Protreptikos (III): Das Böse

Der Großteil der antiken Philosophen seit der klassischen Epoche folgte implizit oder explizit der Annahme Platons, dass „Gott niemals und auf keine Weise ungerecht ist“ (Theaitetos, 176 b). Was den Status des Göttlichen beanspruchte, musste also in jeder Weise vollkommen, gut und bedürfnislos sein. Hieraus ergibt sich jedoch ein fundamentales Problem: Wenn die Gottheit Ursprung und Schöpfer von allem ist und selbst ganz und gar gut, wie ist dann die Existenz des Bösen möglich? Hat sich in der Schöpfung irgendwo ein fataler Fehler eingeschlichen? Trägt ein Widersacher die Schuld? Oder kümmert sich Gott schlicht und ergreifend nicht um das Leiden seiner Geschöpfe? Das ist die berüchtigte Frage nach der Theodizee, nach der „Gerechtigkeit Gottes“, die so manchem Theologen Kopfzerbrechen bereitet hat und an der Wurzel von allem religiösen Skeptizismus liegt.

Wenn man sich die Frage stellen möchte, was das Böse eigentlich ist und warum es scheinbar nicht auszurotten ist, so ist es hilfreich, sich zunächst über die zugrundeliegenden Begriffe klar zu werden. Das griechische Wort kakía, das oft als „Böses“ übersetzt wird, meint nicht nur das moralische Böse sondern ganz allgemein das „Schlechte“, also alles, was irgendwie nicht so ist, wie es sein sollte. Schlecht im Sinne der kakía ist also nicht nur die menschliche Sünde, das Laster und das Verbrechen, sondern auch die schlichte Untauglichkeit, Krankheit oder Unvollkommenheit irgendeiner Sache. Die Bestimmung der „Schlechtigkeit“ eines Dings setzt jedoch voraus, dass man eine Ahnung davon hat, was das eigentliche Ideal, der Zweck, das Ziel – kurz: das „Gute“ (agathón) – dieser Sache ist. Das Problem des Bösen war für die antike Philosophie daher oft sowohl ein ethisches als auch ein ontologisches.

Das Böse als Verfehlung des Guten

Näherliegend ist zunächst die ethische Frage: Warum tut der Mensch Böses? Oder inwiefern tut er das überhaupt? Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die These des Sokrates, dass „niemand freiwillig Unrecht tut“. Das klingt zunächst befremdlich. Sicher lassen sich ohne Weiteres zahllose Beispiele von Menschen finden, die sich bewusst dafür entschieden haben, Verbrechen zu begehen bzw. anderen oder sich selbst Schaden zuzufügen. Was hinter der gewagten Behauptung des Sokrates steht, ist die Beobachtung, dass keiner dieser Menschen das Böse im eigentlichen Sinn als Böses will. Letztlich steht hinter jeder Form von Unrecht irgendeine Art von Motivation, sei es das Streben nach dem eigenen materiellen Vorteil, nach Macht oder nach der Befriedigung eines Triebes. In jedem Fall wird die Handlung von irgendeiner Absicht, einem Ziel, einem Wunsch – kurz: von einem „Gut“ – motiviert sein (das Gute muss hier ganz allgemein verstanden werden, als das jeweilige Ziel eines Strebens). Derjenige, der Unrecht tut, tut das also nicht grundlos, sondern er will das Ergebnis seiner Handlung als etwas Gutes. Der Verstoß gegen das Gesetz, der Schaden eines anderen oder die sonstigen negativen Konsequenzen treten dabei, auch wenn sie als solche erkannt werden, hinter dem erstrebten Gut zurück.

So betrachtet stellt sich das moralische Böse als schlichter Irrtum dar: Der Verbrecher verfolgt ein vermeintliches Gut, z.B. den eigenen Machtgewinn, ohne zu erkennen, dass sich dieses bei näherer Betrachtung als etwas Schlechtes (kakía) herausstellt, sowohl für das Opfer und die Rechtsgemeinschaft als auch für den Verbrecher selbst (nach Platons Ansicht schadet jedes Unrecht auch der Seele des Täters). Es handelt sich also um eine subjektive Verkehrung in der Hierarchie der Güter, was natürlich voraussetzt, dass das Gute als transzendentes Maß gedacht wird und nicht nur als wandelbares kulturelles Konstrukt. In dieser Sichtweise hat das Böse also gewissermaßen gar keine eigene Qualität, sondern bezeichnet immer nur einen Mangel, eine Umkehrung oder eine Verkennung des Guten. Das Böse hat damit auch quasi unendliche Erscheinungsformen und Schattierungen, da es unbegrenzte Möglichkeiten gibt, ein bestimmtes Ziel zu verfehlen. Das Schlechte ist also stets abhängig vom Guten und wird deshalb bisweilen auch als „parasitär“ beschrieben. Das kann einleuchten, wenn man bedenkt, dass schwerstes Unrecht oft im Namen großer, universaler Güter wie „Freiheit“, „Gleichheit“ oder „Sicherheit“ begangen wurde.

