Christentum und Konservatismus – ein Widerspruch? (2)

In der westlichen Hemisphäre befindet sich das Christentum in einer theologischen Krise. Eine Anbiederung an den Zeitgeist sowie ein pseudo christlicher Humanismus zeugen davon. Brauchen wir eine Retheologisierung, die an das Althergebrachte anknüpft? Haben die Atheisten den Menschen ihrer Transzendenz beraubt oder ist diese Verweltlichung im Christentum selbst angelegt?

Die Anbruch-Autoren Beate Broßmann und Daniel Zöllner geben einen Einblick in die Komplexität der christlichen Ideengeschichte. Hier geht es zum ersten Teil.

Broßmann: „Die Neuzeit setzt eine Dynamik frei, die im Christentum selbst angelegt ist.“ Das ist eine Deiner Hauptthesen. Du widersprichst damit der reaktionären Geschichtsdeutung, die die Bewegungsrichtung hin zur menschlichen Autonomie als großen Abfall von Gott und Christus interpretiert. Du begibst Dich damit auf die Seite von Jean-Luc Nancy, der das Christentum als Dekonstruktion, ja sogar Autodekonstruktion bezeichnet, und für den Monotheismus und realisiertes Christentum identisch sind mit Atheismus. Im Glauben an Gott wird ein letzter, zu überwindender Rest mythischen Denkens gesehen. Stemmt man sich als konservativer Christ dann nicht gegen eine quasi naturgesetzliche Eigendynamik und -logik in der Entwicklung der christlichen Religion?

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Zöllner: Mein Aufsatz über Säkularisierung verfolgt zwar die äußersten Ausläufer einer im Christentum angelegten „Autodekonstruktion“, stellt sich aber nicht auf deren Seite, ergreift nicht dafür Partei. Dass das Christentum „autodekonstruktive“ Aspekte besitzt, stelle ich fest und versuche gleichzeitig klar zu machen, dass sie in Balance mit eher hierarchischen, stabilen Aspekten stehen sollten. Das Problem an einem bloß „konservativen“ Christentum ist die Einseitigkeit, mit der es diesen letzteren Aspekten huldigt oder sie für das Eigentliche erklärt. Auf der anderen Seite ist ein „linkes“, rein anarchistisches Christentum nicht weniger einseitig und vermutlich sogar schädlicher.

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Broßmann: Das zeitgeistige Christentum der Gegenwart scheint theologische Grundüberzeugungen zugunsten von ins Fundamentalistische hineinragenden „Werten“ aufgeben zu wollen. Hierarchielose Gleichheit, narzisstischer Individualismus, Feminismus, Genderismus, Pazifismus als ideelle Gebilde einerseits, die Migrationsunterstützung als Praxis andererseits stehen im Widerspruch zu überkommenen kirchlichen Dogmen und Praktiken. Es sieht derzeit global nicht so aus, als könne das Althergebrachte obsiegen. Sollte es das überhaupt? Müßte eine Retheologisierung nicht ebenfalls mit großen Reformen verbunden sein, um ein überzeugendes ethisches und Glaubensangebot an die metaphysisch Obdachlosen auszusenden, will sie der wachsenden Konkurrenz Paroli bieten?

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Daniel: Ich halte nicht viel davon, die Verkündigung des Evangeliums nach Kriterien des „effektiven Marketings“ zu messen. Meine Vermutung aber wäre, dass eine Anbiederung an den Zeitgeist eher Gläubige kostet, als welche dazu zu gewinnen. Es kommt meiner Ansicht nach nicht so sehr darauf an, sich als Kirche an die Zeit anzupassen oder jeder theologischen Modeströmung hinterher zu rennen, sondern sich immer wieder auf den Kern des Christlichen zu besinnen, also auf die Verkündigung des Evangeliums. Dass diese Verkündigung ein Skandalon ist, dass sie viele abschreckt, wird ja bereits in den biblischen Schriften berichtet und vorausgesagt. Es ist also eigentlich nicht überraschend, dass die Welt, in die die Kirche ihre Verkündigung hineinsendet, an dieser Verkündigung Anstoß nimmt und ihr mit Abwehr begegnet.

Das zeitgeistige Christentum beider Konfessionen wählt demgegenüber den bequemen Weg, sich an die herrschenden Ideologien anzupassen, häufig geradezu anzubiedern. Ich wiederhole es noch einmal: In dieser Anpassung an den Zeitgeist erkenne ich die Logik des Antichrist, des Teufels wieder, der schon nach Augustinus Gott „nachäfft“. So äfft der moderne Humanitarismus das wahre Christentum nach, mit all den Folgen, die Du in Deiner Frage nennst. Weite Teile der europäischen Christenheit erkennen gar nicht mehr, dass sie statt des Originals nur eine schlechte Kopie des Christentums „geliefert“ bekommen. Sie halten mittlerweile den pseudo-christlichen Humanitarismus für das wahre Christentum und das wahre Christentum für ein einziges Missverständnis – obwohl es Europa jahrhundertelang geprägt hat.

