Protreptikos (II): Die Seele

Von Anfang an begegnet uns in der philosophischen Tradition Europas immer wieder die Frage nach der Natur der Seele (gr. psychē). Sie ist bereits Gegenstand orphischer, pythagoreischer und vorsokratischer Lehren und bleibt von der Antike bis in die Renaissance ein zentrales Anliegen der Philosophie. Doch wie können wir überhaupt etwas über die Seele in Erfahrung bringen, die doch gewissermaßen zugleich Subjekt und Objekt solcher Untersuchungen ist? Ein erster Schritt, um der (Selbst-)Erkenntnis von der Seele und damit auch vom Wesen des Menschen näher zu kommen, liegt in ihrer Unterscheidung von zwei weiteren Dimensionen des menschlichen Daseins: dem Körper (gr. sōma) und dem Geist (gr. nous).

Seele und Körper

Im Gegensatz zum Körper ist die Seele als solche nicht sichtbar und kein Gegenstand unserer sinnlichen Wahrnehmung. Sie befindet sich nicht an einem bestimmten Ort, nimmt keinen Raum ein und lässt sich deshalb auch nicht zerteilen oder messen. Trotzdem hat die Seele auf irgendeine Art Gemeinschaft mit dem Körper, auch wenn sie sich nicht mit einem seiner Teile identifizieren lässt. Erst durch die Seele werden die unzähligen Elemente des Leibes überhaupt zur organischen, wachsenden Einheit verbunden, sodass ein Körper im Laufe der Zeit seine Identität bewahren kann, obwohl seine materiellen Bestandteile ständig ausgetauscht und neu geordnet werden. Die Seele erscheint dabei als organisierendes Prinzip, das die Ganzheit des Körpers ermöglicht. Erst wenn sie den Leib verlässt, verliert dieser die Fähigkeit zur selbständigen Regeneration und damit auch bald seine Form. Das ist es, was wir den Tod nennen.

Wo die Seele anwesend ist, treffen wir hingegen stets das Leben an. Der lebendige, beseelte Körper unterscheidet sich vom unbeseelten in erster Linie durch seine Fähigkeit zur Selbstbewegung: Im Gegensatz zu leblosen Mineralien tragen Pflanzen, Tiere und Menschen das Prinzip ihrer Veränderung in sich selbst, auch wenn diese Autonomie in den verschiedenen Gattungen und ihren Individuen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Die Kehrseite zu dieser lenkenden Funktion der Seele ist ihre Anteilnahme am Leiden des Körpers. Jede Verletzung manifestiert sich seelisch als Schmerz, jeder Mangel als Bedürfnis. Ein großer Teil unseres seelischen Lebens ist deshalb mit der Sorge um den Körper beschäftigt. Die Seele neigt sich gewissermaßen zum Leib herab, identifiziert sich mit seinen wandelbaren Zuständen und läuft deshalb auch stets Gefahr, vom Schicksal ihres Körpers mitgerissen zu werden. Diese Ambivalenz ist jeder Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Körper und Seele inhärent.

Seele und Geist

Die Eindrücke, Emotionen und Erfahrungen einzelner Individuen sind von Natur aus vielfältig und verschiedenartig. Trotzdem kommen in allen (menschlichen) Seelen auch Dinge vor, die unabhängig von individuellen Umständen Bestand haben. Eins plus Zwei bleibt Drei, egal wo, wann und von wem diese Rechnung gedacht wird. Den Teil in uns, der diese ewig gültigen Wirklichkeiten erkennt, nennen wir den Geist (teilweise wird der griechische Begriff nous auch mit „Intellekt“ übersetzt, was im modernen Sprachgebrauch jedoch für Verwirrung sorgen kann). Wenn sich die Seele aktiv bemüht, zu solcher geistigen Erkenntnis zu gelangen, dann denkt sie. Nun sind die Fähigkeiten zum Denken und Erkennen von Wahrheit aber in den einzelnen Individuen unterschiedlich stark ausgeprägt und auch der schärfste Denker befindet sich nicht 24 Stunden am Tag in reiner Kontemplation. Die Seele hat also offensichtlich nicht immer im gleichen Maß Anteil am Geist, auch wenn die Gegenstände, die vom Geist erkannt werden, sich selbst stets gleich bleiben.

