Ein Wegweiser für Konservative und solche, die es werden wollen

Roger Scruton liefert eine grundlegende konservative Philosophie und eine Kritik des gegenwärtigen Zeitalters: Eine Verteidigung der Religion, der Schönheit und menschlicher Beziehungen.

In seinem Buch „How to be a Conservative“ im Jahr 2014, also noch vor der Zuspitzung des Migrationsproblems im darauffolgenden Jahr und noch bevor der Brexit in Sicht war. Doch Scrutons Argumente für den Nationalstaat, für die Unverzichtbarkeit von Grenzen und seine Warnungen vor den erodierenden Wirkungen unkontrollierter Immigration sollte man gerade heute zur Kenntnis nehmen und durchdenken, auch um das Vermächtnis des kürzlich verstorbenen Philosophen zu bewahren. Über die erwähnten Themen und das tagespolitisch Aktuelle hinaus bietet Scrutons Buch Skizzen zu einer grundlegenden konservativen Philosophie und eine Kritik des gegenwärtig Zeitalters, eine Verteidigung der Religion und der Schönheit sowie zahlreiche Exkurse zu Themen wie Freundschaft in Zeiten des Internets, Pornographie und moderne Kunst. Zu all dem hat Scruton Relevantes und Fundiertes zu sagen.

Wenn man „How to be a Conservative“ kritisieren möchte, dann allenfalls deshalb, weil aufgrund der Vielzahl der Themen und aufgrund des überschaubaren Umfangs kein Gebiet erschöpfend behandelt wird. Doch in vielen Fällen können interessierte Leser dafür auf andere Bücher Scrutons zurückgreifen.

Definition des Konservatismus

Der Konservative weiß, dass es leichter ist, eine Ordnung zu zerstören, als sie aufzubauen. Aus diesem Grund wird er das Gewachsene stets vor den Zumutungen einer entfesselten Modernisierung bewahren wollen. Gleichzeitig weiß der Konservative aber, dass gerade sein Anliegen, dem Erbe der Vorfahren und dem Tradierten treu zu bleiben, dessen Veränderung notwendig machen kann. „We must be modern in defence of the past“ (4), heißt es bei Scruton, der so die Avantgardisten Arnold Schönberg und T. S. Eliot als Konservative verstehen kann. Ihre Neuerungen auf den Gebieten der Musik und der Lyrik dienten dem Zweck, das große Erbe dieser Kunstformen in eine neue Zeit hinüberzuretten. Hier wird deutlich: Konservatismus hat nichts mit einem Konservieren des Althergebrachten um jeden Preis zu tun. Stillstand und Sklerose sind nicht im Sinne des Konservatismus, der vielmehr auf ein Bewahren des Lebens und der Lebendigkeit zielt.

Die Grundlage der konservativen Philosophie Scrutons bildet seine Auffassung der Gesellschaft: Er betrachtet diese (mit Edmund Burke) als Verbindung von Toten, Lebenden und noch Ungeborenen. Die Lebenden sind den Toten und den Ungeborenen verantwortlich im Empfangen, Erhalten und Weitergeben des Erbes. Nicht ein Gesellschaftsvertrag sichert den Zusammenhalt, sondern das präreflexive Wir einer Schicksalsgemeinschaft.

Zudem ist Michael Oakeshotts Unterscheidung zwischen zweckgebundenen und zweckfreien Assoziationen (enterprise associations versus civil associations) grundlegend für Scruton. Die bürgerliche Gesellschaft ist Selbstzweck. Sie findet ihre Daseinsberechtigung nicht, wie etwa ein Wirtschaftsunternehmen oder eine Armee, in einem außerhalb von ihr liegenden Zweck, sondern indem sich ihre Mitglieder wechselseitig anerkennen und so einander Sinn und Beheimatung schenken. Wechselseitige Abhängigkeiten erzeugen den Zusammenhalt und die soziale Teilhabe der Mitglieder. Oakehotts Dichotomie wurde im deutschen Sprachraum bisher kaum aufgenommen, ist aber vergleichbar mit Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.

