Klaus Heinrich und der Sog der Selbstzerstörung

Die Trauer: ein Appetit, den kein Unglück sättigt.

E. M. Cioran: Syllogismen der Bitterkeit

Von C. G. Jung stammt der Ratschlag, wenn man ein Verhalten nicht verstehe, solle man sich ansehen, welche Folgen es hat, und von dort auf die dahinter stehenden Antriebe Rückschlüsse ziehen. Wenn man diesen Ratschlag angesichts der Migrationspolitik Deutschlands befolgt, so legt sich der Schluss nahe, dass ihr (mehr oder weniger bewusster) Antrieb der Wunsch nach Selbstzerstörung ist. So hat etwa Rolf Peter Sieferle den Multikulturalismus und die Forcierung der Immigration als Projekt einer von Schuldgefühlen angetriebenen Selbstzerstörung der Deutschen gedeutet.

Einwände gegen diese Deutung

Dass eine solche Deutung heftige Gegenreaktionen auslöst, mag daran liegen, dass getroffene Hunde bellen, besonders dann, wenn ein wunder Punkt getroffen wurde. Es liegt aber auch an einem falschen oder zumindest sehr einseitigen Menschenbild, in dem die Macht dessen, was Freud als „Todestrieb“ bezeichnet hat, in fataler Weise unterschätzt wird. Sollte die Vermutung wahr sein, dass ein unbewusster Selbstzerstörungswunsch die deutsche Politik leitet, müsste mancher sein Menschenbild revidieren.

Zweifel können nicht ausbleiben: Haben nicht intelligente, gut ausgebildete Menschen die Macht in Deutschland? Warum sollten sie sich in einem so „kalten“ Gebiet wie der Politik von „heißen“ (Selbst-)Zerstörungswünschen leiten lassen? Ist das nicht alles hochrational durchgeplant? Lassen sich Gemeinplätze der Individualpsychologie überhaupt auf die Politik übertragen? Kommt man einem so ungeheuerlichen Vorgang wie der Selbstzerstörung des deutschen Volkes mit Psychologie bei?

Freuds Einführung des „Todestriebs“

Im Grunde ist das Denken der meisten (ob rechts oder links) noch von den Illusionen beherrscht, die auch Sigmund Freuds Denken vor dem Ersten Weltkrieg prägten. Es konkurrieren der homo oeconomicus und der homo libidinosus um die Vorherrschaft im Menschenbild: Der Mensch ist primär egoistisch und narzisstisch, auf den eigenen Vorteil und die eigene Lust bedacht. In Georg Büchners Drama „Dantons Tod“ beschreibt die Hauptfigur dieses Menschenbild: „Es gibt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er tut, was ihm wohl tut.“ Das ist offenbar nicht ganz falsch, aber eben auch sehr einseitig.

Die Erfahrungen des Krieges brachten Freud dazu, seine Trieblehre in der Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) um einen „Todestrieb“ zu erweitern, der dem Trieb des Eros nach einem Mehr an Lust entgegengesetzt ist. Rückblickend schreibt Freud in „Das Ich und das Es“ (1923): „Auf Grund theoretischer, durch die Biologie gestützter Überlegungen supponierten wir einen Todestrieb, dem die Aufgabe gestellt ist, das organische Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen, während der Eros das Ziel verfolgt, das Leben durch immer weitergreifende Zusammenfassung der in Partikel zersprengten lebenden Substanz zu komplizieren, natürlich es dabei zu erhalten.“ In der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) äußerte Freud seine Verwunderung darüber, dass er das Vorhandensein dieses Todes- oder Destruktionstriebes in der menschlichen Psyche nicht bereits früher erkannt hatte und schrieb über die Abwehr anderer gegen diese Idee: „Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ‚Bösen‘, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.“ Nach außen gerichtet, wird der Destruktionstrieb sadistisch, nach innen gerichtet, wird er masochistisch und drängt auf Selbstzerstörung.

Freud-Rezeption

Freuds Postulat eines „Todestriebs“ hat aus verschiedenen Gründen Anlass zur Kritik gegeben. Es haben aber auch profunde Untersuchungen daran angeknüpft, etwa Erich Fromms Werk über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“. Auf anderen Wegen haben E. M. Cioran, Albert Caraco und Ulrich Horstmann in die Nachtseite der menschlichen Psyche geleuchtet und dort einen wahren Hunger nach Unglück und Katastrophen entdeckt. Der Psychologe Jordan Peterson hat im zweiten Kapitel seines Buches „12 Rules for Life“ die Scham des Menschen angesichts seiner Neigung zum Bösen beschrieben. Diese Scham kann den Antrieb wecken, sich selbst zu zerstören.

All diese Entdeckungen laufen dem gemütlichen „Epikuräismus“ zuwider, der nach Büchners Danton die Menschen beherrscht. Der Mensch ist offenbar nicht nur daran interessiert, zu überleben und ein zu großes Quantum an Erregung zu meiden – er scheint vielmehr geradezu besessen vom Verlangen nach einem intensiven Leben, und sei es in der Intensität des Schmerzes, der Trauer, der Reue, des Selbsthasses und der Selbstzerstörung. Büchner selbst scheint das gewusst zu haben. In der Schlussszene von „Dantons Tod“ gibt sich Lucile – völlig entgegen den Auffassungen Dantons, der meint, jeder tue nur, was ihm wohl tut – mit dem Ausruf „Es lebe der König!“ voller Trauer über den Tod ihres Gatten Camille den Revolutionsgarden und ihrer Mordlust anheim.

