Christentum und Konservatismus – ein Widerspruch? (1)

Hat das Wesen des Christentums politische Implikationen? Ist die Entsakralisierung der Welt etwa bereits in den Grundlagen des Christentums angelegt? Dient der Monotheismus als Alternative zum zeitgenössischen Liberalismus? Eine in der DDR sozialisierte Atheistin und ein konservativer Christ haben sich zusammengefunden, um über diese und weitere Frage zu sprechen. Die Anbruch-Autoren Beate Broßmann und Daniel Zöllner geben einen Einblick in die Komplexität der christlichen Ideengeschichte. Hier geht es zum zweiten Teil.

Broßmann: Daniel, Du hast Dir mittlerweile mit einigen einschlägigen Publikationen einen Namen als Experte auf dem Gebiet des „konservativen Christentums“ gemacht. Ich bin auf diesem Gebiet etwa das Gegenteil von Dir: ein absoluter Laie, ein in der DDR sozialisierter Atheist. Du wirst Dir von mir zu diesem Thema also einige naive oder grundsätzliche Fragen gefallen lassen müssen! Aber Du hast es so gewollt!

Gleich mal in medias res: Ist die Begriffsverschränkung „konservatives Christentum“ nicht eine Tautologie?

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Zöllner: Keineswegs! Das Christentum vereinigt in sich auf einzigartige Weise „konservative“ und „anarchistische“ Anteile. Seine konservativen Anteile entfaltete es im Verbund mit weltlicher Macht etwa im Mittelalter, wo es eine das gemeinschaftliche Leben ordnende und sichernde Religion war, in der Art der antiken Polis-Religionen wie dem Kaiserkult.

Von Seiten des Römischen Reiches wurde das Christentum aber in seinen Anfängen als eine anarchistische „Revoluzzer-Bewegung“ wahrgenommen – zum Teil sicher ein Missverständnis. Seine „Revolution“ liegt ja nicht in einem Umsturz der staatlichen Gewalt, sondern in der Botschaft, dass keine irdische Ordnung Anspruch auf Verehrung als etwas Unbedingtes erheben darf, sondern allein der jenseitige Gott. Das ist eine Botschaft, die in letzter Konsequenz alle politischen Ordnungen zur Disposition stellen kann. Ein subtiler, aber dennoch sehr wirkmächtiger „Anarchismus“.

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Broßmann: „Der jenseitige Gott“ – Du beschreibst in einem Deiner Texte anschaulich, dass erst in den monotheistischen Religionen eine Trennung von Gott einerseits, der Welt andererseits stattgefunden hat. In den polytheistischen Religionen war die Welt sozusagen noch von den Göttern „durchtränkt“. Göttliche Verehrung galt dem Kosmos, der Welt. Die Weltentstehung beginnt mit der Entstehung der Götter. „Das Werden der Götter ist einbezogen in das Werden des Alls, und alle Götter gehören restlos zum Kosmos“, zitierst Du eine vergleichende Untersuchung der Schöpfungsmythen der Menschheit.

Die Säkularisierung begann für Dich bereits in der Achsenzeit um 500 v. Chr., als das Göttliche zum Eigentlichen wurde, zum Wahren, zum „ganz Anderen“, dem gegenüber das Irdische nur defizitär sein könne. „Immanenz der Welt“ contra „Transzendenz des Göttlichen“, also quasi Auslagerung des Idealen, Absoluten, das den Kosmos erst geschaffen hat und selbst keiner Entwicklung unterliegt, abwesend und unsichtbar ist. Die Gläubigen sind seitdem gezwungen, nach weltlichen Spuren und Zeichen einer nichtweltlichen Transzendenz zu suchen (was – nebenbei gesagt – das Einfallstor für Unsicherheit und Glaubenszweifel der Glaubenswilligen jedes Zeitalters gewesen sein könnte). Die „Verbannung“ Gottes aus der Welt war also die Voraussetzung dafür, dass das Christentum (und das Judentum sicherlich auch) auf Distanz zu jedweder weltlichen, staatlichen Herrschaft gelangen und ihre Macht delegitimieren konnte?

