Joris-Karl Huysmans (1848-1907) Werk, das in Frankreich zum intellektuellen Erbe zählt und in Deutschland kaum bekannt bzw.wenig übersetzt ist, überzeugt durch eine frühe Wahrnehmung des Unbehagens an der Moderne.
Die andauernde Frustration angesichts der Banalität des Alltags und der Mittelmäßigkeit in der Massengesellschaft, das Gefühl der spirituellen Unbehaustheit im Zeitalter des Rationalismus, Positivismus und des Geldes, das Gefühl, dass Europa kulturell am Ende ist und einer geistigen Infusion, einer Erneuerung bedarf. Denn der Schriftsteller hat bereits zu Beginn der Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an einem Phänomen gelitten, das erst im 20. Jahrhundert zu wahrhaft existenzieller gesellschaftlicher Relevanz gelangte und bis heute andauert: der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, wie Georg Lukacs den geistigen Zustand der Individuen in der spätbürgerlichen westlichen Gesellschaft bezeichnete.
Huysmans wurde am 5. Februar 1848 in Paris geboren. Er ist zeitlebens ein leidenschaftlicher Städter geblieben, auch wenn er bereits in jungen Jahren einen Sinn für die Verelendung großer Bevölkerungsteile, für die Scheußlichkeiten und Nachtseiten seiner Heimatstadt entwickelt hat und diese in seinen frühen Büchern mit unbestechlichem, aber auch neugierigem und unsentimentalen Blick beschrieb. Als Beamter im Ministerium des Inneren führte er zunächst ein unauffälliges bürgerliches Leben – frei von religiösem Glauben und ohne Beziehung zur Kirche. So schilderte Huysmans in seinen ersten Romanen, die ganz dem Naturalismus Zolas verschrieben waren und nüchterne Sittengemälde darstellen, beispielsweise das Schicksal von Prostituierten (Marthe) oder das trostlose Alltagsleben eines einsamen Junggesellen und Ministeriumsangestellten, der nicht genug verdient, um sich eine gute Zugehfrau leisten zu können (Monsieur Folantin).
In seinen Pariser Skizzen blickt er mit den Augen eines Wissenschaftlers auf menschliche Rohheit und Bestialität. In der Erzählung Dilemma geißelt er die Hartherzigkeit des Bürgertums, wenn er eine schwangere Näherin, deren bürgerlicher Liebhaber gestorben ist, ohne die geringste finanzielle Unterstützung auf der Strecke bleiben läßt. In Trugbilder macht er Ehe, Junggesellendasein und künstlerische Verwirklichung zum Gegenstand eines Romans. Soweit, so bürgerlich-realistisch, aber nicht unikal im Vergleich zu bspw. Balzac und Zola.
Aber dann kam die Wende – in Huysmans‘ Leben und in der Folge in seinem Werk. 1884 zog er noch einmal alle Register weltlichen Lebensgenusses, die nur auf Kosten der sozialen Zugehörigkeit auszureizen waren: In seinem Roman À rebours (Gegen den Strich), der Huysmans berühmt und auch im Ausland bekannt machte und als Bibel der Dekadenz galt, läßt er den Aristokraten Jean Floressa Des Esseintes in einer abgelegenen Villa bei Paris einsame Orgien des Ästhetizismus zelebrieren: Der von der zeitgenössischen Kultur und Lebensweise und seinem eigenen Dandytum Angeekelte buchstabiert Nacht für Nacht die Heiligtümer wahrer Kunst durch, wobei ihm keines der herbeigeschafften Artefakte zu teuer ist. Einmal sind es die Blumen, ihr Duft und ihre Steigerung in Kunstblumen, die er genießt und vor sich selbst referiert. Ein anderes Mal sind es alkoholische Getränke, Parfüms, Edelsteine. Dann ruft er sich die Werke der Literatur und der Musik ins Gedächtnis, jene, die ihn bereichert haben und andere, die er inzwischen für belanglos oder gescheitert hält. Die ganze Palette europäischer Kunst wird auf diese Art im Laufe des Romans aufgerufen und auf ihre Affizierung der Sinnesorgane und des Geistes hin abgetastet. Oscar Wilde ging im Roman Das Bildnis des Dorian Gray voller Bewunderung auf Des Esseintes ein. Mallarmé reagierte 1885 mit dem Langgedicht Prose pour Des Esseintes. Und Huysmans Kollege Jules Barbeyd’Aurevilly, dessen Werke im Roman selbst vom Protagonisten bewertet werden, sah nach der tour de force von À rebours nur noch eine Perspektive für den Schriftsteller Huysmans: die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes.
