„Die Zivilisation braucht zuerst jedes erdenkliche Mittel, um die Individualität zur vollen Entfaltung zu bringen, jedoch nur, um danach alles daran zu setzen, dass die erreichte Individualität mit Füßen getreten wird.“
Dieser Satz könnte in einem europäischen Buch der Moderne stehen. Er steht jedoch in einem Roman des japanischen Autors Natsume Sōseki, der 1906 in Japan unter dem Titel „Kusamakura“ erschien. Im Nachwort gibt der Übersetzer Christoph Langemann Auskunft über die Schwierigkeit, diesen Titel ins Deutsche zu übertragen. Der japanische Begriff bedeute wörtlich „Gras-Kopfkissen“, es handle sich um einen poetischen Topos, der auf die Einsamkeit der Natur verweise, auf einen Wanderer, der nachts seinen Kopf nicht auf ein Kissen, sondern auf Gras bettet. Der Ich-Erzähler von „Kusamakura“ ist ein Kunstmaler, der seine Heimatstadt Tokyo verlassen hat, um pittoreske Motive zu suchen und Abstand zur modernen Massengesellschaft zu gewinnen. So ist die Kritik an der modernen Zivilisation nur hintergründig präsent. Sie bildet eine Art Negativfolie, der die Schönheit der Natur, der traditionellen japanischen Kunst- und Gebrauchsgegenstände, Bräuche und Nahrungsmittel entgegengehalten wird.
Kennzeichnend für den Ich-Erzähler ist sein Versuch, sich in eine „ästhetische Existenz“ einzuüben und Distanz zu den menschlichen Leidenschaften zu wahren. „Plötzlich war mir, als sähe ich mich selbst über eine bemalte Leinwand gehen“, stellt der Ich-Erzähler an einer Stelle fest, und genau diese Art der Wahrnehmung ist auch sein Ziel. Selbst die von seinen Gastgebern zum Tee servierten Süßigkeiten schätzt er vor allem aufgrund ihres ansprechenden Äußeren und nicht etwa deshalb, weil sie wohlschmeckend sind. Er schreibt zudem: „Auch schreckliche Dinge können poetisch sein, wenn man sie ganz einfach von außen als schrecklich ansieht, und Furchterregendes kann ein Bild abgeben, wenn man sich von sich selbst distanziert und es nur als das betrachtet, was es ist.“ Nachdem der Ich-Erzähler Gast in einem Kurort geworden ist, flirtet er mit der Tochter des Wirts, genießt dabei aber vor allem den „poetischen Reiz“ einer in Andeutungen wahrnehmbaren Erotik, ohne auf näheren Kontakt zu der jungen Frau namens Onami zu drängen. Auch hier versucht der Maler, seinen Idealen der Abgehobenheit, der Distanz und der rein ästhetischen Wahrnehmung treu zu bleiben. Als Onami, von Dämpfen umhüllt, zu ihm ins Bad steigt, ist sein Hauptgedanke, dass dies ein schönes Bildmotiv abgeben würde. Es kommt zwischen den beiden im Verlauf des Romans auch niemals zu physischen Intimitäten.
Nicht nur auf westliche Leser wirkt der Mangel an Geschehen und Charakterentwicklung, der eher statische Charakter von „Kusamakura“ irritierend. Der Autor rechtfertigte sich nach der Veröffentlichung seines Romans gegenüber Kritikern in einem kurzen Text, den der Übersetzer im Nachwort auf Deutsch wiedergibt. Natsume Sōseki schreibt darin, das einzige Ziel beim Schreiben seines „Kusamakura“ sei es gewesen, im Leser „eine gewisse Stimmung, eine Empfindung des Schönen“ zu wecken und „alles Schmutzige und Unerfreuliche“ zu vermeiden. Dafür habe er sogar in Kauf genommen, dass manche Leser das Buch als langweilig empfinden würden. Wer das Buch liest, wird bemerken, dass der Autor sich beim Schreiben keineswegs immer an seine später formulierte Maxime gehalten hat, alles Schmutzige und Unerfreuliche zu vermeiden. Insbesondere der Aufenthalt des Ich-Erzählers bei dem groben und wahrhaft kratzbürstigen Barbier des Kurortes gestaltet sich alles andere als angenehm und erfreulich. Doch es sind gerade diese Zwischentöne, die verhindern, dass der Roman zum naiven illusionistischen Idyll herabsinkt. Hervorzuheben ist neben dem leisen Humor die häufig wahrnehmbare Ironie und das immer präsente Bewusstsein, dass für den Menschen eine rein ästhetische Existenz immer ein unerreichbares Ideal bleiben wird.
Erstaunlich und besonders für den westlichen Leser äußerst reizvoll sind die Parallelen zwischen „Kusamakura“ und der europäischen Literatur aus der Zeit der Jahrhundertwende. Man kann den Maler aus „Kusamakura“ als eine japanische Variante des Flaneurs ansehen, auch wenn sich seine Betrachtungen nicht (wie die der europäischen Flaneure) auf das Leben der Großstadt, sondern größtenteils auf die Natur beziehen. Im Nachwort nennt Christoph Langemann einige europäische Vorbilder und Parallelen: Baudelaire, Huysmans, Wilde … Auch ein neueres Werk wie Peter Handkes „Versuch über den geglückten Tag“ von 1991 weist eine erstaunliche Nähe zum „Graskissenbuch“ auf.
Natsume Sōseki war durch eigene Lektüre und durch einen längeren Aufenthalt in England mit der europäischen Literatur vertraut. Dennoch ist „Kusamakura“ alles andere als ein Abklatsch europäischer Vorbilder. Der Roman schöpft vielmehr wesentlich aus dem Eigenen der japanischen Kultur, besonders aus den Traditionen des Zen-Buddhismus, der Kalligraphie, des Haiku und des Nō-Spiels, ebenso wie aus dem Erbe der chinesischen Poesie. Man kann dem Übersetzer zustimmen, wenn er den Roman im Nachwort einen „Kristallisationspunkt verschiedener Widersprüche“ nennt: Tradition und Moderne, Westliches und Östliches, Rationalität und Emotionalität spielen in dem Roman ineinander.
Mit seiner feinsinnigen Kritik an der modernen Massenkultur, seinen Darstellungen der Aporien einer ästhetischen Existenz, besonders aber mit seinen Naturbeschreibungen, die gerade für westliche Leser einen herzbezwingenden exotischen Reiz besitzen, ist „Kusamakura“ auch heute noch lesenswert. Auch wenn der Autor (durchaus bewusst) nicht immer das Schmutzige und Unerfreuliche vermieden hat, ist es ihm doch gelungen, eine anhaltende Empfindung des Schönen im Leser zu wecken. Der Mut zur Schönheit um der Schönheit willen ist inmitten moderner Orgien der Hässlichkeit sehr unzeitgemäß, aber ebenso notwendig.
Natsume Sōseki: Das Graskissenbuch. Übersetzt von Christoph Langemann. Berlin: Bebra-Verlag 2020.