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Zöllner: Du hast meinen Aufsatz über Europa als „Kontinent der Säkularisierung“ besser zusammengefasst, als ich selbst es gekonnt hätte. In meiner Beschreibung des Juden- und Christentums stütze ich mich unter anderem auf den bekannten Ägyptologen Jan Assmann und seine Darstellung der „mosaischen Unterscheidung“ im Judentum. Das ist die Unterscheidung zwischen falscher und wahrer Religion, zwischen Götzendienst und Verehrung des wahren Gottes, aber auch zwischen Gott und Welt, Gott und Mensch, schließlich auch zwischen Mensch und Welt. Sind die Menschen der polytheistischen Kulturen noch in der Welt beheimatet, werden sie in Juden- und Christentum zu Fremden in der Welt. Wenn der Mensch (jüdisch) als „Ebenbild“ oder (christlich) als „Kind“ Gottes bestimmt wird, dann zeigt sich darin eine außerordentlich enge Bindung des Menschen an den jenseitigen Schöpfergott. Durch diese Bindung ist der Mensch zwar „in der Welt“, aber nicht gänzlich „von der Welt“. Er kann sich von der Welt und ihren Mächten distanzieren. So beispielsweise von der Institution des Gottkönigtums, die in archaischen Kulturen allgegenwärtig ist. Hier wurde der Herrscher selbst als Gott verehrt, was Juden- und Christentum als Götzendienst verdammen.

Aus dieser Position der Distanz heraus findet in den monotheistischen Religionen auch eine Entsakralisierung der Welt statt, deren Konsequenzen wir in der Neuzeit mit der Entstehung der Naturwissenschaften und der modernen Technik beobachten können. „Die entgötterte Natur“, deren Entstehung Friedrich Schiller in dem Gedicht „Die Götter Griechenlands“ beklagt, ist die Natur der modernen Wissenschaften. Weil in ihr nichts mehr Anbetung erheischt, darf der Mensch sie verändern. Man darf aber nicht vergessen, dass der Grundgedanke von Juden- und Christentum eine verantwortungsvolle Herrschaft über die Natur war, keine unbegrenzte, gierige Ausbeutung ihrer Ressourcen.

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Broßmann: Die Ursünde der menschlichen Gattung liegt also womöglich im Rauswurf Gottes aus der irdischen Welt? Die „Entzauberung der Welt“, wie sie Max Weber beschreibt, ist also vielleicht nur die allzu offensichtliche Konsequenz der monotheistischen Auslagerung des Transzendenten, der Entsakralisierung der Welt?

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Zöllner: Ich selbst würde hier natürlich nicht den Begriff der „Ursünde“ gebrauchen, denn der ist reserviert für den Ungehorsam Adams am Beginn der Geschichte. Sieht man die Entzauberung der Welt „reaktionär“ als eine grundlegende Fehlentwicklung an, dann kann man sicher in der monotheistischen Trennung von Gott und Welt einen „Sündenfall“ erblicken und möchte dann zurück zu den polytheistischen Religionen, in denen die Welt noch selbst göttlich war, bzw. als göttlich verehrt wurde. Solche Nostalgie und Resignation prägt etwa das bereits zitierte Schiller-Gedicht „Die Götter Griechenlands“.

Ich muss aber bekennen, dass mir das Leben in einer monotheistisch geprägten Zivilisation nicht nur angenehmer, sondern auch schöner und freier erscheint. Freie Wissenschaft, moderne Technik und Individualismus sind für mich Werte, die ich nicht missen möchte. Wobei selbstverständlich besonders zum Individualismus noch mehr zu sagen wäre, etwa, dass damit christlich niemals das isolierte Individuum des Liberalismus gemeint sein kann, sondern immer die Person in ihren Beziehungen zu anderen.

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Broßmann: Für mich als Ungläubige ist die Bibel ja in erster Linie als philosophisches, eigentlich als geschichtsphilosophisches Werk interessant. Daher fand ich es spannend zu lesen, dass Robert Spaemann schreibt, im Christentum sei die Welt doppelt kontingent: sie gehe erstens aus dem Willen des Schöpfers hervor und nicht aus kosmischer Notwendigkeit, und sie sei zweitens aufgrund der Ursünde anders, als der Schöpfer sie sich ursprünglich dachte.

Du beziehst Dich in erster Linie auf den Theologen Friedrich Gogarten, wenn Du weiter ausführst: Der überirdische Gott hat die Welt den Menschen als Erbe überlassen. Und diese dürfen nun aus der Macht ihrer eigenen Vernunft heraus Entscheidungen über ihr eigenes Handeln und ihren Umgang mit der Welt fällen.

Sollte dies nicht eine vollkommen abwegige Interpretation sein (was ich nicht einschätzen kann), erscheint sie mir als ein philosophisches Skandalon, das zwangsläufig eine Reihe von Fragen provoziert, z.B. ob es sein kann, dass ein Gott als nicht allmächtig, ja gar als fehlbar gilt. Hat Gott Welt und Menschen verlassen, überlässt er sie sich selbst, weil sie so missraten sind? Oder funkt er nicht mehr dazwischen, weil alles schon im Laufe der Entwicklung (wieder) ins Gleichgewicht kommen wird, er also Vertrauen in seine Geschöpfe hegt, auch wenn sie einmal in seinen Augen versagt haben?

