Protreptikos (I): Philosophie als Lebensform

Als Protreptik (von gr. protreptikós, „überzeugend“) bezeichnet man eine antike Textgattung, deren Ziel es war, den Leser zu einer Hinwendung zur Philosophie zu bewegen. Eine solche „Bekehrung“ sollte immer auch mit einer Neuausrichtung der Lebensführung einhergehen. Diesem Anspruch steht das heute herrschende Verständnis von Philosophie als rein theoretische Wissenschaft entgegen. Die Texte in dieser Reihe sollen dazu dienen, einen frischen und unverstellten Zugang zur Philosophie zu eröffnen und die Brücke zwischen Theorie und Lebenspraxis zu schlagen.

Schon vor knapp 200 Jahren geißelte Arthur Schopenhauer den universitären Philosophie-Betrieb seiner Zeit als „Kathederphilosophie“. Der „Philosophie als Profession“, die letztlich vom Gutdünken der politischen Machthaber, welche die Lehrstühle austeilten, abhing, setzte er die „Philosophie als freie Wahrheitsforschung“ entgegen. Schopenhauers Kritik an der institutionalisierten und von staatlicher Alimentierung abhängigen Universitätsphilosophie hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Doch gibt es überhaupt eine andere Form der Wahrheitsforschung als die akademisch gebundene? Seit dem Mittelalter ist die Philosophie in Europa in der Regel Angelegenheit von Spezialisten, die in ausgedehnten schriftlichen Abhandlungen und Vorlesungen eine theoretische Wissenschaft vom Wahren entwickeln und neue Spezialisten in dieser Profession ausbilden. Auch nach der Emanzipation aus ihrer Rolle als „Magd der Theologie“ in der Neuzeit blieb die Philosophie vorrangig intellektuelle Spekulation und damit das Metier von Theoretikern und Professoren.

Doch sind die Möglichkeiten der Philosophie damit bereits ausgeschöpft? Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es sich, einen Blick auf die Wurzeln der philosophischen Tradition in der Antike zu werfen.

Antike Philosophie als Lebenskunst

Pythagoras von Samos, der von vielen antiken Autoren als erster philosóphos angesehen wurde, war spiritueller Führer einer nach ihm benannten Sekte (heutzutage würde man ihn wohl als „Guru“ bezeichnen), die zeitweise sogar zu politischer Macht gelangte. Die früheste Überlieferung zeichnet ihn dabei weniger als wissenschaftlichen Theoretiker, sondern vielmehr als charismatischen Wunderwirker und Weisen, oder sogar als Inkarnation des Gottes Apollon. Auch andere vorsokratische Philosophen wie Parmenides, Empedokles oder Heraklit verfassten keine systematischen Traktate, sondern dichteten enigmatische Verse, wirkten als Vertreter ihrer Polis und schrieben ihre Lehren nicht selten göttlicher Offenbarung zu.

Keine Figur ist für die Entwicklung der Philosophie seit der klassischen Zeit prägender gewesen als die des Sokrates. Dieser behauptete von sich selbst, nichts zu lehren zu haben, und verfasste keine einzige Schrift. Stattdessen verbrachte er seine Tage damit, den Athenern durch unablässiges Fragen auf die Nerven zu gehen und ihnen dadurch die Vorläufigkeit ihres begrenzten Wissen vor Augen zu führen. Ziel dieser „geistigen Hebammenkunst“, wie Sokrates seine Methode selbst bezeichnete, war jedoch weder die Belehrung, noch die Bloßstellung seiner Gesprächspartner; vielmehr sollten sich diese im dialektischen Prozess des Fragens und Antwortens langsam an die Wahrheiten erinnern, die sie bereits verborgen in sich trugen, und dadurch zur tätigen Sorge um ihre Seelen animiert werden. Der Anspruch des sokratischen Philosophierens an die Lebensführung zeigt sich anschaulich an einem von Xenophon überlieferten Zitat: Als Sokrates aufgefordert wurde, endlich einmal den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren, anstatt immer nur danach zu fragen, erwiderte er: „Wenn ich es nicht durch Worte aufzeige, so doch durch meine Taten.“

Das Fragen nach der Gerechtigkeit, dem tugendhaften Leben und seiner Verwirklichung im Staat stand auch im Zentrum des Denkens von Platon, der dem Verständnis der philo-sophía als „Liebe zur Weisheit“ seine maßgebliche Gestalt verlieh. Das Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen war für Platon nicht nur intellektuelle Übung oder Spekulation, sondern musste konsequenterweise den ganzen Menschen verwandeln, wie es das Beispiel seines Lehrers Sokrates gezeigt hatte, der selbst das eigene Todesurteil furchtlos angenommen hatte:

„Wer nun eine Größe des Denkens besitzt und Übersicht der ganzen Zeit und alles Seins, hältst du es für möglich, dass dem das menschliche Leben als etwas Großes erscheint?

