Beschränktheit darin unablässig gegeißelt wird, auf eigentümliche Weise abzugleiten; unfähig in jenes Innere vorzudringen, dass doch anders als bei Zeitgenossen wie Heidegger oder Wittgenstein auch jedem intelligenten Leser ohne philosophischen Begriffsapparat offensteht. Weitgehend unkommentiert stehen seine Schriften – neben wenigen Essays im Grunde ein einziges, fortlaufendes Konvolut an Aphorismen – in der geistesgeschichtlichen Landschaft, von unübertroffener Klarheit und jeder Auslegung unzugänglich zugleich.
Ein Philosoph ist jemand, der Gedanken hat und diese dann zu einem kohärenten und geordneten Zusammenhang fügt. Dávilas solitärer Rang besteht darin, ein Philosoph zu sein, der keine Philosophie entwirft. Er versucht nicht die Gedanken, die ihm kommen, in irgendein logisches und widerspruchsfreies System des Denkens zu bringen, ja er lehnt es auch ab, sie argumentativ aufeinander zu beziehen oder auch nur zu sortieren. Er verleiht ihnen ihren vollkommenen Ausdruck und lässt sie einfach stehen, widersprüchlich und unverbunden. Aus Sicht eines Universitätsphilosophen hat Nicolás Gómez Dávila überhaupt kein Werk geschaffen, sondern lediglich einen Wust von zusammenhanglosen Sätzen hinterlassen, die miteinander völlig unvereinbar sind.
Wie sich die Dinge >an sich< verhalten, wird vielleicht bis ans Ende der Welt umstritten bleiben, doch für diejenigen, denen die großen und unlösbaren Fragen der Philosophie ein existenzielles Rätsel darstellen, ist es eine Tatsache der persönlichen Erfahrung, dass wir Momente der Gewissheit erleben – widersprüchliche Momente in der Rückschau, doch jeder aus sich selbst heraus unbezweifelbar. So gibt es Tage, an denen sich die Freiheit des Menschen nicht bestreiten lässt, wie es auch solche gibt, an denen sie widerlegt ist. Ein ketzerischer Geist könnte sogar die Frage stellen, ob nicht das Ziel der Philosophie in solchen Augenblicken bestehe, ob nicht die Momente der Gewissheit Tatsachen offenbaren, unvereinbare Tatsachen vielleicht, und doch nicht minder gültig. In seinen Aphorismen ist es Dávila gelungen, solche Momente auf ihren Begriff zu bringen.
Sicherlich sind andere große Persönlichkeiten nicht weniger widersprüchlich gewesen, doch suchten sie es in ihrem Werk zu verbergen, wogegen Dávila nie entschied, ob er es mit dem Mönch oder dem Kyniker in sich halten sollte. Die einzige Art sich ihm auf eine wahrhaft umfassende Weise zu nähern wäre eine Biographie, die jene Persönlichkeit hinter den Thesen aufscheinen ließe, der die Gewissheit über die Unaufhaltsamkeit der Moderne wie der Glaube an ihre Fäulnis, die Kritik am Blutvergießen wie die Menschenverachtung, das Lob der Reinheit und Unzucht zugleich denkbar waren. Ein Essay über Gómez Dávila muss daher selber Fragment bleiben, Spurensuche im Labyrinth, Versuch sich einen Reim zu machen auf Paradoxien, deren geheime Harmonie in den Ohren der Eingeweihten klingt.
II.
