Im Schatten der Moderne

Tradition und Moderne sind inhärente Gegensätze. Warum aber der Traditionalismus ohne die modernen Umwälzungen nicht denkbar wäre, skizziert der Religionshistoriker Mark Sedgwick in seinem Essay über die Traditionalistische Schule.

Die Moderne ist kein relativer Begriff. Mit ihr sind tiefgreifende Transformationen des menschlichen Handelns und Denkens verwoben, die oftmals unter den Begriffen Individualisierung und Industrialisierung zusammengefasst werden. Zu der Entstehung der Moderne gehört allerdings auch eine ihr immanente philosophische Gegenbewegung, die durch die radikale Beschleunigung und Umgestaltung des menschlichen Geisteslebens herausgefordert wird: der sogenannte Traditionalismus.

Antimoderne Spiritualisten

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Zeit in der gesellschaftliche Auflösungserscheinungen spürbar werden und die Skepsis gegenüber der Fortschrittslehre wächst, ist das Bedürfnis, das Ewiggültige zu bewahren und eine göttliche Ordnung wiedereinzusetzen als Reaktion auf die großangelegten Umbrüche die logische Konsequenz. Der Traditionalismus liefert eine mögliche Antwort darauf: Die Rückkehr zu den religiösen Wurzeln des Weltverständnisses. Das bedeutet das Zusammenführen von primordialen Bruchstücken, um die eine Lehre herauszuarbeiten, die allen Völkern und Kulturen zugrunde liegt. Die moderne Welt muss ein derartiges Verständnis aufgrund ihrer materialistischen Ausrichtung a priori verdammen. Der Westen, der sich den quasireligiösen und unantastbaren Werten der Aufklärung verschrieben hat und die ganze Welt in seine Bahn zu zwingen versucht, hat sich am weitesten von dem Ursprung und der Tradition entfernt und steckt daher in einer geistigen und spirituellen Krise, so die Traditionalisten. Der Fokus der religiösen Quellensuche liegt schwerpunktmäßig im Orient, der religiöse Urelemente konserviert und weitergetragen habe. Der Großteil der Traditionalisten lässt sich bei der Suche nach wiederzubelebenden Ideen daher insbesondere von Hinduismus und Sufismus inspirieren. Nicht zuletzt deshalb sind einige Protagonisten zum Islam konvertiert.

Erschienen bei Matthes&Seitz.

Natürlich handelt es sich bei der Traditionalistischen Schule nicht um ein im akademischen Kontext kompatibles Phänomen, sondern um ein theoretisches Grundgerüst, das sich zunächst auf kleinere intellektuelle Kreise beschränkte. Allerdings wirkten einige Traditionalisten bereits früh bis in Regierungs- und hohe Gelehrtenzirkel hinein. Und auch heute noch werden interessante undogmatische Quer- und Selbstdenker wie Alexander Dugin oder Steve Bannon von Aspekten der integralen Tradition inspiriert. Doch es müssen nicht nur die politischen fringes sein, auch der Thronfolger des Vereinigten Königreichs Prinz Charles hegt Sympathien zu traditionalistischen Ansätzen. Besonders faszinierend wirkt auf den Religionshistoriker Mark Sedgwick die Symbiose, die östliche und westliche Philosophie (später auch Islamismus und Faschismus) eingegangen sind. In seiner minutiösen und jetzt auch auf Deutsch übersetzen Analyse „Gegen die moderne Welt“ spürt Sedgwick den antimodernen Spiritualisten nach und liefert das einzig ernstzunehmende Überblickswerk über jene in Deutschland wenig bekannte Gruppierung.

Vom Okzident zum Orient

Was auf den ersten Blick wie eine einheitliche Denktradition erscheint, ist bei näherer Betrachtung ein wildes Geflecht aus Ideen und Theoriebruchstücken von zumeist extravaganten Persönlichkeiten. So verschmelzen u.a. Elemente der Theosophie, Esoterik, Gnostik, Okkultismus und Islam. Da geben sich zaubernde Metaphysiker (Julius Evola) und in der französischen Fremdenlegion dissidierenden Offizierskindern (Graf Albert de Pouvourville) sowie anarchistische und später zum Islam konvertierte schwedische Maler und Wanderprediger (Ivan Agueli) die Klinke in die Hand. Der enorm einflussreiche und weit über seine Fachgrenzen hinauswirkende Religionswissenschaftler Mircea Eliade darf in einer derart illustren Runde selbstverständlich nicht fehlen.

Die Traditionalistische Schule ist ein hochkomplexes und in vielen Aspekten nicht zu entschlüsselndes Konstrukt. Trotzdem gelingt dem Autor die Herausarbeitung der inneren Zusammenhänge, indem er die ideengeschichtlichen Verknüpfungen der teils sehr unterschiedlichen Protagonisten analysiert: Im Zentrum und als Ausgangspunkt steht dabei die Philosophie der integralen Tradition, die zuvorderst auf den aus Frankreich stammenden esoterischen Querulanten Rene Guenon zurückgeht.

Bei einer rein theoretischen Konzeption ist es doch nicht geblieben. Der Traditionalismus findet in der Mitte des 20. Jahrhunderts über Umwege die Umsetzung in die Praxis. So wirkte Julius Evola auf die faschistische Bewegung Italiens ein und Shujon avancierte mit einer nicht unbeachtlichen Gefolgschaft zu einem der einflussreichsten Sufis im Westen. Der Traditionalismus findet durch die Amalgamierung mit unterschiedlichsten kulturellen Elementen sogar seine Echokammern in nicht-westlichen Sphären, beispielsweise durch Hossein Nasr im arabischen Raum oder durch Alexandr Dugin im russischen.

