Die realexistierende Dystopie

Über Karin Boyes Roman „Kallocain“.

Die drei für das geistige Leben Europas entscheidenden Science-Fiction-Entwürfe des 20. Jahrhunderts erschienen entweder vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg: Aldous Huxleys „Brave new world“ (1932), George Orwells „1984“ (1948) und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ (1954). Dazwischen, im Jahre 1940, erblickte ein nicht minder bedeutender dystopischer Roman das Licht der Welt: „Kallocain“ von Karin Boye. Dieser ist außerhalb Schwedens zu Unrecht kaum bekannt, obwohl er in zehn Sprachen übersetzt wurde und bereits im Jahr 1947 in Deutschland erschien. Kurz nach der Publikation in Schweden beging die Autorin Selbstmord.

Die Versuchsanordnung des dystopischen Gesellschaftsentwurfs skizziert die Verfasserin wie folgt: Es existieren zwei Reiche auf der Erde: der Universalstaat und der Weltstaat, die einander bekriegen, sich aber nicht wesentlich voneinander unterscheiden. In beiden Reichen – das heißt hier: in der ganzen Welt – sind Staat und Gesellschaft miteinander identisch und treten als Erziehungs- und Überwachungsdiktaturen auf. In unterirdischen Spezialstädten gibt jeder Bürger sein Bestes für die Perfektionierung des Staates (Schuhstadt, Chemiestadt usw.). Der Einzelne und die Familien leben in genormten, totalüberwachten Wohnungen. Die Ehen dienen nur der Fortpflanzung, Gefühle sind verpönt, Kinder kommen bereits mit fünf Jahren in Erziehungslager – daraufhin wird die Ehe im Normalfall annulliert.

Kollektivismus versus Individualismus

Für den dramatischen Bogen sorgt der Umgang mit dem titelgebenden Serum, das die Eigenschaft besitzt, jedermann zum zwanghaften Aussprechen der Wahrheit, oder besser: dessen, was er wirklich denkt, zu verführen. Kall, der Erfinder, dem es in naivem Mitläufertum darum ging, dem Staat bei seiner weiteren Perfektionierung zu unterstützen, indem er die äußere Kontrolle über jeden Menschen durch die innere Kontrolle ergänzt, erlebt den Zauberlehrlingseffekt an sich selbst. Er versteht allmählich, daß es immer einen Rest geben muß, der den Staat nichts angeht und schwenkt damit auf die Seite der Sekte der Reorier um, die bereits aus dem System ausgeschlossen wurden und an eine humanere Form des Zusammenlebens glauben.

Boyes Roman gehört zur sogenannten „Bereitschaftsliteratur“, die seit Ende der dreißiger Jahre in Schweden gefördert wurde, um möglichst viele Leser auf humanistische Werte und die parlamentarische Demokratie einzuschwören. Aber unter den „Bereitschaftsliteraten“ bezog nur Boye ihre dystopische Entlarvung auch auf die heimatlichen Verhältnisse. 

Der Roman ist in ähnlicher Weise antitotalitär wie „1984“. Die Antagonisten sind auch hier Kollektivismus versus Individualismus. Boye portraitiert die Menschenwelt des Dritten Reiches und der kommunistischen Sowjetunion genauso, wie sie vor ähnlichen Tendenzen in ihrem Heimatland warnt: der Rechtsterrorismus drohte durch die Kollaboration Schwedens mit Deutschland, durch die Einkreisung Schwedens von zwei Ländern, die unter deutscher Besatzung standen (Dänemark und Norwegen) und durch hauseigene Bewegungen wie dem „Nationalen Jugendbund“, der u.a. für einen rassereinen Staat eintrat. Zudem wurden Forderungen salonfähig, zum Zwecke der Volksgesundheit mit Zwangssterilisierungen zu arbeiten.

Das „Volksheim“ von rechts

Dabei konnten die Rechten bzw. Rechtsradikalen an ein frühes „Volksheim“-Konzept des konservativen Staatsrechtlers und Politikers Rudolf Kjellén (1864– 1922) anknüpfen. Dieser war einer der prominenten Vertreter des sogenannten Professorenkonservatismus zur Jahrhundertwende in Schweden. Er benutzte 1915 die Metapher des „Volksheimes“ als Sinnbild für Gemeinschaft und Zusammenarbeit, für „nationell gemenskap“ (nationale Gemeinschaft). Sein Ziel war es, Schweden zu „dem glücklichen Volksheim, zu dem es bestimmt ist zu werden“ auszubauen.