„>Von Gottes Gnaden< zu sein, schränkte die Macht des Monarchen ein; der >Volksvertreter< ist der Repräsentant des absoluten Absolutismus.“
Seit geraumer Zeit scheint der politische Diskurs ein reines Zwiegespräch von Demokraten geworden zu sein, in dem jede Seite die >wahre Demokratie< gegen ihre Feinde zu verteidigen glaubt. Unter den großen Philosophen war Dávila der bislang letzte, der sich eindeutig und ohne Vorbehalt zur Ablehnung der Demokratie bekannte, wenngleich er kein >Feind< derselben war. Die Demokratie politisch zu bekämpfen, gar das >Volk< von ihrer Unzulänglichkeit überzeugen zu wollen, ist ein Feldzug, auf dem man sich alle demokratischen Krankheiten selber wieder zuzieht. Während sich der >Rechte< in seinem Kampf gegen Demokratie und Sozialismus in eine bloße Umkehrung seiner Gegner verwandelt, lehnt es der Reaktionär ab, in Parlamenten und auf Wahlkampfveranstaltungen in Erscheinung zu treten. Anstatt sich auf irgendwelche Seiten zu stellen, erwartet er bei jedem Umschwung gelassen das erneute Hervorbrechen aller Laster und Tugenden, die nicht dem gestürzten Regime, sondern der menschlichen Natur innewohnen.
Seine Ablehnung gilt nicht irgendwelchen konkreten, historisch gewordenen politischen Formen, sondern dem abstrakten demokratischen Ideal, zu dem sich heute alle Welt bekennen zu müssen glaubt. Es besteht in der Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal selbst in der Hand habe, dass er im Grunde >gut< sei und dank des >Fortschritts< bereits hier auf Erden der Vollkommenheit teilhaftig werden könne; kurz: Der Demokrat leugnet die Evidenz der Erbsünde. Der Reaktionär versteht unter der Demokratie keine Regierungsform, sondern sie ist ihm das falsche Bewusstsein der Moderne schlechthin.
Den politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts war gemeinsam, dass das Volk in seinen unterschiedlichen Konzeptionen als Staatsvolk, Proletariat oder Volksgemeinschaft ihre Legitimationsquelle darstellte. Für Dávila handelt es sich deshalb bei Liberalismus, Kommunismus und selbst Faschismus lediglich um unterschiedliche Ausprägungen des demokratischen Bewusstseins. Der Monarch hat es nicht nötig zum Volk zu reden, wogegen die Diktatoren und Demagogen der Moderne kaum etwas anderes tun. Dávilas Fundamentalkritik an der Demokratie schließt jene, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch als ihre Gegner gelten, immer mit ein.
III.
„Was nennen wir eigentlich >Geschichte<? Die Welt, gesehen mit den Augen des 19. Jahrhunderts.“
Der uns heute selbstverständliche Begriff >Alltag< wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt, zu einer Zeit, da die Menschen entdeckten, dass sie in einem viel radikaleren Sinn geschichtliche Wesen waren, als sie es bisher für denkbar gehalten hatten. Schon Hunderttausend Jahre vor der biblischen Zeitrechnung hatten Menschen die Erde bewohnt, für Darwins Evolutionstheorie musste man Zeiträume von hundert Millionen Jahren ansetzen und der Erdball als tote Gesteinskugel war noch weitaus älter. Nietzsche zog die Konsequenz: Gott war tot und die Menschheit vom Zentrum ins Nichts gerollt. Wollte man nicht zustimmen, dass sich der Mensch in einem ungeheuren Prozess der Sinnlosigkeit befand, so musste man dieser alle menschlichen Dimensionen sprengenden Geschichte und Vorgeschichte ein Ziel, einen Sinn unterstellen. Geschichtsbewusstsein heißt deshalb notwendig auch Fortschrittsbewusstsein; heißt auch: Hegelsche Unsinnsphilosophie. Da das eigentliche Sein erst in der Zukunft kommt (und es kommt nie), wird die Gegenwart abgewertet, wird uneigentlich, wird zum >Alltag<.
Dávila sah den Sieg wie das Scheitern der Moderne voraus. Es handelt sich hierbei nicht um eine zeitliche Abfolge, sondern um die Koexistenz paradoxer Evidenzen. Indem das Fortschrittsdenken seine Versprechen hält, offenbart sich, dass seine Versprechen nicht standhalten; gerade ihre Verwirklichung beweist, dass der Fortschritt den Menschen nicht erlöst, sondern allenfalls Hunger und Leid der Vormoderne mit Überdruss und Leere der Postmoderne vertauscht. Wir haben uns angewöhnt, die Geschichte als etwas Ungeheures ohne Anfang, Ende und Ausweg zu betrachten. Dávilas Werk ist ein grandioser Fluchtversuch aus dieser Mensch- und Naturgeschichte, die er als verfehlte Perspektive des 19. Jahrhunderts durchschaut. Der Vormoderne kannte weder Geschichtsbewusstsein noch Alltagsbewusstsein, er befand sich in einem zeitlosen Sein zu Gott.