Die Umkehrung der Aufklärung

Es gab so gut wie keine philosophische oder religiöse Splittergruppe, in der Rene Guenon nicht nach Antworten auf die ihn umtreibende Frage zur Überwindung der „Krisis der Neuzeit“ gesucht hätte. Es gäbe also mehrere Winkel, aus denen man Guenon in den Blick zu nehmen versuchte: Unter anderem sowohl den des gebrochenen Katholiken als auch den des modernen Mohammedaners. Doch religiöse Etikettierungen sind für die Herausbildung seines Weltbildes nur von untergeordneter Bedeutung, führt er doch die für ihn wichtigsten Elemente aus unterschiedlichen religiösen Lehren synkretisch zusammen. Grundlegend für Guenons Weltbild ist die Infragestellung der lineare, positivistischen Geschichtserzählung, die ein Hauptaxiom der Aufklärung darstellt. Inspiriert durch das zyklische Geschichtsbild der vier Zeitalter des Hinduismus, in dessen letztem Stadium die Menschheit sich heute befindet (dem sogenannten Kali-Yuga) kehrt Guenon die Aufklärung um und interpretiert das Eintreten in die Geschichte als ein Abfall von Geistigkeit und Tradition. Der Bruch mit dem „Geiste der Überlieferung“ führe zum Wandel der allgemeinen Daseinsbedingungen des Menschen. Die gleichzeitige Abkehr vom Grundsatz jeder höheren transzendenten Ordnung lässt den Menschen in ein geistiges Vakuum fallen.

Ein Hang zu großer Neugier und abenteuerlicher Offenheit gegenüber dem Fremden wohnt den Traditionalisten also inne, wenn sie in fernöstlichen Religionen nach Lösungen für die spirituelle Krise des Westens suchen. Um das Verlustgefühl des eigenen „In-der-Welt-Seins“ jedoch überhaupt spürbar werden zu lassen, ist die Entstehung der Moderne aber ebenso notwendig wie der Kontakt mit anderen, vitaleren Kulturkreisen. So schildert Mircea Eliade den großen Eindruck, den seine Indienreise in jungen Jahren auf ihn machte. Dort erlebte er nach eigenen Aussagen allein durch den Kontakt mit hinduistischen Traditionen eine Katharsis und Rückführung zu seinem verlorengegangenen religiösen Weltempfinden. Traditionalismus und Moderne seien also „gemeinsam auf die Welt gekommen“, so Sedgwick.

Ausblick

Die dem Traditionalismus zugrundeliegende Philosophie hingegen lässt sich nicht allein auf reaktionäre Reflexe reduzieren. Sie ist zwar ein Angriff auf den Liberalismus und die aufklärerische Weltanschauung, denn es ist die „reine Geistigkeit“, die im Zentrum steht. Kritik an den Methoden und Herangehensweisen Guenons, die vor allem seitens der zeitgenössischen Geisteswissenschaft geäußert wird, läuft ins Leere. Die Philosophie der Tradition beruht auf gänzlich anderen Voraussetzungen als die der Aufklärung, weshalb die ohnehin kaum durch geistige Flexibilität glänzende Schreibtischzunft große Schwierigkeiten im Umgang mit undogmatischen Ansätzen hat.

Der Rückgriff auf Überlieferungen, die außerhalb der abendländischen Traditionen stehen, soll Neues hervorbringen und die westliche Zivilisation von innen heraus wiederbeleben. Es gilt, dieses Selbstverständnis ernstzunehmen, um die inneren Mechanismen des Traditionalismus zu verstehen und mögliche Auswege aus der lang andauernden geistigen Ödnis der modernen Welt zu suchen.

Sedgwick tut dies und konzentriert sich auf den rund 500 Seiten, die einen ausführlichen Literaturapparat beinhalten, vordergründig auf Praxis und Wirkung der Traditionalistischen Schule. Wenn dadurch die philosophischen Aspekte etwas in den Hintergrund geraten und letztlich unklar bleibt, was genau den philosophischen Kern der Tradition ausmacht und wie sich diese von Theosophie oder der philosophia perennis abgrenzen lässt, ist das kaum die Schuld des Religionshistorikers. In diesem Kontext muss vielmehr erneut auf die Vielschichtigkeit und innere Differenz der spirituellen Antimodernisten hingewiesen werden.

Kann man in Anbetracht dessen tatsächlich von einer Schule sprechen? Sedgwick würde diese Frage zweifelsohne bejahen, sofern sich alle Standpunkte auf die Lehre Guenons rückführen lassen. Wer sich auf eine unzeitgemäße Suche abseits ideologischer Pfade begeben will, findet hier sicherlich einiges an Möglichkeiten die gegenwärtige Lage zu analysieren und im Zeichen vermeintlich ewiggültiger Lehren zu spiegeln; als politische Handlungsanweisungen sollte man die Traditionalisten hingegen nicht lesen.

Literatur:

Mark Sedgwick, Gegen die moderne Welt. Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, Matthes&Seitz 2019. Hier erhältlich.

Traditionalistis, der private Blog von M. Sedgwick.

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