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Broßmann: Du zitierst zustimmend Carl Schmitt, der postulierte, dass alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien. Es habe also eine Übersetzung religiöser Begriffe ins Weltliche stattgefunden. Aber umgekehrt muß so eine „Übertragung“ auch funktioniert haben. Du schreibst, dass in alttestamentlichen Passagen teilweise wörtlich Texte assyrischer Großkönige kopiert und als Gottesrede ausgegeben worden seien. Eine Transposition des assyrischen Despotismus auf Gott habe stattgefunden. Also gab es auch eine reziproke Übertragung: die von weltlicher Semantik in den Bereich des Religiösen. Nichts anderes besagt Ludwig Feuerbachs religionskritische Schrift „Das Wesen des Christentums“ von 1841, die als „Credo“ des Atheismus gegolten hat. Er dekonstruierte damals das christliche Motiv der „heiligen Familie“ als Hypostasierung der irdischen Familie. Jungfrau Maria, der trinitarische Gott selbst: alles Projektionen, Anthropomorphismen – das hat mich schon während meines Philosophiestudiums überzeugt und in meinem Unglauben bestätigt. Zwar ist Feuerbach sicherlich nicht die hellste Leuchte am Philosophenhimmel, aber dieses Theorem finde ich immer noch plausibel.

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Zöllner: Wenn im Rahmen der Säkularisierung das Weltliche und das Religiöse erst einmal voneinander geschieden sind, findet ein wechselseitiger Austausch zwischen diesen Sphären statt. Feuerbach hat nun darauf hingewiesen, dass alle religiöse Semantik, alle Theologie mit Kategorien des Menschen und der Welt operiert. Seine Schlussfolgerung ist, dass es in der Theologie eigentlich um den Menschen geht, genauer um das vergegenständlichte Wesen des Menschen, dass also Theologie auf Anthropologie reduziert werden kann.

Ich habe aber starke Zweifel, ob Feuerbachs Analysen wirklich diese Schlussfolgerung zulassen. Denn ich habe eine Gegenfrage: Wie sollte man vom Jenseitigen anders reden als in den Kategorien des Menschen und der Welt, des Diesseits? Das Besondere an religiöser Sprache ist die Metaphorik, mit der Weltliches über sich hinaus auf Jenseitiges verweist. Das geschieht mit den Mitteln der Analogie: alle Begriffe bekommen einen veränderten Sinn, wenn ich sie auf die Transzendenz beziehe. Gott-Vater ist etwas anderes als alle irdischen Väter, Gott als König etwas anderes als alle irdischen Könige. Atheisten wie Feuerbach wollen nun Mensch und Sprache ihrer Transzendenz berauben und alles auf die blanke Wörtlichkeit und Immanenz reduzieren – wobei besonders Feuerbach des Glanzes der Heiligkeit ganz und gar nicht entbehren kann, sondern ihn nur auf den Menschen übertragen will. Er reduziert damit nicht die christliche Theologie auf Anthropologie, sondern schafft eine Ersatzreligion, einen Kult des Menschen oder der Menschheit, der in letzter Konsequenz zu dem linksliberalen Humanitarismus führt, über den wir bereits gesprochen haben. Nicht zufällig war auch Feuerbach ein „Linker“.

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Broßmann: Daniel, es gäbe noch viel mehr, das ich aus Deinen Texten herausarbeiten und befragen würde. Vielleicht findet dieses konstruktive Gespräch ja auch eine Fortsetzung. Schließen würde ich für’s Erste gern mit dem von Dir zitierten Paulus-Satz, der es in sich hat und den Wert des Konservativen in der Bibel in Gegnerschaft zum heutigen ultraliberalen Zeitgeist auf den Punkt bringt: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist nützlich; alles ist erlaubt, aber nicht alles erbaut.“ (1 Kor 10,23)

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Literatur

Zöllner, Daniel: Christlicher Glaube und die Krise des Universalismus in Zeiten der Massenmigration. In: Felix Dirsch / Volker Münz / Thomas Wawerka (Hrsg.): Rechtes Christentum? Der Glaube im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken. Graz: Ares 2018. S. 230–247.

Ders.: Das christliche Europa – Kontinent der Säkularisierung. In: Felix Dirsch / Volker Münz / Thomas Wawerka (Hrsg.): Nation, Europa, Christenheit. Der Glaube zwischen Tradition, Säkularismus und Populismus. Graz: Ares 2019.

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