Die Wissenschaft sagt heute, dass das Universum 14 Milliarden Jahre alt ist. Sie mag damit Recht haben (oder auch nicht), doch es handelt sich sicher um das, was Gómez Dávila eine „subalterne Wahrheit“ genannt hätte. Unmittelbares Sein kommt nur der Gegenwart und ihren Tatsachen zu, dass übrige existiert verschachtelt, als Einsicht in den Köpfen kluger Gelehrter. Dávila erkannte, dass die Herausforderung des religiösen Denkens nicht darin besteht, wissenschaftliche Tatsachen zu bestreiten, sondern sie auf ihren Platz in der Hierarchie der Wahrheiten zu verweisen. Gewiss lehrt uns die Wissenschaft viel über Vergangenheit und Zukunft des Kosmos, doch all dies ist nur eines der höheren Spiele des Augenblicks, Perspektive der Gegenwart, die wir für alle Zeit bewohnen, die unser Ur-Eigentlichstes ist; unmittelbare Übereignung aus dem Sein.
IV.
„Das Scheitern des Fortschritts beruht nicht auf der Nichterfüllung, sondern auf der Erfüllung seiner Versprechen.“
In konservativen Kreisen wird gelegentlich gesagt (und in einem weinerlichen Ton wird es gesagt), dass die Linke die Gesellschaft seit 200 Jahren nach ihren Vorstellungen umgestalte – da sehe man es doch, dass so etwas möglich sei und genau so müsse man es machen – nur eben andersrum. Soviel ist wahr, dass alle Gesellschaften seit diesem Zeitraum in einer Bewegung atemberaubender Dynamik befangen sind und man übereingekommen ist, diese am besten als Fortschritt zu begreifen. Nun gibt es >Progressive<, welche diese Entwicklungen zu beschleunigen suchen, >Konservative<, die sich ihr gelegentlich in den Weg stellen wollen und auch solche, denen eine ganz andere Richtung vorschwebt, welche zu beschreiten lediglich den Faschisten für eine kurze Zeit zu gelingen schien, ehe alles den Bach hinunterging und der ganze Ansatz im Blut ertrank.
Der Reaktionär teilt keine dieser Perspektiven. Adorno entgegnete in einer Diskussion Gehlen, als dieser über den unaufhaltsamen Erfolg des Fortschritts sprach, dass ihn gerade dieser Automatismus daran zweifeln lasse, ob überhaupt ein Fortschritt stattgefunden habe. Und in der Tat: Zu den Grundüberzeugungen des Reaktionärs gehört es, dass der Mensch als Individuum vielleicht frei ist, dass er aber als Gattung gewiss unfrei ist. Der Fortschritt ist jener Zwang, den ein Innovator allen anderen aufzwingt, wollen sie nicht abgehängt werden. Was heute als Fortschritt begriffen wird, kam nicht anders in die Welt, als dass die Europäer mithilfe ihrer Überlegenheit in Technik und Organisation alle Länder kolonialisierten, mit Ausnahme von Japan, welches der Okkupation zuvorkam, indem es westliche Technik und Organisation von selbst annahm und also konkurrenzfähig wurde. Es ist, am Rande bemerkt, ein nicht aufzulösender Widerspruch des postkolonialistischen Denkens, dass die universale Geltung jener moralischen Prinzipien, von denen aus es den Kolonialismus kritisiert, eine direkte Folge desselben ist.