Nationalstaaten und ihre Sozialsysteme

Der Begriff des Volkes (people) spielt in Scrutons angelsächsisch geprägtem Konservatismus keine ebenso zentrale Rolle wie im deutschen Konservatismus. Für Scruton ist die Identität einer Nation in erster Linie durch die Kohabitation der Mitglieder in einem gemeinsamen Staatsterritorium begründet und nicht ethnisch (vgl. 37). Dennoch ist sich Scruton dessen bewusst, dass zu große Ungleichheiten zwischen den Bewohnern eines Nationalstaates (seien es nun wirtschaftliche, religiöse oder ethnische Ungleichheiten) das präreflexive Wir gefährden. Auf diese Weise wird nicht nur der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Verbindlichkeit der jeweiligen Ordnung geschwächt, sondern es werden auch die Voraussetzungen für friedlichen Dissens und Opposition unterminiert. Dissens und Opposition wiederum sind wesentliche Bestandteile einer funktionierenden Demokratie. Weil Demokratie in diesem Sinne den intakten Nationalstaat braucht und dieser wiederum auf einem begrenzten Territorium beruht, kommt Scruton zu der wichtigen Schlussfolgerung: „democracy needs boundaries“ (36).

Versteht man Patriotismus als friedliches Gemeinschaftsgefühl, als Bewusstsein, gemeinsam ein begrenztes Territorium zu bewohnen und zu gestalten in Verantwortung vor den Nachbarn, den Vorfahren und den Ungeborenen, dann ist er nicht nur unschädlich, sondern geradezu unverzichtbar. Wird Patriotismus hingegen zum Religionsersatz und verbindet er sich mit einer fanatischen Abwertung und Ablehnung des Fremden, dann wird er gefährlich (vgl. 32).

Der Sozialstaat (welfare state) beruht auf der Solidarität und der wechselseitigen Abhängigkeit der Bürger eines Nationalstaates. Er ermöglicht auch denjenigen soziale Teilhabe, die sonst – aus welchen Gründen auch immer – außen vor bleiben würden. Scruton befürwortet den Sozialstaat und hält die soziale Frage für einen wesentlichen Aspekt konservativen Denkens und konservativer Politik. Gleichzeitig übt er Kritik an den Defekten des Sozialstaats (vgl. 42f.): Er schafft eine Klasse von Menschen, die für ihr Überleben von Sozialleistungen abhängig sind und die niemals von ihrer eigenen Arbeit leben konnten. Zudem neigen Sozialsysteme zur Überdehnung ihrer Leistungen, was wiederum auf Kosten künftiger Generationen geht.

Der große Irrtum linker Politik liegt nach Scruton darin, dass sie davon ausgeht, erwirtschafteter Reichtum stehe grundsätzlich dem Staat zur Verfügung. In Wahrheit kann der Staat aber nur umverteilen, was bereits anderen gehört. Diese Tatsache wird beispielsweise auch in John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ systematisch verkannt (vgl. 45). Die Gefahr der Sozialpolitik besteht in einer übertriebenen Gleichmacherei, die das Gewachsene zerstört und berechtigte Besitzansprüche verkennt.

Einen noch schwereren Irrtum linken Denkens erkennt Scruton in der Auffassung, dass die Ökonomie ein Nullsummenspiel sei (vgl. 46f.). Danach sind die Gewinne des einen die Verluste des anderen. Konkret: Die Reichen sind reich, weil sie die Armen ausbeuten. Wenn jemand etwas besitzt, dann deswegen, weil er es anderen genommen hat. Noch krasser formuliert: „Eigentum ist Diebstahl“. In Wahrheit aber gibt es auf freien Märkten zahlreiche Beispiele für ökonomische Transaktionen, von denen alle Beteiligten profitieren. Warum sollten diese sich auch sonst darauf einlassen? Und wenn jemand wohlhabend ist und verantwortungsvoll mit seinem Besitz umgeht, profitieren alle Mitglieder der Gesellschaft davon.

Probleme der Ökonomie

Sollte der Konservative den Kapitalismus verdammen oder gegen Angriffe von links verteidigen? Scrutons Beantwortung dieser Frage ist – wie bei allen Fragen, auf die er in seinem Buch eingeht – nuanciert und differenziert. Als zentrale Wahrheit des Kapitalismus stellt Scruton heraus, dass Privatbesitz und freier Handel in jeder größeren Ökonomie notwendig sind (vgl. 54). Gleichzeitig ist es aber auch wahr, dass der freie Markt Rahmenbedingungen und soziale Bindekräfte benötigt, was auch liberale Denker wie Friedrich August Hayek durchaus anerkannten. „Those who believe that social order should place constraints on the market are therefore right. But in a true spontaneous order the constraints are already there, in the form of customs, laws and morals.“ (56)

