Sufismus: Der immaterielle Weg des Mystikers

Häufig wird der Islam auf den Koran und seine politischen Stoßrichtungen verengt. Doch auch der Islam kennt eine innere Artenvielfalt, zum Beispiel den Sufismus.

Der Weg des Mystikers ist immateriell. Sein Ziel ist es hinter den Vorschriften des Korans den tieferen und inneren Sinn der Worte Gottes zu erfahren, nicht durch Wissen, sondern durch fühlbare Vertrautheit. Die Welt erscheint dem Mystiker vergänglich, deswegen will er die direkte Beziehung zu Gott, gar eine emotionale Liebesbeziehung. Von geringerer Bedeutung ist ihm dabei der sogenannte Gesetzes-Islam, der mit der Scharia seine äußerliche Erscheinungsform gewinnt und durch seine geringere Bedeutung von Riten geprägt ist. Das Sufitum will die für den sunnitischen Islam typische Distanz zu Gott überwinden.

„Die Asketen betrachten die Schönheit des Paradieses mit dem Lichte und der Gewissheit des Glaubens und verachten die Welt.“

Die innere Dimension des Islam

Die islamische Mystik wird unter dem Begriff Sufismus zusammengefasst. Er leitet sich von dem Wort „Wolle“ (suf) ab, da die Asketen in der Regel ein weißes Wollgewand als Symbol ihrer rituellen Reinheit tragen. Ausgangspunkt des Mystikers ist wie bei jedem Muslim der Koran, doch seine Schwerpunktsetzung ist eine andere, denn Gottesfurcht und -vertrauen sind sein Antrieb. Er strebt eine emotionale Beziehung zu Gott an, mit dem Ziel Gott zu erkennen und zu erfahren. Dabei ist es wichtiger diese Erkenntnis zu erlangen, als seine religiösen Pflichten zu erfüllen. Grundsätzliches, wie die Allmacht Gottes, das Vertrauen auf die Offenbarung des Korans und die Verehrung des Propheten wird jedoch nicht in Frage gestellt.

Der Sufismus stellt die innere Dimension des Islam dar, die unzählige Erscheinungsformen und Ausprägungen kennt, gerade weil die Praktiken der Mystiker auf volkstümliche Bräuche aus vorislamischer Zeit zurückgehen. Bekannte Sufi-Praktiken sind intensive Ritualgebete, langes Fasten, das schlichte Denken an Gott, die Tänze der Derwische oder einfach das Wiederholen der 99 schönsten Gottesnamen. Vorbild eines jeden Sufi ist die Himmelsreise des Propheten (Sure 17,1), durch die Mohammed die unmittelbare Nähe Gottes erfuhr. Weil Mohammed aber keine Inkarnation Gottes ist, besitzt jeder Muslim potenziell die Fähigkeit, ähnliche Erfahrungen zu machen, vorausgesetzt man wählt den asketisch-mystischen Weg.

Der Heilige Krieg des Mystikers

Furcht vor dem Gericht Gottes ist neben der Barmherzigkeit Gottes, ein zentraler Bestandteil in dem Gottesverständnis der Sufis. Die Furcht hemmt den Menschen und lässt ihn nicht leichtfertig werden, denn der Mystiker handelt stets mit Bedacht. Ferner wird der Krieg gegen das Böse, die weltliche Verführung, bei den Mystikern oft als „Heiliger Krieg“ gegen die böse Seele verstanden. Am Ende dieses spirituellen Weges steht nur noch Gott. Kein Eigenwille äußert sich mehr, die Seele ist rein und die Gottesliebe vorherrschend. Wobei diese Gottesliebe auch mit praktischer Nächstenliebe zu anderen Muslimen zusammenhängt. Eine solche Vorstellung der Gnosis bzw. der Gotteserkenntnis findet sich auch in der Mystik des Christentums wieder.