Das Nicht-Sein des Bösen

Diese Gedanken führen in gerader Linie zu einer metaphysischen Verortung des Bösen. Die wohl ausgefeilteste systematische Abhandlung über das Böse, die uns aus der Antike erhalten ist, stammt von dem spätantiken Philosophen Proklos. Charakteristisch für die platonische Tradition, in der Proklos steht, ist die Annahme eines absolut transzendenten „Einen“, das auch „das Gute“ (oder bisweilen „Gott“) genannt wird, als Grund und Ziel alles Seienden. Proklos bemüht sich nun aufzuzeigen, dass das Böse kein eigenes Bestehen und keinen eigenen Rang in der Hierarchie der Wirklichkeit, die vom Guten abhängt, haben kann, sondern nur als eine Art Mangel oder Unvollkommenheit des Seienden aufzufassen ist. Doch ein solcher Mangel kann nicht einmal auf jeder Ebene der Wirklichkeit vorkommen. Der göttliche Geist (nous) kennt nämlich noch keinerlei Unvollkommenheit, sondern ist voll von den idealen, ewigen Urbildern des Seienden. Das Böse taucht nach Proklos also erst dort auf, wo mit zunehmender Differenzierung eine Art „Entfremdung“ des Göttlichen von sich selbst eintritt, nämlich in der Verkörperung der unsterblichen Seele in einem sterblichen Körper.

Das Böse bzw. Schlechte an den Körpern, wie z.B. die Krankheit, ist dabei das geringere Problem, da es schlechthin in der Natur des Körpers liegt, teilbar und vergänglich zu sein. Der eigentliche Konflikt liegt deshalb allein auf der Ebene der menschlichen Seele, die voll von Bedürfnissen ist, die alle ihrem eigenen Gut nachstreben und sich dabei nicht selten in die Quere kommen oder gar dem Menschen und seiner Umwelt Schaden zuzufügen (z.B. ein natürlicher Trieb, der zur Sucht entartet). Diese innere Ambivalenz rührt letztendlich aus der Mittelstellung der Seele zwischen Körper und Geist her, die Proklos jedoch als notwendiges Element in der Entfaltung des Göttlichen und damit ihrerseits als ein Gut versteht. Das Vorkommen des Bösen in der Welt ist also nicht einem Fehler oder einem Widersacher geschuldet, sondern rührt allein aus der Schwäche einer individuellen Seele her, der es nicht gelingt, ihre innere Ordnung und damit auch die Ordnung der Welt zu bewahren. Mit dieser ausgeklügelten Argumentation, die in ähnlicher Form auch durch Augustinus von Hippo vertreten wurde, bewahrt Proklos nicht nur die Integrität des transzendenten Guten als Ursprung aller Dinge sondern auch die Verantwortung des Menschen für das von ihm begangene Unrecht.

Der Kampf gegen das Böse

Dass die Frage nach der Natur und dem Rang des Bösen jeden von uns angeht, dürfte auf der Hand liegen. Dass ein Leben ohne Unrecht, Lüge, Hass und Sucht wahrscheinlich ein gutes ist, sollte ebenfalls niemanden überraschen. Schwieriger und interessanter ist da schon die Frage, wie wir mit dem Unrecht umgehen, das uns von Außen widerfährt. Auch darauf gibt uns Sokrates eine ebenso einfache wie kühne Antwort: „Lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun.“ Was er damit meinte, demonstrierte der athenische Philosoph am eigenen Leib, indem er nicht einmal im Angesicht seines Todesurteils gewillt war, die Gesetze seiner Heimatstadt durch die für ihn vorbereitete Flucht zu brechen.

Aber kann die Antwort wirklich so simpel sein? Sollen wir einfach jedes Unrecht tatenlos über uns ergehen lassen, nur um nicht Gefahr zu laufen, selbst Unrecht zu begehen? Es dürfte einen Grund dafür geben, warum diese Vorstellung den Meisten von uns intuitiv widerstrebt. Der aktive Kampf gegen das Böse ist womöglich das älteste Motiv menschlicher Erzählungen und auch der Widerstand gegen die Tyrannei rief zu jeder Zeit Jubel und Anteilnahme hervor (außer von Seiten der Tyrannen natürlich). Es scheint etwas in uns zu geben, dem es unerträglich ist, das Unrecht zu erdulden, gleich ob es sich gegen uns selbst oder jemand anderen richtet.

Das Problem liegt jedoch darin, dass eben dieser Instinkt für die Gerechtigkeit auch die Wurzel des Zorns ist, der unsere seelische Ordnung durcheinanderwirbeln und damit selbst zum Ursprung des Bösen werden kann. Dieses Dilemma bildet bereits das Leitmotiv von Homers Ilias. Das Epos erzählt vom gerechten Zorn des Achilles über seine öffentliche Entehrung durch Agamemnon, welcher in letzter Konsequenz zum Tod des Patroklos, zur Schändung des Helden Hektor und damit auch zum Unglück Achills führt. Homer besingt in seinem Werk eines der Grundprobleme des menschlichen Daseins: Das, was uns zum Guten drängt, kann allzu leicht fehlgeleitet werden und damit zum Quell des Leids für uns und andere mutieren (z.B. gerechter Zorn als Ursache für Bitterkeit, Rache und Grausamkeit). Was das Gute an sich ist, ist für uns schwer zu erkennen, und trotzdem müssen wir uns ständig zwischen einer Vielzahl von vermeintlichen Gütern entscheiden. Aus dieser inneren Spannung gibt es für uns keinen Ausweg, auch nicht durch einen vorgeschobenen intellektuellen Amoralismus. Die Bewältigung des Lebens bedeutet immer auch, diesen Konflikt auszuhalten und stets aufs Neue Verantwortung für unsere Entscheidungen zu übernehmen.

 „Singe vom Ingrimm, Göttin, des Peleus-Sohnes Achilleus, / Vom verfluchten, der zahllose Schmerzen schuf den Achaiern / Und viele kraftvolle Seelen der Helden vorwarf dem Hades“

Literaturempfehlungen:

Platon, Kriton & Gorgias

Radek Chlup, Proclus´ Theory of Evil: An Ethical Perspective, 2009, abrufbar unter https://brill.com/view/journals/jpt/3/1/article-p26_2.xml

 

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