Platon vergleicht die Aktivität des Geistes mit einer Kugel, die sich um sich selbst dreht, ohne ihren Ort zu verändern (Nomoi, 898b). Der Seele ordnet er die Kreisbewegung zu, die einen Mittelpunkt umwandert und stets zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt (Timaios, 36c). Verbindet man diese beiden Bilder, so könnte man das Verhältnis von Seele und Geist mit einem Planeten vergleichen, der die Sonne umkreist: Je nachdem, wie weit dieser Planet von seiner Sonne entfernt ist, empfängt er ihr Licht unterschiedlich stark und ein gewisser Teil bleibt stets in seinem eigenen Schatten. So umkreist auch die Seele den Geist und nähert sich ihm von Zeit zu Zeit, ohne dabei jedoch restlos in ihm aufzugehen. Der Geist ruht dabei als ewige Lichtquelle in sich selbst.

„Immer wieder wenn ich aus dem Leib erwache in mich selbst; […] nach diesem Stillestehen im Göttlichen, wenn ich da aus dem Geist herniedersteige in das Überlegen – immer wieder muss ich mich dann fragen: wie ist mein jetziges Herabsteigen denn möglich? Und wie ist einst meine Seele in den Leib geraten, die Seele, die trotz dieses Aufenthalts im Leibe mir ihr hohes Wesen eben noch, da sie für sich war, gezeigt hat?“ – Plotin

Die Mittelstellung der Seele

Es scheint, als ob die Seele ihrem Wesen nach eine Art Zwischenstellung zwischen den Polen des wandelbaren Körpers und des unwandelbaren Geistes einnimmt. Sie berührt beide, ohne ganz mit ihnen identisch zu sein, und kann deshalb auch die Rolle der Vermittlerin zwischen den Extremen spielen. Gerade am Menschen, der seine materielle Umwelt anhand geistiger Erkenntnis aktiv gestaltet und ordnet, wird diese Mittelstellung offenbar. Aus diesem Grund ist es auch nicht überraschend, dass die menschliche Seele in sich nicht völlig homogen ist, sondern sich durchaus verschiedene Bestandteile oder Ebenen in ihr identifizieren lassen. Diese lassen sich danach unterscheiden, ob das jeweilige Vermögen der Seele eher dem Geist oder dem Körper zugeneigt ist: Während unsere flüchtigen, persönlichen Begierden und Ängste größtenteils vom Körper herrühren, führt unsere Fähigkeit zum logischen Denken in die Nähe des Geistes, wo unsere individuellen Umstände zunehmend an Bedeutung verlieren. Zwischen den Beiden steht das, was im Griechischen thymos heißt und sich am ehesten als leidenschaftliches Streben nach Gerechtigkeit und Anerkennung beschreiben lässt. Das richtige Verhältnis zwischen diesen drei Seelenteilen zu finden und immer wieder herzustellen gehört zu den wichtigsten Zielen der philosophischen Reflexion und Lebensführung.

Doch ist die Seele an sich nun sterblich wie der Körper oder hat sie irgendeine Art von unauflösbarem Bestehen wie der Geist? Oder liegt die Antwort auch in dieser Frage irgendwie dazwischen? Unsere natürlichen Bedürfnisse wie Hunger, Geschlechtstrieb, usw. lassen sich wohl kaum als unsterblich bezeichnen, da sie ihre Motivation im Leben des Körpers haben; wo dieser nicht mehr da ist, kommen auch sie nicht mehr vor. Doch wenn die Seele auch etwas anderes als der sterbliche Leib und die Ursache allen Lebens ist, dann lässt sich eine vollständige Auflösung der Seele kaum denken. Möglicherweise sind also nicht alle Teile, die wir zur Seele zählen, unsterblich, sondern nur diejenigen, die eine Verwandtschaft mit dem Geist haben. Letztlich gibt es hierüber kein empirisches Wissen und keine endgültige Gewissheit. Trotzdem können unsere Antworten auf diese Fragen und der Glaube hieran eine enorme Bedeutung für unser Leben entfalten.