Für Kjellén war der liberale Rechtsstaat, der die Union nicht bewahren konnte, überholt. Ziel müsse deshalb sein, ihn zum modernen Machtstaat weiter zu entwickeln. Um sich von den schwedischen Sozialdemokraten abzugrenzen, deren Form von Sozialismus Kjellén eher als Bedrohung der Nation empfand, charakterisierte er den Kollektivismus-Begriff mit Worten wie Organisation und Disziplin und schloß dabei diejenigen übergeordneten Personen oder Institutionen ein, die das Organisieren und Disziplinieren übernehmen. Die Interessen des alle umfassenden Organismus sind denen seiner (Mit-)Glieder übergeordnet.

„Den Umbau der Gesellschaft zum Kollektivismus“ zu lenken war die praktische Umsetzung der Kollektivierung ein nationales Heim unter konservativen Vorzeichen. „Was wir am Kollektivismus schätzen ist nicht die Masse sondern die Organisation, will sagen den Organisator.“ (Kjellén 1915) „Die Gesellschaft ist also eine reale Vielheit voneinander widerstreitenden Interessen, während das nationale Volk eine natürliche Einheit von gleichgearteten Individuen ist.“ (Kjellén 1924) „Die Zukunft gehört der kollektivistischen Idee des Sozialismus mit seiner Betonung der Staatsmacht anstelle des Rechts des Einzelnen.“ (Kjellen 1915) Alle Schweden scheinen Sozialisten gewesen zu sein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Das „Volksheim“ von links

Den linksgrundierten Erziehungsstaat sah Karin Boye aufscheinen in Reformkräften, die das Ideal des „Volksheims“ mit kollektivistischen und gleichmacherischen Methoden verwirklichen wollten und dabei ausdrücklich die Sowjetunion als leuchtendes Vorbild priesen. Das biologistische Verständnis der Volksgemeinschaft als einheitlichen Organismus, des Staats als Körper, des Einzelne als Zelle war ihrer Ansicht nach nicht nur im rechten Denken verwurzelt. „Vom Individualismus zum Kollektivismus – von der Einsamkeit zur Gemeinschaft.“ – dieser Slogan paßte eben auch auf das (scheinbar) ursozialdemokratische und urschwedische Ideal des „Volksheims“: ein übertriebener Glaube an die Unfehlbarkeit von Experten („Sozialingenieure“), der Glaube an die Omnipotenz von Erziehung und an die prinzipielle Gleichheit der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, der von der Erziehung noch gestärkt werden sollte. 

Wie die schwedischen Konservativen sich der Idee des Kollektivismus nicht verschließen konnten, so kopierte die Sozialdemokratie die konservative Orientierung am Nationalismus und sah sich in diesem Zuge nicht mehr als Teil der sozialistischen Weltrevolution. Auch das technokratische Umgehen mit sozialen Reformen verband beide.

Das Standardwerk, das diese Über- Ideologie (weder links noch rechts, sondern im Dienst der Gesellschaft als solcher) repräsentierte, war Kris i befolkningsfrågan (1934) von Alva und Gunnar Myrdal, in dem praktisch jede Seite des menschlichen Lebens berücksichtigt wird, um den Menschen zur ökonomischen Ressource, als Rohstoff im Bau der Gesellschaft zu modellieren. Die drei Ausdrucksformen des Volksheimes waren: Funktionalismus, soziales Ingenieurwesen und Hygiene.

Dahinter verbarg sich das Bild einer Gesellschaft als Maschine, die wenn sie erst einmal funktional zusammengesetzt ist (automatisch), gut läuft – und zwar fortschrittlich, produktiv. Bis auf die Betonung von Familie und Kindern hatte die Gesellschaft bei Myrdals nichts ‚heimeliges‘ mehr; alles wurde auf Funktionalität reduziert, so auch das subjektive Gefühl der ‚Sicherheit‘, die sowohl grundlegende Voraussetzung als auch Produkt dieser Maschine sein sollte. Diese Maschine mußte in Gang gesetzt, in der Anfangsphase kontrolliert und gesteuert werden, bis alle ‚Einzelteile‘ sich einfügten, d. h. staatliches Eingreifen würde erforderlich, auch paternalistisch, gut geplant, denn Planung ist rational, vernünftig und moralisch. Bis ins Detail erarbeiteten die Myrdals die Einflußnahme des Staates auf alle Bereiche des Lebens. Ihr Programm zur bevölkerungspolitischen und damit gesellschaftlichen Erneuerung war entscheidend verantwortlich für die Ausstattung des „Volksheimes“ wie es nach der Machtergreifung der Sozialdemokratie im Jahre 1932 gebaut wurde – mit allen Kompromissen und Zugeständnissen an die Realität, die man in einer formal parlamentarischen Staatsform eingehen muß.

