Im Angesicht des Schmerzes – Louis Lavelle über Übel und Leid

Die letzten Jahre sind geprägt durch die Wiederkehr von Übel, Leid und Schmerz ins allgemeine Bewusstsein der Industrienationen. Ein gewisser Fortschrittsoptimismus hatte die negativen Seiten des Daseins lange Zeit verdrängt. Gelitten und gestorben wurde zwar immer noch, aber eher anonym und im Verborgenen. Nun sind Übel, Leid und Schmerz durch COVID-19 und den Ukrainekrieg wieder mit Macht ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zurückgekehrt. In einer solchen Zeit sind jene Bücher von großem Wert, die von Übel und Leid sprechen, ohne dem Pessimismus oder dem Zynismus zu verfallen – die hart, realistisch, frei von Larmoyanz sind und uns einen Sinn des Leidens sehen lehren. Die Meditationen des französischen Philosophen Louis Lavelle (1883–1951) gehören zu dieser Sorte von Büchern, und so ist die erste deutsche Übersetzung von Lavelles Essay „Le mal et la souffrance“ gewissermaßen zur richtigen Zeit erschienen. Der Anhang des bereits im Januar 2022 im Lepanto-Verlag erschienenen Buches enthält Lavelles Gedanken zu Leid, Übel und Einsamkeit in Zeiten des Krieges. Ein kenntnisreiches Nachwort des Übersetzers rundet den Band ab.

Lavelle, Das Übel und das Leid.

Die Reflexionen Lavelles kommen weitgehend ohne Zitate und Verweise auf andere Denker aus und sind ganz der Sache hingegeben. Wer den Essay liest, spürt bereits, dass Lavelle mit Übel und Leid existenziell vertraut ist, was die biographischen Hinweise im Nachwort dann bestätigen. Die wahrnehmbare Vertrautheit mit den zerstörerischen Seiten des Lebens verleiht dem Essay eine tiefe Glaubwürdigkeit: Hier spricht jemand, der weiß, wovon er redet.

In Bezug auf bestimmte Verfallsphänomene unserer Gegenwart befindet sich Lavelles Essay in heilsam kritischer Distanz. So etwa zu den Bestrebungen, den Schmerz vollständig aus der Welt zu schaffen, zu denen Lavelle bemerkt: „Wer sich die Fähigkeit zu leiden nimmt, nimmt sich auch die Fähigkeit zur Freude.“ Dies lasse sich etwa beim Gebrauch von Anästhetika nachvollziehen. Weil der Schmerz dem Leben Ernst und Tiefgang verleiht, würde es mehr Verlust als Gewinn bedeuten, ihn vollständig abzuschaffen.

Unserer Verklärung von Kindheit und Jugend und der weit verbreiteten Infantilisierung hält Lavelle die Bedeutung der Reflexion entgegen. Wir müssen uns nach dem Ende der Kindheit über die Natur erheben und die Grundentscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen treffen. Demgegenüber sind alle konkreten Entscheidungen sekundär. Eine Rückkehr zur Naivität oder zur Natur ist ausgeschlossen, sobald die Reflexion einmal erwacht ist. Dann hat die Aktivität des Geistes die Wahl zwischen zwei Alternativen: „Entweder sie betrachtet das Ich als Zentrum der Welt und unterwirft die Welt dessen Gebrauch oder sie macht das Ich zu einem Mittel des Geistes, durch den die ganze Welt erfüllt werden muß, damit sie Bedeutung und Wert erhält.“

