Die Erfindung der Dystopie

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Vor hundert Jahren wurde mit dem verstörenden Roman „Wir“ der Reigen einer neuen Romangattung eröffnet, die nur im 20. Jahrhundert entstehen konnte. Der russische Ingenieur und bolschewistische Renegat Jevgenij Samjatin (1884-1937) schuf den ersten dystopischen Roman.

Jevgenij Samjatin ist demnach der anerkannte Pate der populären Werke Orwells (1984), Huxleys (Brave New World), oder Bradburys (Fahrenheit 451). Anders als die frühen Utopien eines Campanella, Morus oder auch die Satiren Swifts und Voltaires entstand die neuartige Gattung der Dystopie jedoch als Reflexion von bereits versuchten Utopien, die früh schon in eine reale Katastrophe geführt hatten oder zumindest kommende Katastrophen erahnen ließen. Vor dem Hintergrund des selbst Erlebten nahm sich die Zukunft düster aus, so als bestünde ein geradezu genetischer Nexus zwischen Hoffnung und Verhängnis bzw. zwischen Vernunft und Wahnsinn.

Samjatin, der seinen Roman „Wir“ vor dem Machtantritt Stalins veröffentlichte (1921 ist er bereits wieder verboten), hatte ein untrügliches Gespür dafür, was in der geistigen Genetik des Kommunismus angelegt war. Eine verschlungene Doppelhelix aus Fortschritt und Barbarei musste im geglaubten historischen „Naturgesetz“ ihr Programm Realität werden lassen. Die beschworene Beglückung der Massen fungierte für Akteure wie Empfangende bald nur noch als notwendige „Verdrängungs-Pille“, welche die Sehschärfe so vieler Zeitgenossen beeinträchtigen sollte. Dies alles geschah keineswegs in unschuldiger Blindheit, sondern überlegt und planmäßig. Blind war allenfalls die Wissenschaft, die sich in den Dienst der totalen Macht hatte nehmen lassen. Rationalität erweist sich einmal mehr als höchst verführbar.

Die Gattung der Dystopie gilt als eine Reflexion von bereits versuchten Utopien: Jevgenij Samjatin liefert mit „Wir“ den Prototyp der neuartigen Romangattung.

Jevgenij Samjatin stellt dem Leser in seinem futuristischen Roman im Protokoll-Stil das Innenleben eines Individuums namens D-503 vor. Namen gibt es in diesem nach mathematischen Formeln durchorganisierten, gläsernen Staat nicht mehr. Individuen sind Nummern, männliche beginnen mit einem Konsonanten, weibliche mit einem Vokal. Dieser totale Staat, der als Ergebnis eines mythischen zweihundertjährigen Krieges entstanden war und der sich als UNION mit einem gottgleichen, sogenannten WOHLTÄTER an der Spitze konstituierte, übt eine fast perfekte Kontrolle über seine Nummern aus. Diese Kontrolle versteht sich als Notwendigkeit, um aus dem „unzivilisierten Zustand der Freiheit“ ungehindert ins Reich des totalen Glücks gelangen zu können. Nicht umsonst heißen die Angehörigen der allgegenwärtigen Geheimpolizei euphemistisch BESCHÜTZER. In einer ungewöhnlich poetischen Metapher werden sie gar als Dornen, die eine Rose beschützen, verklärt. Dieses Glück ist freilich berechnet und am Reißbrett als Schablone für jedermann entworfen worden. So gut wie nichts ist dem Zufall überlassen. Es gilt, die Natur als autonome Kraft auszuschalten und wo das noch nicht gelingt, sie zu domestizieren. D-503 bejaht diesen Staat in seinen Notizen vollauf. Er ist als Konstrukteur einer geheimnisvollen Raumfähre namens INTEGRAL, mit der das Staatsmodell des WOHLTÄTERS sogar ins All exportiert werden soll, in führender Funktion tätig.

Der Tagesablauf der Nummern ist penibel durchgetaktet. Der Arbeit für das System gilt der Sinn aller Existenz (ausgerechnet der kapitalistische Taylorismus wird als Vorbild angesehen), Spaziergänge finden in militärisch geordneten Reihen statt, weitere Strecken werden in Flugobjekten, den AEROS, zurückgelegt, die Mahlzeiten bestehen aus einer eigens entwickelten Kunstnahrung, die Kaubewegungen beim Essen sind auf 50 festgelegt und dem Zufall wird nur noch ein schmales Zeitfenster, die sogenannte PERSÖNLICHE STUNDE, zugestanden. Überhaupt ist dieser Staat noch vom Ideal einer lückenlosen Totalität entfernt. Die Schnittmenge zur Natur ist zwar winzig, aber immerhin noch vorhanden. Ein vom Staat verwaltetes Sexualleben sorgt für eine geordnete Triebabfuhr, in der tieferer Gefühle jedoch nicht gern gesehen werden.

