Es gibt ein Distichon von Schiller („Die Sprache“), dessen zweiter Vers lautet: „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“ Die Sprache bringt die Seele in Widerspruch und Distanz zu sich selbst, indem sie ihr ein Bewusstsein ihrer selbst gibt und ihre lebendigen Regungen in die Konventionen der Worte und Sätze kleidet. Daraus folgt, dass der Mensch sich durch die Sprache über das Leben, besonders über das Leben der eigenen Seele, erhebt, sich von der Natur abgrenzt und ihr gegenübertritt.
Diesen neuzeitlichen europäischen Gedanken muss man gänzlich beiseite lassen, wenn man ein Haiku verstehen will. Im Haiku ist die Sprache des Menschen als eine Äußerung der Natur zu verstehen, als eine unmittelbare Aussprache der Seele des Menschen, die von der Seele der Bäume, Blumen, Tiere und Gewässer nicht zu trennen ist.
Auch in der Philosophie des Zen-Buddhismus von Byung-Chul Han findet sich diese Deutung der Haiku-Dichtung. In einem Abschnitt dieses Buches, den man als „kleine Philosophie des Haiku“ bezeichnen könnte, heißt es, das Dichten des Haiku gehe weder vom Subjekt noch vom Objekt aus, das Haiku sei „weder ‚personal‘ noch ‚impersonal‘.“ (Philosophie des Zen-Buddhismus, S. 80.) Dieses Weder-Noch lässt sich positiv so ausdrücken: Das Haiku zeigt einen „natürlichen“, also in die Natur eingebetteten Menschen und eine „menschliche“, also den Stimmungen des Menschen entsprechende Natur. Das heißt, dass im Haiku die Natur nicht als Projektionsfläche menschlicher Affekte dient, sondern sich Natur und Mensch in ihrer noch ungeschiedenen Einheit gemeinsam aussprechen.
Die europäische Poesie ist seit Petrarca einen anderen Weg gegangen, indem sie die Landschaft als einen dem Subjekt gegenüberstehenden Projektionsraum verwendet hat, wie es Karlheinz Stierle im Nachwort zu seiner Übersetzung einer Auswahl aus dem Canzoniere beschreibt: „Im Innenraum einer in sich entzweiten, unruhigen Subjektivität verdichtet sich die Epiphanie der Laura zur Gestalt, die dem einsam in der Landschaft einhergehenden Ich erneut entgegenzutreten scheint. So wird die mit subjektiver Erregung aufgeladene Landschaft gleichsam (l)auratisiert. Je mehr sich die Geliebte der Kommunikation versagt, desto mehr tritt die Landschaft an ihre Stelle und wird zum Partner eines imaginären Dialogs. Petrarca setzt damit den Anfang einer Dichtung der subjektivierten Landschaft als Projektionsraum des einsamen Ich, die zu einem wesentlichen Element der neuzeitlichen Lyrik in Europa werden sollte.“ (Canzoniere, S. 260f.) Dieser Gegensatz zwischen „fernöstlicher“ und „europäischer“ Dichtung tritt dem aufmerksamen Leser der Haiku-Übersetzungen Dietrich Krusches deutlich vor Augen. Als Beispiel zitiere ich eines der bekanntesten Haiku des Altmeisters Bashō in der Übersetzung von Krusche (S. 48):
Der alte Teich.
Ein Frosch springt hinein –
das Geräusch des Wassers.
Reich an Erkenntnissen ist das Nachwort des Übersetzers. Er stellt fest, dass das Haiku die Einheit von Mensch und Natur voraussetzt: „[D]er Mensch, der sie sieht und sagt, gehört mit den Dingen der Natur in einen und den gleichen Zusammenhang des Seins hinein. Die Realisierung dieser Einheit geschieht nicht über Erkenntnis, sondern über unmittelbare konkrete, das heißt sinnliche Erfahrung.“ (117) Durch die Überwindung des Gegensatzes zwischen Mensch und Natur zielt das Haiku wie ein Fechthieb oder ein Bogenschuss auf das Ganze: „Indem es im besonderen Augenblick die ganze Zeit, am besonderen Ort das Überall, in einem Ding das ganze Sein und in einem Ereignis, einer Situation das ganze Leben sucht, will es nicht weniger sein als eine ‚konkrete Formel‘ der Welt.“ (118)
Aus diesem zugrundeliegenden Weltverständnis und diesen Zielen sowie den daraus folgenden ästhetischen Normen ergeben sich zwanglos die Eigenschaften des gelungenen Haiku: seine äußerste Kürze in der Beschränkung auf siebzehn Silben, sein Verzicht auf Pathos und auf eine Ausdeutung der beschriebenen Konstellation, und nicht zuletzt die folgenden drei Regeln, die sich in der Geschichte der Haiku-Dichtung entwickelt haben (vgl. 116): Das Haiku sollte ein nicht-menschlichen Naturgegenstand erwähnen; die beschriebene Konstellation sollte einmalig sein; und sie sollte als gegenwärtig, nicht aus der Erinnerung rückblickend, dargestellt werden.