Jedenfalls drückt sich in alledem nichts von Freiheit aus, vielmehr ist >Fortschritt< eine etwas euphemistische Beschreibung der globalen Entfaltung technologisch-soziologischer Sachzwänge. Gewiss leben wir unter technokratischen Bedingungen, doch hieraus nun die Moderne bekämpfen, um zu einer ursprünglicheren und freieren Lebensweise vor- oder zurückzustoßen hieße, auf der Hälfte des Gedankenganges stehen zu bleiben. Die technische Welt ihres Zwangscharakters wegen abstreifen zu wollen, heißt unmittelbar diesen Zwangscharakter leugnen. Aus ihr gelangen wir nicht hinaus – und müssen es auch gar nicht. Vielmehr ist es überhaupt ein modernes Missverständnis, dass die Freiheit des Menschen in der Willkür seiner Machenschaft begründet liege. Gewiss ist der Einzelne hierin heute ein Sklave der Technik; allein war etwa der Bauer romantisierter Vergangenheiten darin freier oder nicht ebenfalls fremdbestimmt durch den Gang der Natur und Jahreszeiten? Die menschliche Freiheit hat mit all diesem Vermögen oder Unvermögen nichts zu schaffen, sie offenbart sich im Traum, im Rausch, im Spiel, im Glauben, in der Liebe und Kunst. Hierin allein zeigen sich dem Menschen die Zugänge zum Elementaren, dem wir so nah und fern stehen wie alle Zeiten vor uns; wogegen Fortschritt oder Moderne zu bekämpfen sie viel zu ernst nehmen heißt.
V.
„Der Skeptizismus ist die asketische Nachtwache vor dem Kreuzzug.“
Lässt sich sinnvoll über Gott schreiben? Dávila versucht es jedenfalls. Die Grundtendenz seines Nachdenkens hierüber scheint eine nachdrückliche Betonung der Differenz von Gott und Mensch zu sein, Differenz nicht nur im Sinne der Verschiedenheit, sondern auch der Distanz. Er misstraut jeder Annäherung an Gott, welche diesen zuletzt in ihrer Annäherung für bloßes Gleichnis nimmt und somit tilgt. Die These Feuerbachs, wonach Gott das Maximum menschlicher Potentiale darstelle und sich der Mensch in der Religion letztlich selbst verehre, scheint ihm der Grundirrtum auf theologischem Gebiet überhaupt zu sein. Gewiss lässt sich in der Religion eine Anleitung zur Menschenliebe oder vielem anderem sehen, allein wird man dann irgendwann bemerken, dass man den Menschen auch ohne Gott lieben kann.
Für Dávila hingegen ist Religion die Erfahrung einer radikalen Andersartigkeit. Wenn der Begriff Gottes überhaupt einen Sinn haben soll, so nur als absoluter Gegensatz zu allem Menschlichen und Weltlichen. Insofern ist es auch falsch zu sagen, dass der Mensch Gott denkt, da er ja unter diesem Begriff gerade meint, was seinen Geist übersteigt (etwas das unseren Geist nicht übersteigt als göttlich zu bezeichnen ist Vergötzung). Der Fromme ist bei Dávila immer zugleich Skeptiker, ja aus der Erfahrung, dass seine Vernunft nicht ins Letzte von Welt und Dasein eindringen kann, wächst sein Glaube. Wie weit die Wissenschaft auch kommen mag, die Kette von Ursachen, woran der Verstand sich entlanghangelt reißt nicht ab und langt niemals, kantianisch gesprochen, am >Ding an sich< an. Kann der Mensch die Welt im Letzten nicht begreifen, so kann er doch zu jenem Letzten in eine emotionale Resonanz treten und als Gewissheit jenseits von Argumenten und Beweisen für sich heraus ziehen, dass es einen Sinn, eine Bewandtnis damit hat, dass er nicht ohne Grund zu seiner Zeit auf seinen Posten gestellt ist.