Der naheliegende Einwand, es handle sich bei alldem nur um Erkenntnisse der Individualpsychologie, die nicht auf ein ganzes Volk übertragbar seien, verfängt nicht. Dieselben Tendenzen, die sich in der Psyche einzelner aufweisen lassen, prägen auch die Bewegungen ganzer Gruppen, ja der gesamten Gattung.

Klaus Heinrich über den „Sog“

Der Selbstzerstörungsdrang der menschlichen Gattung ist unter dem Titel des „Sogs“ eines der großen Themen im Werk des Religionsphilosophen Klaus Heinrich. Er spricht erstmals davon in seinem „Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen“, und dann wieder in einem Vortrag unter dem Titel „Sucht und Sog“, der sich in dem Bändchen „Anfangen mit Freud“ findet.

Die Sogwirkung des Wunsches nach Selbstzerstörung veranschaulicht er dort wie folgt: „Denken Sie an den Sog, den das Messerwerk einer ungeschützten Maschine, der Hochwasser führende Strom mit seinen Strudeln unter der Brücke, die Meeresbrandung […], die Bahnsteigkante angesichts des nahenden und vorüberschießenden Zuges auf uns ausüben.“ Diesem Sog liege ein „geheimer Selbstauslöschungswunsch“ zugrunde, auch eine Sehnsucht nach „Subjektlosigkeit“, also nach dem Loswerden der Last von Freiheit, Verantwortung und der damit verbundenen Schuld.

In den Industriegesellschaften äußert sich der Sog in einer durch Massenmedien und Kulturindustrie sowohl erzeugten als auch bedienten „Ereignissucht“, die nach Heinrich als „Katastrophenfaszination […] den Namen ‚Katastrophensucht‘ verdient“ hat. Dieser Sucht entspreche „das süchtige Hinarbeiten auf die Katastrophe“. Frappierend, wie leicht man diese Formel von Klaus Heinrich heute als Beschreibung der Arbeit der deutschen Politik lesen kann. Unfähigkeit und Dummheit mögen dabei eine Rolle spielen, sie entfalten ihre große Wirkung aber nur aufgrund des „Sogs“.

Es liegt der Gedanke nahe, dass das deutsche Volk nach den Verbrechen und Traumata des 20. Jahrhunderts besonders stark vom „Sog“ erfasst wurde. Große Teile dieses Volkes sind süchtig danach, im Ganzen einer anonymen Menschheit aufzugehen und damit geräuschlos abzutreten. Diese Sogbewegung kann aber auch mit erheblicher Autoaggression einhergehen, wie die Aussagen und Aktionen sogenannter Antideutscher belegen. Sie agieren offen und schrill aus, was in der Psyche des deutschen Volkes sich meist eher versteckt abspielt und andernorts auch die entsprechenden nationalistischen Gegenreaktionen hervorruft. Kritisch muss man jedoch sagen, dass manche Reaktionäre nicht weniger vom „Sog“ erfasst sind als die Antideutschen, weil sie sich eine Rückkehr in den bergenden Schoß der Nation erhoffen. Solche Nostalgie treibt den Teufel mit Beelzebub aus, ersetzt den Sog der Selbstvernichtung durch den Sog des Kollektivs, in dem der Einzelne aufgeht. Beide Bewegungen fliehen vor der Freiheit, wollen weder Verantwortung noch Schuld auf sich nehmen.

Abschließendes

Freud schrieb in „Jenseits des Lustprinzips“, dass die Todestriebe im Gegensatz zu den Lebenstrieben „ihre Arbeit unauffällig zu leisten scheinen“. Diese verborgene Arbeit ist schwer zu fassen und auf den Begriff zu bringen. Deswegen läuft die hier angedeutete „Psychoanalyse der deutschen Seele“ Gefahr, ins Spekulative abzugleiten und kennt kaum Möglichkeiten der empirischen Verifikation. Sie empfiehlt sich aber durch ihre Erklärungskraft. Nimmt man sie ernst, so erscheint es nicht mehr unverständlich, dass die Zerstörung unseres Landes mit einer gewissen Euphorie und viel Vorfreude erfolgt. Nicht zuletzt ist dies ein Beweis dafür, dass rationale Planung und tiefste Irrationalität einander keineswegs ausschließen müssen, dass vielmehr die rationale Planung durchdrungen und getrieben sein kann von tiefster Irrationalität. Nur wenn es gelingt, diese irrationalen Antriebe bewusst zu machen, zu analysieren und zu therapieren, kann eine Abkehr vom Sog der Selbstzerstörung erfolgen, eine Abkehr, die ebenso wenig dem Sog eines neuen chauvinistischen Nationalismus verfällt.

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Der Religionsphilosoph und Mitgründer der Freien Universität (FU) Berlin Klaus Heinrich verstarb am 23.11. im Alter von 93 Jahren.

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