Angesichts einer solch dubiosen Ausgangssituation muss man sich eigentlich nicht wundern, warum sich die christlichen Würdenträger heutzutage weniger um theologische als um weltliche Fragen kümmern: Der Mensch allein kann die Schöpfung retten, wenn er sie in existenzielle Gefahr gebracht hat. Es rettet uns kein Gott. Die Wendung hin zu Caritas und Menschenrechten erscheint so gesehen folgerichtig. Was hat ein konservatives Christentum diesem linken, (neo)liberalen, wenn auch nicht mehr revolutionären, sondern eher herrschaftsnahen Christentum entgegenzusetzen?

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Zöllner: Es ist ein alter christlicher Gedanke, dass der Antichrist dem wahren Christus täuschend ähnlich sieht. Entsprechend sieht auch der moderne, pseudo-christliche Humanitarismus dem wahren Christentum täuschend ähnlich. In Solowjews „Kurzer Erzählung vom Antichrist“ ist der Antichrist ein großer Wohltäter der Menschheit und Philanthrop. Er täuscht in dieser Erzählung fast die gesamte Christenheit, die ihn zu großen Anteilen für einen Heilsbringer hält, der Christus überbietet.

Ich komme aber zunächst zu Gogarten und seinen Thesen von der Mündigkeit des gläubigen Christen, von dessen Rolle als „Sohn“ und „Erbe“ Gottes. Hier lohnt es sich, sich Gogartens zentralen Referenztext zu vergegenwärtigen, den Beginn des vierten Kapitels im Brief des Paulus an die Galater:

„Wir waren, als wir Unmündige waren, unter die Elemente der Welt versklavt; als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz, damit er die loskaufte, die unter dem Gesetz waren, damit wir die Sohnschaft empfingen. […] Also bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott.“

Galater 4,3–7 nach Elberfelder

„Unter die Elemente der Welt versklavt“ – hier ist zunächst die Weltbefangenheit des Menschen „unter dem Gesetz“, also unter den Ordnungen und Mächten der Welt, angesprochen. Aus dieser Befangenheit wird der Christ durch seinen Glauben befreit. Das führt ihn in die Mündigkeit – dieser Begriff, auch ein Zentralbegriff der neuzeitlichen Aufklärung, hat einen christlichen Ursprung. Der Sohn ist (im Unterschied zum Kind) mündig, und er erbt vom Vater dessen Besitz, um darüber zu verfügen. Wenn der Mensch die Welt von Gott „erbt“, dann heißt dies, dass er nun darüber verfügen darf, in Verantwortung vor Gott, aber nach dem Gutdünken der eigenen Vernunft, in Mündigkeit eben. Gleichzeitig ist und bleibt der Sohn begrifflich und in seinem Sein vom Vater her bestimmt, das heißt: Auch oder gerade der gläubige Mensch ist und bleibt Geschöpf und darf sich nicht anmaßen, sich selbst für den Schöpfer zu halten.

Gott verlässt nicht die Welt und den Menschen, aber er entlässt ihn in die Mündigkeit. Er tut das, weil er sich auf das Wagnis der Freiheit des Menschen einlässt – also gerade nicht, weil er die Menschen für missraten hielte, sondern weil er an ihre Möglichkeit zum Guten glaubt. Die Mündigkeit und Unabhängigkeit des Menschen beschränkt sich dabei auf die Sphäre der Welt. Im Blick auf sein Heil oder Unheil, im Blick auf die „letzten Dinge“, ist und bleibt der Mensch radikal vom Schöpfer abhängig. Es ist ein Kennzeichen der entgleisenden Säkularisierung, die auch oder gerade aus der Perspektive Gogartens kritisiert werden muss, dass der Mensch diese Grenze überschreiten und sich selbst zum Schöpfer machen will. Die neuesten biotechnologischen Entwicklungen zeigen dies beispielsweise deutlich.

Literatur

Zöllner, Daniel: Christlicher Glaube und die Krise des Universalismus in Zeiten der Massenmigration. In: Felix Dirsch / Volker Münz / Thomas Wawerka (Hrsg.): Rechtes Christentum? Der Glaube im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken. Graz: Ares 2018. S. 230–247.

Ders.: Das christliche Europa – Kontinent der Säkularisierung. In: Felix Dirsch / Volker Münz / Thomas Wawerka (Hrsg.): Nation, Europa, Christenheit. Der Glaube zwischen Tradition, Säkularismus und Populismus. Graz: Ares 2019.

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