Von der Geschichte lernen? – Ein Blick auf Michael Oakeshott

Im „Der Mythos des Sisyphos“ von Albert Camus stößt man auf den Satz: „Die Welt entgleitet uns, da sie wieder sie selbst wird“. Diese existenzielle Fremdheit, die den Philosophen des Absurden umtrieb, trifft man in sensiblen Augenblicken nicht nur im eigenen Leben wieder, sondern ebenso im globalen Phänomen der Geschichte. Das vergangene (und verbrauchte) Leben wird in der Erinnerung des Menschen gleichsam konserviert und ist der geistigen Verfügungsgewalt des sich Erinnernden ausgeliefert, was ihrer Verfremdung Tür und Tor öffnet. Es wandelt sich in der Erinnerung, passt sich den Seelenzuständen sowie der Erinnerungskraft an, wird entweder verklärt oder verdammt und vor allem bemüht, um die Gegenwart zu deuten oder gar zu lenken.

Der vermeintlich pädagogische Gehalt der Geschichte, welcher vor allem in Deutschland in der Dauer-Mahnung gipfelt, sie dürfe sich nicht wiederholen, wurde vom englischen Philosophen und Historiker Michael Oakeshott in Zweifel gezogen. Kann und will Geschichte etwas lehren? Und wenn ja, was eigentlich? 

Geschichte und Geschichten

Foto von Library of the London School of Economics and Political Science [No restrictions], via Wikimedia Commons
Michael Oakeshott (1901-1990) wollte die Geschichte und den Menschen voreinander schützen und nebenbei die Geschichtswissenschaft vor dem hermeneutischen Zugriff der Ideologien. Damit hoffte er zugleich, den tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex der Geisteswissenschaften zu überwinden, indem er sie auf ihr Ureigenstes, den menschlichen Geist, zurückführte. Ihm gelte es in den geschichtlichen Phänomenen auf die Spur zu kommen. Nach Oakeshott gibt es in der Geschichte kein Depositum fidei, das gläubig angenommen werden müsse, ebenso wenig wie ewige Naturgesetze, nach denen sie abliefe. Es ging ihm allein um Erkenntnis über den menschlichen Geist, über seine Größe, seine Schwächen, seine Wandlungsfähigkeit und über seine Verführbarkeit durch andere Kräfte im Ringen um die Aneignung von Wirklichkeit. Wer an die Geschichte Fragen wie an die Pythia von Delphi richtet, wird von ihr ebensolche mehrdeutigen Antworten erhalten und in fataler Verwirrung enden, soviel stand für ihn fest. Keine Antworten auf Gegenwartsfragen oder Stoff für Prediger, sondern Erkenntnis über die geistigen Gangarten des Menschen wollte Oakeshott destillieren. „Oakeshott hat der Menschheit keine inhaltlichen Lehren zu übermitteln“ (Till Kinzel, Michael Oakeshott). Das machte ihn, den Spinozisten unter den Historikern, zu einem Außenseiter seiner Zunft. Seine Werke, wie „Experience and Its Modes“ (1933), „On Human Conduct“ (1975) oder die Essaysammlung „On History“ (1983), aus der „The Tower of Babel“ stammt, sind nie populär geworden. Renommiertere Kollegen, die mit der Historie an den Puls der Zeit gingen, bedachten sie überwiegend mit höflichem Schweigen.

Sein geistiger Werdegang beginnt im Umkreis der gemäßigt sozialistischen Fabian Society, in der schon sein Vater Mitglied gewesen war. In seiner Jugend wird sich Oakeshott als Sozialisten bezeichnen, doch meinte er damit eher eine spirituelle Haltung, denn ein ideologisches Gerüst. In den 20iger Jahren studiert er Geschichte am Gonville and Caius College in Cambridge, wo er ab 1925 den Status des Fellow erhält. Ab 1927 bis 1948 wird er dort Geschichte lehren. Im Zweiten Weltkrieg dient Oakeshott als Offizier in der legendären Nachrichtendiensteinheit „Phantom“, was ihn mehr prägen sollte, als man annehmen möchte. 1951 wird er Professor für Politikwissenschaft an der London School of Economics, einer Gründung der Fabian Society und wird es bis zu seiner Pensionierung 1969 bleiben. Eine gewisse Bekanntheit werden seine Seminare zur politischen Ideengeschichte erlangen. Auch als Emeritus bleibt Michael Oakeshott bis 1980 dem akademischen Betrieb erhalten.

Michael Oakeshotts Annäherung an Geschichte geschieht gern über ihre Bestandteile, d. h. über Geschichten, die Ereignisse und Sachverhalte erzählend tradieren. Für Michael Oakeshott ist die Geschichtsschreibung viel eher der Ideologisierung ausgeliefert, als ihre Rekonstruktion im Erzählen, in der Konversation, weshalb man ihm oft einen sokratischen Zug unterstellte, wohl nicht ganz zu Unrecht. Einer dieser Geschichten, die Geschichte machten und Stoff für allerlei hermeneutische Operationen liefert, ist die Legende vom Turmbau zu Babel aus der Genesis (Gen 11, 1-9). Michael Oakeshott ist vor allem durch seine originelle wie tiefgründige Nacherzählung dieses Mythos bekannt geworden.