Der positivistische Ästhetizismus hatte sich am Ende des Buches erschöpft, den dekadenten Adligen an den Rand der geistigen Umnachtung gebracht und um Erlösung von einem Gott flehen lassen. Huysmans selbst suchte wohl diese Erlösung von Überdruß und Weltekel, die sich immer wieder in seiner Rationalismus- und Zivilisationskritik ausdrückte, und es gelang ihm nicht, sich und sein Leben in nichtreligiösen Sphären (Sinnlichkeit, Kunst, Geist, Natur) zu verankern. Er benötigte eine höhere Idee, und die fand er schließlich nur im christlichen – namentlich katholischen – Glauben, ohne dass dadurch sein Skeptizismus sofort oder überhaupt je außer Kraft gesetzt worden wäre. Er scheint noch Jahre von Selbstzweifeln und –hinterfragungen geplagt worden zu sein. Ob er jemals in ihm zur seelischen Ruhe gekommen ist, ist nicht mit Gewißheit zu sagen.
Seine fünf letzten Romane zeichnen den Weg des Alter Ego Huysmans‘, des Schriftstellers Durtal, in die katholische Transzendenz nach. Der erste Band (Là-bas) befasst sich mit Satanismus, dem Okkultismus und schwarzer Magie, also der Kehr- oder Schattenseite des Katholizismus, die in dieser Zeit eine Art weltanschaulicher Mode darstellten. Sie beschäftigten und faszinierten Huysmans auch schon aus ästhetischen Gründen, konnten ihn aber offenbar nicht dauerhaft fesseln oder gar überzeugen. Er brauchte eine „positive“ Transzendenz. Die negative der mittelalterlichen Häretiker befriedigte ihn offensichtlich nicht – vielleicht weil er von der inhärenten starken Rolle der Sexualität abgestoßen war. Immerhin hat er zwischen der Kathedrale und dem Oblaten noch ein Büchlein über Gilles de Rais, den Blasphemiker, Sadisten und Mörder in Ekstase geschrieben, mit dem er sich bereits in Tief unten beschäftigt hatte.
Der zweite Band (En route) schildert Durtals erste Schritte auf dem Weg zu einem eigenen katholischen Glauben, sein Ringen und seine Zweifel. Mittler ist einmal mehr die Kunst: die Sakralmusik in Form des Cantus planus und des Gregorianischen Gesangs.
Von der zentralen Rolle der Kunst bei Huysmans Konversion zeugt auch der dritte Band (La cathédrale). Er ist eine Hymne auf die Architektur und christliche Symbolik der Kathedrale von Chartres. L’oblate beschreibt das Leben Durtals als Laienbruder – nicht ohne von andauernden inneren Kämpfen zu berichten. Kurz vor Huysmans‘ Tod erschien dessen letzter Roman Les foules de Lourdes, das als fromm gilt und dem Dichter wohl den Weg in den Himmel ebnen sollte.
Zuvor, 1905, veröffentlichte Huysmans noch eine Kunststudie zu Matthias Grünewald und dessen Issenheimer Altar. Interessant hierbei ist, dass trotz des religiösen Stoffes und der offiziell erfolgten Konversion Huysmans‘ zum Katholizismus um 1898 (und den sich anschließenden Klosteraufenthalten und sein Leben als Oblate ab 1900) keinerlei religiöse Schwärmerei darin zu finden ist, sondern eine nüchtern-analytische, von Begeisterung getragene Darstellung und Interpretation des Altars. Der Naturalismus Grünewalds hat es ihm angetan, der den Tod am Kreuz im Gegensatz zu den bisherigen idealtypischen Darstellungen nun als Martyrium von am Antoniusfeuer Erkrankten erscheinen lässt, wobei die Kranken des Issenheimer Hospitals die visuell brutalen Modelle abgegeben haben sollen. Also auch in religiösen Fragen legte Huysmans seinen radikalen Ästhetizismus und Positivismus nicht ab. Seine Spiritualität wurzelte eher in der Kunst denn in einer heiligen Erzählung.