Alles an Rest-Natur, die in der herrschenden Ideologie nur als Barbarei und Quelle allen Schmerzes angesehen wird, ist hinter einer ominösen GRÜNEN MAUER verbannt, was Kenner an die riesige Mauer von Westeros in der Serie Game of Thrones erinnern dürfte. Ein sogenanntes URALTE(S) HAUS in unmittelbarer Nähe zur GRÜNEN MAUER gilt als verwunschenes Relikt einer weit entfernten Vergangenheit, dem man am besten nicht zu nahe kommt. Leser, die in der Psychoanalyse bewandert sind, erkennen darin unschwer die Anspielung auf alles Verdrängte, mit dem sich D-503 schrittweise auseinandersetzen muss. Die noch vorhandenen Schlupfwinkel der Natur werden von einer Frau, I-330 genannt, geschickt ausgenutzt, um das System des WOHLTÄTERS zu untergraben. D-503 verliebt sich rettungslos in I-330, die ihn in kaum geahnte Gefühls- und Gewissenskämpfe zwingt und seine Loyalität dem System gegenüber auf eine harte Probe stellt. Im ganzen Roman, in der einzig die Perspektive von D-503 vorherrscht, wird allerdings nicht klar, ob auch I-330 echte Gefühle für ihn hegt oder ob sie sich die momentane Schwäche des Erzählers für ihre Widerstandsarbeit zunutze macht.

Im Verlauf der Protokollnotizen wird klar, dass nicht alle Nummern auf Linie sind und ein konspiratives Netzwerk mit dem seltsamen Namen MEPHI existiert, das die Kaperung der INTEGRAL vorbereitet, für welche die Verschwörer auf die Komplizenschaft von D-503, des Chef-Konstrukteurs, angewiesen sind. Als der Staatsstreich kurz bevorsteht, kommt es zur Katastrophe, da der Arm des WOHLTÄTERS sehr weit reicht, was der Realität in Totalitarismen entsprechen dürfte. Der Quantensprung, der in der Seele (im Urteil der System-Ärzte eine längst ausgerottete Krankheit) von D-503 vor der Realisierung stand, findet doch nicht statt. Wobei dies nicht ganz zutrifft, denn das System kann am Ende einen epochalen „Fortschritt“ verbuchen, da es seinen Ärzten gelingt, mit Hilfe einer GROSSEN OPERATION die letzten Residuen einer persönlichen Seele aus den Nummern zu entfernen. Dieser Eingriff wird zur Pflicht gemacht. In letzter Verzweiflung versucht D-503 seine Seele, Ort seines Glücks wie seines Unglücks, vor dem Eingriff zu bewahren und offenbart dabei die ganze Perversion des Regimes:

„Alle waren gerettet, doch für mich gab es keine Rettung mehr; ich möchte keine Rettung“

Zwar versucht die Natur durch den Einsturz der Mauer ihr verzweifeltes Comeback, doch das System des WOHLTÄTERS erweist sich als stabil. Auch D-503 wird schließlich der Operation unterzogen. Am Tisch des WOHLTÄTERS sitzend, darf er dann der Folter von I-330, die für ihn nur noch „diese Frau“ ist, beiwohnen. Ohne die geringste Rührung sieht er, wie sie unter der Gasglocke eisern schweigt, nichts preisgibt und gerade dadurch ein Stück Individualität bewahrt. Am folgenden Tag werden sie und weitere MEPHI-Angehörige in der sogenannten Maschine des WOHLTÄTERS hingerichtet. Das neue Koordinatensystem des Regimes ist der Endpunkt denkbarer Totalität oder in den Worten von D-503 ausgedrückt: „Das Ideal ist dort, wo nichts mehr geschieht.“

Abstraktionen und Emotionen lösen einander rasch ab, das macht den Roman nicht leicht zu lesen. Zudem erinnert die beschriebene Zukunft nach heutigem Geschmack eher an Science-Fiction-Filme der 1960er Jahre als an eine Dystopie. Gleichwohl besticht er durch beunruhigende Intuitionen, die in unserer Zeit wohl niemanden mehr verwundern können. Wenige Jahre nach seiner Fertigstellung würde im Stalinismus vieles wahr werden, was Jevgenij Samjatin vorausgeahnt hatte, war doch gerade der Stalinismus, vor allem in der Kollektivierungs-Offensive, eine barbarische „Zivilisationsbewegung, die von anderen als von zivilen Kräften getragen wurde“ (Gerd Koenen).

Samjatin, ein enttäuschter Bolschewik der ersten Stunde, konnte die Sowjetunion 1931 verlassen, entging dank der Intervention Maxim Gorkis dem unvermeidlichen Todesurteil und starb 1937 im Pariser Exil. Ein Originalmanuskript des Romans ist verschollen. 1958 kam eine deutsche Fassung heraus und in Russland ist er erst seit den 1990er Jahren wieder erhältlich.

Einen großes Revival des ersten dystopischen Romans ist nicht zu erwarten, was seine überzeitliche Botschaft nicht schmälert: Die planmäßige Organisation von Glück endet stets in flächendeckender Unfreiheit, besonders in dem Maße, in dem alle Bedingungen der Möglichkeit von Unglück abgeschafft werden sollen.   

Das Nationaltheater Mannheim brachte im vergangenen Jahr den vergessenen Roman auf die Bühne.

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