Beseitigt muss all das werden, was zwischen dem Mystiker und Gott steht: das Weltliche, die Gesellschaft und der Mensch. Reichtum findet der Mystiker in Gott. Wenn man den Weg des Mystikers einschlägt, geht man ein Verhältnis mit einem Meister ein. Dieser leitet den Sucher auf den Weg der vielen Stufen (in der Regel sieben), die ein Mystiker auf dem Pfad zu Gott bestreiten muss. Da der Weg zu Gott voller Trugbilder ist, wird Erfahrung benötigt, diesen zu erkennen. Gottesvertrauen, Geduld und Dankbarkeit sind dabei existenziell.

Orden und Bruderschaft: Derwisch

Ein Orden oder eine Bruderschaft der Sufis, auch unter dem Wort Derwisch bekannt, zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass sich eine gewisse Anzahl von Schülern um einen Meister sammeln. Dieser wird außerordentlich verehrt und ihm wird großes Vertrauen entgegengebracht. Die Hochzeit der Ordensgründungen und des Sufismus ist auf das 10. bis 12. Jahrhundert zu datieren. Gleichzeitig haben sich verschiedene Orden mehr oder weniger unabhängig voneinander entwickelt und stehen teilweise in Konkurrenz zueinander.

Der gesellschaftliche und politische Einfluss der Orden ging allerdings tiefer, als man zunächst vermutet. Gerade im Kampf gegen die Kolonialherrschaft, beispielsweise in Algerien, waren die Bruderschaften sehr aktiv und leisteten sogar militanten Widerstand. Gleichzeitig hatten die Meister der Orden einen sehr starken Einfluss auf ihre Mitglieder, sodass sich aus ihr heraus eine starke politische Kraft entwickeln konnte. Durch die hohe Anzahl von Händlern in ihren Reihen konnten standen die Orden im Austausch mit fremden Gebiete, um dort zur Verbreitung des Islam beizutragen, wie beispielsweise in Nordafrika.

Die Kritik der Reformer

Eine Ferne zum Gesetzes-Islam, die den Mystikern zugesprochen wird, und sich für Westler gerade aus der Tatsache ergibt, dass in der Geschichte mehrere Sufis als Ketzer hingerichtet worden sind, lässt sich allerdings nicht verallgemeinern. Festzuhalten gilt aber, dass die Spielarten des sunnitischen Islam ein grundlegend anderes Verständnis des Korans pflegen, als das Sufitum. Trotzdem ist der Sufismus unverkennbar aus dem Islam bzw. dem Koran selbst entstanden – auch wenn andere philosophische Elemente aus dem Christenturn und dem Hellenismus aufgegriffen wurden.

Durch die starke Fixierung auf Mohammed und die Verehrung anderer Mystiker wurde den Sufis von sunnitischer Seite oft der Vorwurf der Ketzerei gemacht, da deren Heiligenverehrung nicht aus dem Koran hervorgehe und somit nicht legitimiert sei. Ferner würden einige Sufis die religiösen Pflichten missachten. Durchaus gibt es einige Mystiker, die durch ihr eigenartiges Auftreten und den starken Konsum von Opium oder Haschisch von der gesellschaftlichen Norm, der surma, abweichen.

Wenn Kritik in Verfolgung umschlägt …

Die rituelle Nähe zu den vorislamischen Volksreligionen wurde seitens der islamischen Reformer, speziell im 18. Jahrhundert, stark kritisiert. Diese seien dekadent und rückschrittlich. Außerdem sei der Mensch ein ergebener Diener und könne gar keine intime Beziehung zu Gott eingehen. So verstehen sich auch die Reformer der Wahhabiten in Saudi-Arabien stark als Gegenbewegung zum Sufismus und dessen Abweichen von der eigentlichen religiösen Lehre. Dies drücken die Reformer in ihrer dogmatischen Fixierung auf das geschriebene Wort Gottes und die wörtliche Auslegung aus.

Sufis leiden gerade in sunnitisch dominierten Ländern und speziell in Saudi-Arabien unter starker Verfolgung. Im Schiitenturn ist der Sufismus bereits etwas populärer. Seit der islamischen Revolution im Iran ist die Mystik gar ein Teil der theologischen Ausbildung geworden. In Deutschland leben heute rund 1000 Sufis.

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