Unter dem Titel Tugendreich – Neue Zeiten. Alte Werte? lädt die Erzdiözese München-Freising noch bis zum 1. November zu einer interaktiven Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen der Ethik und fragt nach ihrer Bedeutung in einer Zeit, die sich selbst gern als „jenseits von Gut und Böse“ begreift.
Vor einer malerischen Alpenkulisse, mitten im oberbayerischen „Pfaffenwinkel“ liegt das Kloster Beuerberg, welches noch bis zum Jahr 2014 den Ordensschwestern der Salesianerinnen als Standpunkt ihres monastischen Lebens diente. Seit 2016 öffnet das Kloster regelmäßig seine Pforten, um Besuchern in liebevoll gestalteten Ausstellungen einen Einblick in einzelne Aspekte des klösterlichen Lebens zu geben. Das diesjährige Programm widmet sich einem der wichtigsten Grundpfeiler des Ordenslebens, der gleichzeitig auch den zentralen Begriff der abendländischen Ethik darstellt: der Tugend.
Das Kloster als „Tugendort“, als Stätte der bewussten Abkehr von den Versuchungen der Welt und der freiwilligen Unterwerfung unter die strengen Gebote der Ordensgemeinschaft, ist zweifellos ein gut gewählter Platz, um die Besucher aus der profanen Welt mit den ethischen Grundfragen in Berührung zu bringen. Diese Berührungsfläche schafft die Ausstellung durch eine Vielzahl verschiedener Exponate, von Gemälden und Requisiten aus dem Fundus des Klosters über eigens für die Ausstellung produzierte Videos bis hin zu interaktiven Stationen. An jeder Stelle wird deutlich, dass hier mit großer Sorgfalt und echtem Interesse am Thema gearbeitet wurde und den Veranstaltern ist es gelungen, die gehaltvolle Thematik lebendig und anschaulich aufzubereiten.
Auf seinem Rundgang um den zentralen Klosterhof lernt der Besucher zunächst die vier klassischen Kardinaltugenden Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhalten kennen, die bereits der antiken Philosophie und Staatskunst als unentbehrliche Grundlage für ein wohlgeordnetes Gemeinwesen und die Vervollkommnung des Einzelnen galten. Im zweiten Abschnitt wird der Fokus verstärkt auf die spezifisch christliche Tugendlehre gelegt, deren Schlüsselbegriffe in der Trias aus Glaube, Liebe und Hoffnung liegen. Als besondere Ausprägung der ethischen Praxis des Christentums stehen die monastischen Ordenstugenden Armut, Keuschheit und Gehorsam im Vordergrund, die ihren physischen Ausdruck in der nüchternen Schönheit der Klostermauern finden.
Wer meint, dass all das nicht über die antiquarische Aufbahrung vergangener Wertvorstellungen in alten Gemäuern hinausginge, der irrt. Die Veranstalter haben sich alle Mühe gegeben, die Ausstellung nicht nur zeitgemäß aufzuputzen, sondern den Besucher auch immer wieder gezielt mit der Frage zu konfrontieren, welche Beziehung er selbst bzw. die Gegenwart zu den einzelnen Tugenden unterhält. Als Aufhänger dient dabei u.a. die Corona-Krise, die sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft ohne Vorwarnung ein für zeitgenössische Maßstäbe ungewohntes Maß an Geduld, Verzicht und Disziplin abverlangt hat. An anderer Stelle werden die Besucher eingeladen, eigene Vorschläge dazu zu notieren, welche Tugenden heute besonders vonnöten wären, um „uns voranzubringen“. Und siehe da: zwischen zahlreichen, erwartungsgemäß eher zeitgeistigen Vorschlägen wie „Toleranz“ und „Gleichberechtigung“ finden sich sogar einige reaktionäre Schmankerl wie „Gottesfurcht“, „Selbstdisziplin“ und „Selbsterkenntnis“.
Der letzte Abschnitt der Ausstellung führt den Besucher schließlich durch den „Totengang“, ein Teil des Kreuzgangs, der in einer vergitterten Wandnische die Gebeine verstorbener Ordensmitglieder beherbergt und dessen Wände mit liturgischen und biblischen Texten zum Themenkreis der „vier letzten Dinge“ (Tod, Gericht, Himmel, Hölle) und dem Opfertod Christi verziert sind. So schließt der Rundgang mit einem eindringlichen Memento mori und der Mahnung, die kurze Zeit in dieser Welt nicht an Lust und Laster zu vergeuden, sondern bis zuletzt den beschwerlichen Weg der Tugend zu wählen.