Dies vorausgesetzt, lässt sich die neoliberale These bejahen, dass allzu große planwirtschaftliche Eingriffe des Staates in die Selbstorganisation des Marktes eine Volkswirtschaft ruinieren. Denn wenn der Staat die Preise von Gütern festsetzt, gehen jene unverzichtbaren Informationen über die Menge und den Bedarf an Gütern verloren, die in den Marktpreisen enthalten sind. Diese Tatsache legitimiert die konservative Kritik an planwirtschaftlichen Eingriffen in freie Märkte.

Das heißt jedoch nicht, dass der Konservatismus auf jede Kapitalismuskritik verzichten sollte. Der Kapitalismus hat (ebenso wie der Patriotismus) die Tendenz, pseudoreligiöse Züge anzunehmen. Deshalb beschrieb Walter Benjamin in einem Fragment, das Scruton nicht erwähnt, den Kapitalismus als Religion. Wenn der Kapitalismus zur Religion wird, dann wird alles der Herrschaft des Geldes und den Mechanismen des Marktes unterworfen – auch jene Güter, die niemals käuflich sein sollten. Es entwickelt sich ein verwerflicher Götzendienst des Geldes und des freien Marktes. Karl Marx hat diese Tendenz in seinen Überlegungen zum „Warenfetischismus“ im ersten Band des „Kapitals“ bereits gesehen. Hier ergeben sich nach Scruton (vgl. 62) Anknüpfungungspunke für eine fruchtbare konservative Marx-Rezeption.

Kritik des Liberalismus und des Multikulturalismus

Der Liberalismus umfasst die Idee universeller Menschenrechte. Diese sind jedoch ursprünglich in erster Linie als Abwehrrechte gegen den Staat konzipiert:

„The doctrine of human rights is there to set limits to government, and cannot be used to authorize any increase in government power that is not required for the fundamental task of protecting individual liberty.“ (70)

In der Umwandlung dieser Abwehrrechte in Anspruchsrechte und in deren inflationärer Zunahme wird der liberale Grundgedanke nach Scruton pervertiert. Statt die Eingriffe des Staates auf das wirklich Nötige zu beschränken, nimmt so die staatliche Einmischung in einer Weise zu, die die individuelle Freiheit bedroht. In ihrer Interpretation als Anspruchsrechte werden die Menschenrechte zum Einfallstor für unkontrollierte Immigration. Denn wenn ein universeller Anspruch auf umfassende Versorgung oder gar auf Wohlstand besteht, liegt es nahe, dass Einwanderern diese Forderungen gewährt werden müssen.

Der Multikulturalismus reagiert dann auf die Tatsache, dass aufgrund der Immigration Mitglieder unterschiedlichster Kulturen auf einem gemeinsamen Staatsgebiet zusammenleben. Sofern er für eine Gesellschaft plädiert, die nicht durch die Bande von Religion oder Abstammung zusammengehalten wird, sondern durch eine gemeinsame Zivilkultur, hat der Multikulturalismus ein Anliegen, das auch Scruton anerkennt. Problematisch wird es, wenn eine nicht mehr assimilierbare Anzahl von Einwanderern die Integration von Neuankömmlingen in die bestehende Zivilkultur unwahrscheinlich macht. Wenn dann der Multikulturalismus in eine Abwertung des Eigenen im Namen von Inklusion und Nicht-Diskriminierung sowie in den Relativismus eines „anything goes“ umschlägt, wird er destruktiv. Der übersteigerte Liberalismus zerstört so seine eigenen Voraussetzungen. Er zerstört die kulturelle Einheit, die ja auch nach Ernst-Wolfgang Böckenförde eine der Voraussetzungen eines funktionierenden säkularen Staates ist. Scruton stellt fest: „Political order […] requires cultural unity, something that politics itself can never provide.“ (80)

