Wer in der Gesellschaft als gut gilt, wird gegenwärtig nicht durch das Handeln bestimmt, sondern durch die Gesinnung. Die vier Kardinaltugenden hingegen bieten eine Anleitung für ein gutes Handeln, das uns auch heute noch Orientierung geben kann.
„Daß das Alte sei das Neue“ Goethe
Der heutige Europäer kennt die Bedeutung gewisser Worte nicht mehr, von denen man einst dachte, dass sie zum ewigen Vokabular unserer Kultur gehörten. Wer von dem „Viergespann“ der Kardinaltugenden spricht – von Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß –, der wird von den meisten Zeitgenossen als „Ewiggestriger“ belächelt werden. Das Wort „Tugend“ klingt archaisch, aus der Zeit gefallen, und dasselbe gilt für die Namen der Kardinaltugenden – mit Ausnahme des Begriffs „Gerechtigkeit“, der aber meistens nur sehr oberflächlich oder sogar falsch verstanden wird. An diesen Tatsachen ändern leider auch verdienstvolle Museumsausstellungen nur wenig. Mit dem Vergessen der Bezeichnungen für die Tugenden geht der Verfall des damit Bezeichneten einher, wenn es auch niemals ausgestorben ist. Auf breiter Front trat aber an die Stelle der Tugenden eine Inflation der „Werte“, ja, wie man mit Carl Schmitt sagen kann, geradezu deren „Tyrannei“.
Bedauerlicherweise leben wir in einer Gesellschaft, in der ein Mensch nicht nach dem beurteilt wird, was er ist, sondern nach dem, was er sagt oder schreibt. Das bloße „virtue signalling“ zählt mehr als wahre Tugend. Der „Gutmensch“ ist die Perversion des guten Menschen. Andererseits kann eine einzige unüberlegte Aussage selbst die Besten schnell in Verruf bringen. Es gälte, von neuem und über die Gräben der politischen Lager und Weltanschauungen hinweg wieder wahrnehmungsfähig zu werden für das Gutsein, die Tugendhaftigkeit der Menschen und sich selbstkritisch zu befragen, wie es um das eigene Gutsein bestellt ist. Es gälte, von neuem die Mahnung des Meisters Eckhart zu berücksichtigen, der in seinen „Reden der Unterweisung“ sagte:
„Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Wären nun aber die Leute gut und ihre Weise, so könnten ihre Werke hell leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Erkenne hieraus, daß man allen Fleiß darauf verwenden soll, gut zu sein, – nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.“
Dass aber das Gutsein des Menschen, der Grund seiner guten Werke, wiederum im objektiv Guten, in der Wirklichkeit oder im Sein wurzeln muss, das ist angesichts des gegenwärtigen Subjektivismus und Relativismus eine zunächst schwer verständliche und vermutlich wenig einleuchtende Prämisse, auch wenn sie über Jahrhunderte hinweg eine zentrale Aussage des abendländischen Menschenbildes war. Tugend, also das objektive Gutsein eines Menschen, ist nicht dem subjektiven Belieben anheimgestellt. Es ist auch kein vages Empfinden, sondern klar definierbar und aufgefächert in die vier Kardinaltugenden, die wiederum untereinander eine Rangordnung kennen. Vielleicht wäre schon etwas gewonnen, wenn ein neues Wissen um den Inhalt von Worten wie „Tugend“, „Klugheit“, „Gerechtigkeit“, „Tapferkeit“ und „Maß“ erweckt würde. Dieses Ziel hat sich die Reihe „Das Viergespann“ gesetzt. Nach diesem einleitenden Text wird jeder der vier geplanten Teile eine der Kardinaltugenden vorstellen.
Dieses Wagnis wäre undenkbar ohne die Bücher Josef Piepers. Er hat mir mit seiner klaren Sprache und seiner Gelehrsamkeit den Weg gewiesen. Was er über die Kardinaltugenden schreibt, ist Ausdruck der hochentwickelten Tugend der Klugheit, der prudentia, und es vermag diese Tugend im aufnahmebereiten Leser zu erzeugen. Dass ich es überhaupt wage, von den Kardinaltugenden zu sprechen, auch wenn ich mir bewusst bin, wie sehr mein eigenes Leben hinter deren Anspruch zurückbleibt, verdanke ich Pieper. Er hat in mir auch die Überzeugung geweckt, dass das abendländische Menschenbild der Überlieferung kein Auslaufmodell ist, sondern dem entspricht, was immer galt, gilt und gelten wird.
Als Wegweiser für die kommenden Teile dieser Reihe seien nun einige Kurzdefinitionen von Josef Pieper zitiert, die aber nicht mehr geben können als einen Vorgeschmack auf das, was weiter zu sagen sein wird.
Klugheit: „Der Mensch kann nur dann richtig sein, wenn er sich den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben läßt durch das Ja oder Nein des Willens; er macht, umgekehrt, sein Beschließen und Tun abhängig von der ihm zu Gesicht kommenden Realität. Er ist dadurch klug, daß er gewillt ist, die Wahrheit zu tun.“
Gerechtigkeit: „Der gute Mensch ist vor allem gerecht, das heißt, er versteht sich darin, Mit-Mensch zu sein. Er besitzt die Kunst, auf solche Weise mit den anderen zu leben, daß jedem zuteil wird, was ihm zusteht.“
Tapferkeit: „Der Mensch, der klug und gerecht ist, weiß, daß er zur Verwirklichung des Guten in dieser Welt des Einsatzes der Person bedarf. Er ist – in der Tapferkeit – bereit, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen Nachteile und Verwundungen in Kauf zu nehmen.“
Zucht und Maß: „Zum Richtigsein des Menschen gehört die Tugend des Maßes und der Zucht, wodurch er sich schützt gegen die Selbstzerstörung durch Genuß.“
(Aus: Josef-Pieper-Lesebuch, München 1981, S. 21.)