Es ist nun der Grundgedanke, der Lavelles Betrachtungen durchzieht, dass wir dem Übel und dem Leiden durch unsere geistige Aktivität Sinn verleihen müssen. Es ist unsere Aufgabe, dem Schmerz ins Angesicht zu sehen und ihn gewissermaßen in eine Stufe zu höherer geistiger Vervollkommnung zu verwandeln. Lavelle gibt sich dabei keinen Illusionen hin. Er weiß sehr genau, dass Schmerz und Leiden den Menschen herabziehen, auszehren und vernichten können. Gleichzeitig schreibt er aber auch: „Es ist wunderbar, daß unser Leben durch die Bürde des Schmerzes, die wir stets loswerden wollen, zu seiner schönsten Entfaltung kommen kann, wenn unser Wille auf rechte Weise mit ihr umgeht.“ Die „Fähigkeit zu leiden“ sei nichts anderes als „die Kehrseite unserer Kraft zur Höherentwicklung“. So ist es nach Lavelle unsere Aufgabe, das Widerfahrnis des Schmerzes anzunehmen und dazu in einer Weise Stellung zu nehmen, die uns läutert und erhöht, statt uns zu vernichten. Lavelle fordert dazu auf, sich den Schmerz zur Läuterung dienen zu lassen, ähnlich wie Rilke in einem seiner Sonette an Orpheus: „Im Gebälk der finstern Glockenstühle laß dich läuten. Das, was an dir zehrt, wird ein Starkes über dieser Nahrung.“ Das Erleiden des Schmerzes wird so für Lavelle gewissermaßen zum Prüfstein unseres geistigen Ranges: „Vielleicht kann man uns anhand unserer Haltung gegenüber dem Schmerz beurteilen.“

Der positiven, sinngebenden Haltung zum Schmerz stehen zahlreiche Fehlhaltungen entgegen. Bei den Fehlhaltungen, die Lavelle etwas näher beschreibt, verdient seine Betrachtung der Revolte angesichts der Aktualität des Themas besondere Aufmerksamkeit. Es handelt sich gewissermaßen um eine Kritik der Haltung des weitaus populäreren Franzosen Albert Camus, noch bevor dessen Werke erschienen waren. Die Revolte, schreibt Lavelle, „kennt keine Grenzen, sie kann sich nicht gegen den Schmerz auflehnen, ohne sich zugleich gegen das Leben und die Ordnung der Welt zu richten.“ Statt im Schmerz einen Sinn zu sehen und ihn als Prüfung anzunehmen, „nimmt man den Schmerz als Vorwand, um sich gegen das Leben selbst zu wenden und das Sein als nichtig zu verwerfen, statt das Nichtige in Sein zu verwandeln.“

Es ist anzumerken, dass der Essay sich weitgehend auf den Einzelnen und dessen Stellungnahmen zu ihm widerfahrendem Leid konzentriert. Der Umgang mit fremdem Leiden, der gerade in einer medial vernetzten Welt besonders schwierige Fragen aufwirft, wird weitgehend ausgeklammert. Und trotz aller unbestreitbaren Tiefe und Ernsthaftigkeit des Essays melden sich immer wieder Zweifel und Fragen bei der Lektüre: Stößt die Behandlung von Übel und Leid aus der Perspektive der Freiheit des menschlichen Geistes, seiner sinngebenden Schöpferkraft, nicht früher oder später an unüberschreitbare Grenzen? Lässt sich noch von Freiheit der Stellungnahme, von geistiger Verwandlung sprechen, wenn der Mensch im äußersten Schmerz ganz zum passiven Dulder erniedrigt wird? Lässt sich noch an Sinngebung denken, wenn uns der Schmerz mit völliger Sinnentleerung und Sinnlosigkeit konfrontiert? Wenn Lavelle an einer Stelle schreibt, es hänge allein von mir ab, was ich aus dem Schmerz mache, dann wird eine Überforderung des einzelnen Menschen wohl unvermeidlich.

Es scheint mir, dass hier eine Grenze von Lavelles Ansatz liegt, der so fragwürdig wird. Hier könnte zum Beispiel eine christlich-theologische Kritik von Lavelles Essay ansetzen: Der Mensch kann versuchen, dem Leiden Sinn zu geben, doch immer wieder erfährt er darin einen Abgrund der Sinnlosigkeit und die Grenze der eigenen Freiheit. Der Versuch, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, muss letztlich scheitern. Hier kann nur Gott den leidenden Menschen retten, indem er sich in Christus am Kreuz ganz jener Sinnlosigkeit, jenem Abgrund anheimgegeben hat und durch seine Auferstehung das Nichtige und Sinnlose, den Tod, den Schmerz und das Leiden überwunden hat. Doch diese Antwort liegt offenbar (jedenfalls in „Le mal et la souffrance“) außerhalb von Lavelles Gesichtskreis. Dies ändert nicht viel an dem Gewicht des nun erstmals auf Deutsch vorliegenden Essays.

Louis Lavelle: Das Übel und das Leid. Mit einem Anhang: Über die Zeiten des Krieges. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Sommer. Rückersdorf: Lepanto-Verlag 2022. 106 S. Hier bestellen.

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