Die Sorge um die Seele

Aus den oben dargestellten, grundlegenden Gedanken zum Wesen der Seele lassen sich bereits einige entscheidende Schlüsse für unser Leben ziehen: Wenn die Seele dem Körper tatsächlich in gewisser Weise übergeordnet ist, dann wäre es nur folgerichtig, wenn wir der Sorge um unsere Seele den Vorrang vor der Sorge um den Leib einräumen. Doch was bedeutet es, für die Seele zu sorgen? Nach traditioneller Vorstellung ist die menschliche Seele gut, wenn sich ihre Bestandteile im richtigen Verhältnis zueinander befinden. Die Herstellung dieser inneren Ordnung ist nichts anderes als das Einüben von Tugend. Da Daniel Zöllner bereits an anderer Stelle eine großartige Einführung zu den vier klassischen Kardinaltugenden gegeben hat, begnüge ich mich hier mit einem Verweis auf diese Beiträge.

Die Unterscheidung zwischen Körper und Seele birgt jedoch auch die Gefahr, in den Dualismus abzugleiten. Hat man einmal den Vorrang der Seele akzeptiert, fällt es allzu leicht, den Körper nur noch als Hindernis zu betrachten und nach einer asketischen Flucht vor dem konkreten, verkörperten Dasein zu streben. Diese Ambivalenz prägte auch die antike Philosophie und Esoterik und findet ihren krassesten Ausdruck in der Weltverachtung gnostischer Sekten, die sowohl von orthodoxen Christen als auch von heidnischen Philosophen wie Plotin entschieden zurückgewiesen wurde. Auf gewisse Weise begegnet uns die Verachtung der natürlichen Welt und des sterblichen Körpers heute wieder in den Visionen transhumanistischer Intellektueller, die von einer Überwindung der Sterblichkeit durch die Technik oder der Integration des Menschen mit einer von ihm geschaffenen künstlichen Intelligenz träumen. Diese Neuauflage „gnostischer“ Denkmuster im materialistischen Gewand zeigt deutlich, wie unsere Vorstellungen von der Natur der menschlichen Seele und ihrem Verhältnis zum Körper im Angesicht der modernen Technik neue Bedeutung gewinnen können. Die philosophische Bejahung des Todes, wie sie Platon im Phaidon seinem Sokrates in den Mund legt, erscheint dabei als krasses Gegenstück zur Flucht vor der Vergänglichkeit in die Künstlichkeit.

So wie die Tugend in der richtigen Ordnung der verschiedenen Seelenteile besteht, kommt es auch im Verhältnis von Körper, Seele und Geist darauf an, dass jedem Teil der ihm gebührende Rang zukommt, ohne dabei die Wirklichkeit oder Bedeutung der niederen Ebenen zu verneinen. Für die Seele bedeutet das, ihrer Mittelstellung gemäß, Verantwortung für den ihr zugeordneten Körper zu übernehmen, ohne dabei das Ganze aus dem Blick zu verlieren oder ihren eigenen Ursprung zu vergessen. Das mag wie eine abstrakte oder rein poetische Formel klingen. Tatsächlich bewegen wir uns jedoch in jedem Moment unseres Lebens im Spannungsfeld dieser verschiedenen Pole und unsere Entscheidungen sind unmittelbare Konsequenzen jener Verhältnisse: Lassen wir unser Handeln trotz besseren Wissens von unserem Hunger nach Lust oder Sensation leiten? Stellen wir unseren individuellen Stolz über das Wohl einer Gemeinschaft, der wir angehören? Vermeiden wir jede Art von Risiko und Gefahr, weil wir ein vermeintliches Nichts jenseits der Schwelle des Todes fürchten? Mit der bewussten Bewältigung solcher Lebenssituationen beginnt unsere Sorge um die Seele und das, was Pierre Hadot die „spirituelle Übung“ nennt.

Literaturempfehlungen:

Platon, Phaidon & Timaios

Aristoteles, Über die Seele

Plotin, Der Abstieg der Seele in die Leibeswelt (Enneade IV 8)

Gregory Shaw, Theurgy and the Soul, Angelico Press, 2014

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