Umweltschutz und Internationalismus

Scruton hat seine Auffassung, dass der Konservatismus den Umweltschutz für sich reklamieren sollte, in dem Buch „Green Philosophy“ ausführlich begründet. Auch in „How to be a Conservative“ widmet er diesem Thema ein eigenes Kapitel. Darin vertritt er die Ansicht, dass Umweltschutz national und lokal ausgerichtet sein sollte, nicht international und global. Denn die stärkste Motivation für Umweltschutz und für die Korrektur von Verhaltensweisen, die der Umwelt schaden, ist die Beheimatung, die eine schöne und intakte Landschaft ihren Bewohnern gewährt. Die quasireligiösen Züge, die der Umweltschutz als „Klimaschutz“ annimmt, betrachtet Scruton mit großer Skepsis. Das Problem des Klimawandels sollte nicht alle anderen Probleme des Umweltschutzes in den Hintergrund treten lassen. Außerdem sollte der „Klimaschutz“ nicht dazu missbraucht werden, den Abbau nationaler Souveränität zu begründen.

Dieser Abbau nationaler Souveränität wird nicht nur durch einen drohenden Klimawandel, sondern auch durch ein Verdikt gegen jede Form des Patriotismus und des Nationalismus gerechtfertigt. Solches Denken steht jedoch im Gegensatz zum Konservatismus: „Conservatism is not, by nature, internationalist, and is suspicious of all attempts to control the legislation and government of the country from a place beyond its borders.“ (105) Zwar gibt es auch im Internationalismus eine wichtige Wahrheit: Souveräne Staaten kann man als Rechtssubjekte ansehen, die mit anderen Staaten mithilfe eines Systems von Rechten, Pflichten und Verantwortlichkeiten in Austausch treten. Verträge sollten jedoch stets im Interesse der unterzeichnenden Staaten sein – scheinbar eine Binse, die man aber in Zeiten einer Verachtung des Eigenen und eines Internationalismus „um jeden Preis“ nicht genug betonen kann. Scruton erwähnt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1954 als Beispiel für einen Vertrag, der heute nicht mehr im Interesse der Unterzeichner ist, da er zum Einfallstor für eine massenhafte Immigration wird (vgl. 116). Wenn Scruton die gegenwärtige EU als bürokratisch und undemokratisch kritisiert (vgl. 108), dann spürt man die Kraft der Argumente, die einige Jahre nach der Publikation von „How to be a Conservative“ zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU geführt haben.

Wertsphären

Es gibt Dinge, die Selbstzweck und nicht bloße Mittel sind. Sie sind nicht für anderes da, sondern bilden Sphären, in denen das Streben der Menschen zur Ruhe kommt, weil diese Sphären an sich selbst wertvoll und gut sind. Scruton bezeichnet sie als realms of value, was ich als „Wertsphären“ übersetze. Ein wesentliches Anliegen konservativen Denkens ist die Würdigung und Verteidigung der Wertsphären, von denen Scruton einige näher beschreibt: Religion, Familie und Ehe, Arbeit, Freundschaft, Feste, Kunst und das Schöne.

Diese Wertsphären werden nicht durch die Politik und den Staat erhalten und geschützt, also sozusagen nicht „top-down“, sondern „bottom-up“, durch die Zivilgesellschaft und jeden Einzelnen. „The truth in conservatism is that civil society can be killed from above, but it grows from below. It grows through the associative impulse of human beings, who create civil associations that are not purpose-driven enterprises but places of freely sustained order.“ (124) Hier das Heil von der Politik zu erhoffen, führt zu überzogenen Ansprüchen an den Staat. Zwar muss dessen Handeln die Rahmenbedingungen für das Leben der Menschen in Wertsphären schaffen (in erster Linie Sicherheit und Ordnung), es kann diese Sphären aber aus eigener Kraft weder schaffen noch erhalten, geschweige denn aufblühen lassen. Hier ist der Punkt, an dem jeder Einzelne gefragt ist, mit gutem Beispiel voranzugehen: mit authentischer gelebter Religiosität, mit sinnvoller, produktiver Arbeit, mit freundschaftlicher und ehelicher Treue, mit der Pflege des Familienlebens, dem Schutz der Schönheit von Städten und Landschaften und nicht zuletzt mit einer bewussten Würdigung des Wertes von großen Kunstwerken aus dem Erbe der eigenen Kultur oder fremder Kulturen – alles Dinge, die weit über das Ausfüllen eines Wahlzettels oder das Schreiben eines Kommentars im Internet hinausgehen.

Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf: Roger Scruton: How to be a Conservative. London: Bloomsbury 2014. Eine deutsche Übersetzung ist verfügbar unter dem Titel „Von der Idee, konservativ zu sein“.

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