Unmöglich, sprach er.

Also wird ein solcher wohl auch den Tod nicht für etwas Furchtbares halten?

Am wenigsten wohl.

Eine feige und unedle Natur also kann an wahrhafter Philosophie, wie es scheint, keinen Anteil haben.“ (Politeia, 486b)

Die philosophischen Schulen der hellenistischen und römischen Zeit, allen voran Stoiker und Epikureer, stellten ihre theoretischen Diskurse über Kosmologie, Physik und Ethik klar in den Dienst einer philosophischen Lebensführung. Die Erkenntnis der kosmischen Natur und die Verortung des menschlichen Lebens darin sollten den Einzelnen von seinem beschränkten, durch Not und Leidenschaft geformten Blickwinkel befreien und ihm damit die „Seelengröße“ (megalopsychía) und Autonomie verleihen, die zur Verwirklichung eines rechtschaffenen, selbstlosen und glücklichen Lebens notwendig waren.

Spirituelle Exerzitien damals und heute

Es ist der Verdienst des französischen Philosophen Pierre Hadot, die lebenspraktische Dimension der antiken Philosophie wieder für ein modernes Publikum zugänglich gemacht zu haben. In seinen Essays, die unter dem Titel Philosophie als Lebensform versammelt sind, zeigt Hadot an mannigfaltigen Beispielen, dass alle philosophischen Schulen der Antike die Praxis „spiritueller Übungen“ (exercices spirituels) pflegten, die der Verinnerlichung ihrer wesentlichen Lehrsätze dienten. Stets hatten diese persönlichen Meditationen den Zweck, die gewöhnliche Perspektive des Einzelnen auf die Welt radikal zu verändern und so die theoretischen Erkenntnisse der jeweiligen Schule in eine konkrete Lebenspraxis umzusetzen. Als herausragendes Beispiel einer solchen Praxis mögen die Selbstbetrachtungen des Philosophen-Kaisers Marcus Aurelius dienen. Das Erbe dieser philosophischen „Achtsamkeit“ (prosochē) bewahrte insbesondere die monastische Tradition des Christentums.

Auch in der Moderne haben immer wieder Philosophen, wie etwa Nietzsche oder Heidegger, danach gestrebt, durch ihr Denken das Bewusstsein ihrer Zeitgenossen grundlegend zu verwandeln und damit eine konkrete Transformation ihrer geschichtlichen Situation zu erwirken. Nicht selten blieben sie dabei aber, wie im Fall Nietzsches, hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück, oder gerieten, wie im Fall Heideggers, in den Strom der politischen Verirrungen ihrer Zeit. Bis heute liegt zwischen dem philosophischen Diskurs, der in Hörsälen, Seminaren und systematischen Gesamtausgaben gepflegt wird, und der konkreten Lebenswirklichkeit der meisten Menschen ein tiefer Graben. Da das Bedürfnis nach spiritueller Führung im Alltag jedoch ungebrochen hoch ist und die traditionelle Religion viel von ihrer einstigen Anziehungskraft eingebüßt haben, ist es kein Zufall, wenn heutzutage etwa die stoische Philosophie im Gewand von Selbsthilfe-Ratgebern oder motivierenden Memes ein Comeback feiert.

Auch wenn das eben angeführte Beispiel die Gefahr ihrer Trivialisierung und Kommodifizierung demonstriert, glaube ich, dass die philosophischen Tradition auch heute noch zur Grundlage einer echten „Kehre“ im Leben des Einzelnen werden kann. Um die Brücke zwischen dem theoretischen Diskurs über die Natur der Wirklichkeit und unserem unmittelbaren, gelebten Verhältnis zu dieser Wirklichkeit schlagen zu können, müssen wir aber möglicherweise erst wieder einen frischen, unverstellten Zugang zu dieser Überlieferung finden. Hierfür bietet uns gerade die antike Philosophie mit ihrem lebenspraktischen Anspruch vielfältige Anknüpfungspunkte. Die folgenden Texte in dieser Reihe sollen deshalb dazu dienen, eine Auswahl an philosophischen Fragen vorzustellen und die Lust am Philosophieren nach klassischem Maß zu wecken. Als Autor dieser Zeilen gebe ich dabei nicht vor, die verschiedenen philosophischen Schulen bloß als Außenstehender zu betrachten, sondern bekenne mich ohne Umschweife zum Blickwinkel der platonischen Tradition. Ihre Begriffe und Schwerpunkte werden daher zwangsläufig diese Texte prägen, jedoch hoffentlich ohne den Blickwinkel zu verengen.

Literaturempfehlungen:

Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform, Fischer, 2002 (auf engl. verfügbar als Philosophy as a Way of Life)

Platon, Apologie des Sokrates

Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen

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