Von der Verwertung der Tugend
Schon im Untertitel der Ausstellung ist zu erkennen, dass die Begriffe „Tugend“ und „Werte“ hier immer wieder synonym verwendet werden. Diese Gleichsetzung, die im zeitgenössischen Sprachgebrauch kaum mehr auffällt, verbirgt einen fundamentalen Widerspruch, den Carl Schmitt in seiner Schrift Die Tyrannei der Werte (1960) herausgearbeitet hat. Den Gedanken von Schmitt greift Eberhard Straub in seinem Großessay Zur Tyrannei der Werte (2010) auf, in dem er den Siegeszug der Werte in der europäischen Geistesgeschichte seit dem 19. Jahrhundert nachvollzieht.
Die Tugend ordnet Straub dem Selbstverständnis einer aristokratischen Ethik zu: Sie ist das charakterliche Maß der homerischen Adelskrieger, unter denen vor allem die Tapferkeit (andreía) als Garant für unsterblichen Ruhm (kléos) zählte. Der ideale Heros bezwingt nicht nur den äußeren Gegner im Zweikampf, sondern vor allem seine inneren Feinde, die Triebe, die ihn zur feigen Flucht oder zum unbeherrschtem Zorn verführen wollen. Auch die Oberschicht des klassischen Athens gründete ihren Achtungsanspruch auf ihre ethische Vortrefflichkeit (aretḗ) und begriff sich selbst als die Gemeinschaft der „Schönen und Guten“ (kalós kagathós). Für die attischen Philosophen-Väter Platon und Aristoteles, beide Befürworter eines hierarchisch geordneten Staatswesens, zählte die Erforschung und Verteidigung der Tugenden zu einem zentralen Anliegen ihrer Philosophie. Deren Grundlage sahen sie in einer wohlgeformten menschlichen Seele, in der der Geist die Begierde und den Willen zügelt und zum rechten Maß führt. Das christliche Abendland, das wesentlich von den kampferprobten, germanischen Stämmen getragen wurde, führte diese Tradition nahtlos fort und ergänzte die heldischen und staatsmännischen Tugenden um die fromme Dreifaltigkeit von Glaube, Liebe und Hoffnung, die den Menschen mit Gott verbinden sollte.
„Der vornehme Mensch, der Aristokrat vor allem, wird nach der Tugend streben und sich nicht dem Laster ergeben. So hieß es während der aristokratischen Epochen. […] Der Aristokrat und Ritter soll und kann Herr der Welt, seiner Umwelt werden, wenn er sich nicht von ihrem Zauber einfangen lässt. In der Nachahmung göttlicher Tugenden erhebt er sich über die Geschichte und Gesellschaft, indem er sie durchdringt und dabei gleichzeitig zu seiner vernünftigen, sittlich-schönen Vollkommenheit gelangt.“
Eberhard Straub
Der Wert hingegen gehört schlechthin zur ökonomischen Sphäre. Er ist eine Kategorie des Marktgeschehens und gewinnt seine Prominenz erst mit dem Vormarsch des ökonomischen Denkens und der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Europa. Wertvoll ist stets das, was die Meisten begehren, und wer es beherrscht, die Begierden der Vielen zu steuern, bestimmt die jeweils geltende Wertordnung. Der Wert ist dabei stets an das jeweils bewertende Subjekt gebunden und damit unweigerlich dem Wandel ausgesetzt, auch wenn der Wertesetzer ihm zwangsläufig den Anstrich der objektiven Verbindlichkeit geben wird. Nachdem in Europa das Bürgertum die alten Eliten abgelöst hatte, bemächtigte sich die ökonomische Verwertungslogik auch der Ethik und Philosophie. Das klaffende Loch, das der „Tod Gottes“ in den Herzen und Geistern hinterlassen hatte, sollte mit immateriellen Werten gestopft werden, die aber schon ihrer Natur nach niemals den Halt in den „Wogen der Zeit“ vermitteln können, nach dem so viele Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts verzweifelt suchten.
Wo die Tugenden zu Werten stilisiert werden, verlieren sie ihren Charakter als objektiver Maßstab für den Einzelnen und werden zu beliebig verhandelbaren Vorlieben. Als solche bewegen sie sich auf einer Eben mit allen anderen Verhaltensweisen und müssen erst unter Berufung auf ihre Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit durchgesetzt werden. Das kann einmal gelingen, ein andermal aber auch nicht. So wird die ethische Richtschnur, die ihre Begründung im menschlichen Streben zum Höheren und Guten findet, zur unverbindlichen Verhandlungsmasse und büßt damit ihren Wesenskern ein. Wenn wir also ernsthaft der Frage nachgehen wollen, ob und wie wir in heutiger Zeit die Tugend zum Maß unseres Handelns machen können, so gilt es vor allem eins zu vermeiden: die Verwechslung der Tugenden mit Werten.