Von einem solchen Gott, der die nur im Gebet erfahrbare Andersartigkeit ist, lässt sich natürlich positiv nicht reden, er lässt sich nicht inhaltlich bestimmen. Dávila hält denn auch, wie er einmal sagt, den Neger, der irgendeinen Fetisch im Schrank hat, für unendlich klüger als den modernen Atheisten. Die Tatsache, dass der Katholizismus für ihn nicht naiv die einzig wahre Form des Glaubens darstellt, ist hingegen auch kein Grund für irgendwelche Abstriche im Bereich der Liturgie oder Dogmatik. Wenn alle Religion nur menschliche Form der Annäherung an ein Unmenschliches ist, gerade dann ist in religiöser Hinsicht eines wichtiger als alles andere: Dass die Form gewahrt bleibe.
VI.
„Die hygienische und methodische Sexualität ist die einzige Perversion, die die Dämonen ebenso verabscheuen wie die Engel.“
Über die Sexualität äußert sich Gómez Dávila abwechselnd lustfeindlich und ekstatisch, dennoch ist seine Position hier vollkommen konsistent. Was ihn abstößt am modernen Umgang mit der Sexualität ist nicht etwa Ausschweifung, sondern ihre Profanierung dadurch, dass sie zu etwas ganz Natürlichem, Gewöhnlichem, Alltäglichem verkleinert wird – womit zuletzt auch die Ausschweifung abgeschafft wird. Indem der anstößige und a-normale Charakter der Sexualität geleugnet wird, wird zugleich ihr eigentliches Wesen, worin wir aus dem bloß Gewöhnlichen heraustreten, geleugnet. Einen Eros, der das Individuum ergreift, übersteigt und beherrscht: Ihn kann der Mensch, welchem sein Ich über alles geht, nicht brauchen.
Mit untrüglichem Instinkt registrierte Dávila, dass sich gerade in der sexuellen Befreiung und ihrer Forderung nach >sexueller Selbstbestimmung< eine dem Eros abgrundtief feindselige Stimmung artikulierte, welcher gerade auf Hingabe und Auflösung des Individuums abzielt, wogegen die moderne Auffassung der Sexualität eine rein quantitative Steigerung der individuellen Lust fordert und somit narzisstischen Schwundformen der Sexualität Vorschub leistet. In der Tat ist der allgemeine und methodische Konsum der Pornographie – wie von Dávila prognostiziert – die eigentliche Verwirklichung dieses egozentrischen Ideals. Beim Verkehr mit einem realen Partner mag es immer vorkommen, dass sich dieser nicht meinen persönlichen Vorlieben fügt, weshalb erst die beliebige Reproduktion eigener Phantasien aus dem Fundus eines unerschöpflichen Ozeans pornographischer Darstellungen das Ideal falsch verstandener Selbstbestimmung einlöst.
Wir leben voll und ganz in jener von Coca-Cola und Pornographie beherrschten Welt, deren Heraufkunft Gómez Dávila beiwohnte. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte steigt Jahr für Jahr, die zwischenmenschlichen Kontakte werden zunehmend in die Virtualität wegabstrahiert und die gesellschaftlichen Befreiungsbewegungen haben ein weitgehend seiner kulturellen Bezüge entkleidetes Individuum zurückgelassen, welches über keine Sinnstrukturen mehr verfügt, die ihm sein Dasein begreiflich und gestaltbar machen würden. Von Ansprüchen und Forderungen losgelöst weiß es seine theoretische Freiheit nicht anders zu gebrauchen, denn zur infantilen Reproduktion seiner Triebstrukturen, welche sich freilich nur in digitalen Surrogaten vollzieht. Vermutlich wird irgendwann ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden, womit endgültig klar wäre, dass die Gesellschaft nichts mehr will von ihren Mitgliedern. Wozu auch? Die große Maschine der automatisierten und robotisierten Industrie wird sich irgendwann auch ohne unser Zutun drehen. Was wir dann tun werden? Sicherlich werden viele ihre „Langeweile zwischen der gespenstischen Bedeutungslosigkeit der Dinge spazieren führen“ (Dávila), andere werden vermutlich endgültig in den Refugien der virtuellen Welt verschwinden. Vielleicht wird es aber auch eine kleine Gruppe abenteuerlicher Herzen geben, welche den abstrakten Bau in ihren Besitz nehmen, um auf einer höheren Ebene das uralte Spiel des menschlichen Agons von vorn zu beginnen.