Den sozialen Ingenieuren wurden von den Myrdals Merkmale wie Sachlichkeit, Objektivität und der unsentimentale Blick auf das Dasein sowie die Ablehnung alles Metaphysischen zugewiesen. Ihre Romantik sei die des Ingenieurs – wie man stolz verkündete.

Organisation der Massen

In Bezug auf die Gestaltung des Volksheimes seien die Untersuchungen der Bevölkerungskommission wegweisend, die sich praktisch mit allen Belangen des privaten Lebens befasst. Die Untersuchungen zu den Wohnbedingungen wurden mit dem Ziel geführt, „zu propagieren, richtig zu wohnen“ und gaben detailliert Auskunft über die richtigen Möbel, über Ernährungskunde und die Kunst des Kochens sowie über Bekleidungshygiene. Der Maßnahmenkatalog, mit dem diese Auffassungen vom richtigen Leben durchgesetzt werden sollte, ließ u. a. die Möglichkeit von Wohnungsinspektionen zu.

Die bisherige Umgebung war nicht nur nicht schön, propagierte man, sondern auch ungesund und falsch. Drei Elemente des gesunden Lebens bestimmten das Bild vom guten und richtigen Leben und legen die Bedingungen für den Einordnungsprozess der Menschen in die Gesellschaft fest: Licht, Luft und Reinheit. Sie standen synonym für das Wahre, das Gute und das Schöne, die durch einen gesellschaftlichen Reinigungsprozess verwirklicht werden könnten, den Kampf gegen Dunkel, Schmutz, Gestank, Unordnung, Krankheit. Die Reinigung der Gesellschaft war Teil des vernünftigen Projekts: „Rationalität tritt als eine Art sozialen Exorzismus auf und kann vor dem Hintergrund sozialer Hygiene analysiert werden.“ Die ethischen Aspekte der Hygiene, also die Forderung nach gesunder und richtiger Lebensführung, würden durch technischwissenschaftliche Aspekte der sozialen Praktik ergänzt. Ein wichtiger Aspekt der Reinigung der Gesellschaft war der Bereich der Mentalhygiene, der für die Bereinigung menschlicher Eigenschaften steht. Das sozial wünschenswerte Verhalten würde als Standard normativ festgesetzt, dem man sich einzuordnen hatte. Abweichungen von dieser mentalen Normalität galten als Krankheit, die behandelt werden musste.

Dem stand eine ganzheitliche resp. totalitäre Wirklichkeitsauffassung und ein Bild vom Menschen Pate, der sich nach seinen Möglichkeiten in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einfügte. Das Ziel war, die Menschen an die Voraussetzungen der industriellen Produktion anzupassen.

Das Fundament des sozialen Ingenieurwesens ist der Glaube, dass Wirklichkeit und ihre Anforderungen objektiv feststellbar sind. Nur Politik, die sich auf einer möglichst vollständigen und richtigen  Wirklichkeitserkenntnis gründet, ist rationell. Notwendiger Bestandteil der ökonomischen Technologie bzw. des sozialen Ingenieurwesens mußte deshalb die Volksaufklärung sein, um die Gesellschaft nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Die volkswirtschaftliche und politische Praxis war also auch ein pädagogisches Problem. Die Menschen sollten lernen, die Wirklichkeit richtig wahrzunehmen. Rationalisierung wurde so Teil einer Weltanschauung, die eine besser organisierte Gesellschaft versprach. Politik besteht in dieser rationalen Gesellschaft aus korrekten Prozeduren, die auf objektivierten Regeln basieren. Diese und die anonyme Wissenschaft führen zur Entindividualisierung der Politik, sodass Einzelinteressen hinter dem Vorhang wissenschaftlicher Erkenntnis verschwinden.

Karin Boye mußte diesen Konzepten eines „Volksheims“ nicht viel hinzufügen, um eine veritable Dystopie zu schaffen. Im Jahre 2006 schloß der Autor Dieter Wenk seine Besprechung von Karin Boyes Roman mit dem euphorischen Ausruf, der nur ironisch verstanden werden kann: „Zum Glück haben wir das alles restlos hinter uns gebracht, und stolz verkünden wir, daß jeder seines Glückes Schmied ist.“ 

Literatur

Karin Boye, Kallocain, 1940.

Valeska Henze, Der schwedische Wohlfahrtsstaat. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells, Arbeitspapiere „Gemeinschaften“ Bd. 19, Berlin/Florenz 1999.

Dieter Wen, Heute ist immer anders, online.

Ulrike Nolte, „Kallocain“ als Darstellung der totalen Bedrohung. in: Schwedische „social fiction“. Die Zukunftsphantasien moderner Klassiker der Literatur von Karin Boye bis Lars Gustafsson, Münster 2002.

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