Die Kunst des Haiku-Dichtens besteht nun nach Krusche darin, „zwischen der Skylla des Stereotypen und der Charybdis des Beliebigen“ (120) hindurchzusegeln, oder anders ausgedrückt: im Einmaligen das Allgemeine, im Einzelnen das Ganze zu finden.
In seinem Nachwort geht Krusche auch auf die sozialen und religiösen Hintergründe der klassischen Haiku-Dichtung ausführlich ein. Sie konnte ihm zufolge nur in einer stabilen, streng hierarchischen Gesellschaftsordnung gedeihen, konkret im Japan der Tokugawa-Zeit (1603–1868 nach unserer Zeitrechnung). Nur in einer solchen Gesellschaft seien der Sinn für Konventionen, Traditionen und deren kleinste Abwandlungen ausgeprägt genug gewesen, um das Phänomen der genialen Haiku-Dichtung zu ermöglichen. Und nur in einer solchen Gesellschaft wurden auch die Dinge als beständig und in sich ruhend erfahren, sodass der Dichter sie einfach beschreiben konnte, wie sie sind, und gerade dadurch menschliche Stimmungen evozierte.
Den religiösen Hintergrund der klassischen Haiku-Dichtung bildete nach Krusche vor allem der Zen-Buddhismus. Im Zen findet sich die (auch haikutypische) Ausrichtung auf die Aufhebung der Gegensätze sowie auf das Konkrete, in dem blitzartig das Ganze gefunden werden kann. „Zen lehrt, daß Erleuchtung erfahren wird in einem Blitz der Intuition, augenblicks ganz – nicht durch Arbeit des Bewußtseins, Studium theologischer Lehren oder Befolgung mönchischer Lebensregeln.“ (134)
Zu den Voraussetzungen der Haiku-Dichtung gehört ebenso die japanische Sprache (vgl. 130–133): Das Japanische ist eine parataktische, keine hypotaktische Sprache; es gibt darin keine Flexion der Nomina, und Verben zeigen nur die Zeitstufe an, aber keine Person und auch kein Plural oder Singular. „Das bedeutet, daß die Verknüpfung der einzelnen Worte untereinander gleichsam loser ist als in einem Satz indo-europäischer Sprachen. […] So mehr assoziativ als grammatisch-logisch verbunden, behaupten die Worte ihr Eigenrecht stärker, sind nicht eingeordnet in einen alles bezwingenden, alles miteinander in Beziehung setzenden Aussagebogen.“ (130) Diese Eigenschaften der japanischen Sprache begünstigen die Apersonalität des Haiku und seine Darstellung einmaliger Konstellationen, deren Momente nebeneinander stehen können, ohne in einen übergreifenden Zusammenhang geführt zu werden und die gerade darin das Ganze der Natur zum Ausdruck bringen.
Die Eigenheiten des Japanischen muss man natürlich berücksichtigen, wenn man ein Haiku in Übersetzung liest. Krusche betont, dass das Haiku in den Augen eines Europäers stets in Gefahr ist, missverstanden zu werden – wenn es denn überhaupt als ein „Etwas“ gewürdigt wird und nicht vielmehr als nichtssagend oder irrelevant abgetan wird. Nach Krusche kann man so weit gehen zu sagen, dass derjenige, der ein Haiku verstünde, auch Japan verstehen würde (vgl. 146). Dies aber dürfte für einen Deutschen fast unmöglich sein angesichts einer Kultur, die nicht nur von anderen als hermetisch verschlossen und geheimnisvoll wahrgenommen wird, sondern sich sogar selbst so versteht.
Dennoch kam mir beim Lesen der Gedanke, dass auch ich als Deutscher des 21. Jahrhunderts in einem Teil meines Herzens Haiku-Erfahrung gesammelt haben könnte, und dass die japanischen Haiku mir vielleicht gar nicht so fremd sind wie Krusche suggeriert.
Literatur
Haiku. Japanische Gedichte. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Essay herausgegeben von Dietrich Krusche. 13. Aufl. München 2012.
Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhismus. Stuttgart 2002.
Francesco Petrarca: Canzoniere. Übersetzung und Nachwort von Karlheinz Stierle. Berlin 2011.