Betreten auf eigene Gefahr: der Turmbau zu Babel

Gleich in der Einleitung seines Essays beschreibt Oakeshott den „Sitz im Leben“ von Geschichte bzw. Geschichten im Bild des Flusses, der, frei nach Heraklit, niemals derselbe sei, sondern die Färbung der Landschaften annehme, durch die er fließt. Das gilt besonders für Geschichten, die ein Menschheitstopos behandeln. Der Turmbau zu Babel, wie ihn das Alte Testament knapp überliefert, findet sich in Variationen ebenso in anderen Kulturen (von den Chaldäern bis zu den Kelten). Immer gehe es einerseits um die „limitless wants“ (Oakeshott, The Tower) des Menschen, andererseits um die traumatischen Erfahrungen mit seiner Geschöpflichkeit, die den Menschen mitunter zu radikalen Maßnahmen verleiten können, „to deal radically with an insecurity that had become an obsession“ (Oakeshott, The Tower).

Nimrod wird in Babel, der Stadt der Freiheit, wie sie sich nennt, zum Helden, der den Bürgern mit dem tollkühnen Projekt eines Turmbaus bis zum Himmel Schutz vor Gott wie vor der Natur verspricht. Je höher der Bau, desto tiefer sollen Gott und die Natur unter den Willen des Menschen gezwungen werden. Oakeshott stellt die Überlieferungsstränge dieser Geschichte vor und kommentiert sie. Ab einem bestimmten Punkt versetzt er die Geschichte dann in einen uns bekannten zeitgenössischen Rahmen. Sie wird zur Parabel einer modernen civitas cupiditatis, welche in ihrem Mittelmaß dahinlebt, ohne große Tugenden und Laster, in gepflegter Langeweile, ganz in der Art verwöhnter Kinder. Nimrod, der die Pose eines Populisten einnimmt, erweckt in den eher lethargischen Bewohnern ganz neue Bedürfnisse und stellt die Entgrenzung des natürlichen Umfelds als neues Paradies in Aussicht. Unter dem Schlagwort der utilitas publica und unter Aufbietung aller propagandistischen Geschütze, lässt er für den Turmbau alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren. Mit typisch britischem Humor vermerkt der Erzähler nebenbei, dass die Propaganda sogar bis in die kulinarischen Gewohnheiten reiche, da Restaurants nun ein „Steak à la Tour“ (Oakeshott, The Tower) auf der Speisekarte hätten. Der Bau schreitet voran, anfangs durchaus im gemeinsamen Konsens der beteiligten Bürger. Doch je länger er sich hinzieht, je monotoner die Arbeitsabläufe werden, je größer die Einschränkungen, desto mehr wird den Einwohnern Babels bewusst, wie sehr sie Nimrod über die letzten Ziele seiner Vision im Unklaren gelassen hat.

Mit der Zeit schieben sich zudem die negativen Begleiterscheinungen dieses Mammutprojektes unverkennbar in den Vordergrund. Zum Schluss müssen gar Häuser abgetragen werden, um überhaupt an Material zu kommen. Das einst stolze Babel sinkt herab zu einer Zeltstadt. Mit der sich ausbreitenden Erschöpfung, Oakeshott beschreibt die Bewohner treffend als „emotionally exhausted“ (Oakeshott, The Tower), kommen die Zweifel an Nimrod, der gegen Ende wie ein Moses einsam auf der höchsten Plattform schweigend dem Himmel gegenübersteht. Nachdenklich und schweigend steigt er herab und überlässt seine Mitbürger ihrem nagenden Zweifel, der sich zum Misstrauen auswächst. Die Katastrophe ereignet sich, als Nimrod eines Tages vom Erdboden verschwunden ist und allerlei Gerüchte über seine vermeintliche Entrückung in den Himmel wie ein Lauffeuer die Runde machen. Das lang köchelnde Misstrauen und der heruntergeschluckte Frust machen einer jähen Panik Platz. Alles, klein wie groß, stürzt mit einem Mal in den Turm, der solch eine Massenpanik in seinem Treppenhaus nicht lange aushält und in sich zusammenbricht wie „a tired man falling asleep as he stands“ (Oakeshott, The Tower). Oakeshott lässt seine Variante zu Ende gehen mit einem Vers, der auf dem babylonsichen Trümmerfeld Zeugnis gibt von der grundsätzlichen Nähe zwischen Himmel und Hölle hier auf Erden.

Autopsie statt Predigt: eine Methodenlehre

„Du sollst Dir keine Idee (gleichsam kein Bild) von der Geschichte machen“, so könnte ein Gebot, vielleicht gar das erste, im Dekalog des Historikers Michael Oaksehott lauten. Hatte aber nicht gerade die Parabel vom Turmbau Schlussfolgerungen für die Gegenwart geradezu zwingend gemacht? Stand nicht mit Babels Turm ein pars pro toto für alle Totalitarismen, vergangene, gegenwärtige wie zukünftige drohend vor Augen? Michael Oakeshott glaubte, wie die meisten Historiker, nicht an die Wiederholbarkeit von Geschichte, noch an ihre Materialität, die einen direkten Zugriff vonseiten der Nachgeborenen erlaubt hätte. Selbst historische Zeugnisse ersetzen nicht die Unmittelbarkeit der Erlebenden. Die historischen Fakten, die auf uns gekommen sind, sind ihrerseits bereits Schlussfolgerungen von etwas, das aufgrund der Beweislast glauben macht, es sei tatsächlich so geschehen. Oakeshott nennt diese Vergangenheit historical past, von der man allenfalls historical knowledge beziehen könne. Jede unterstellte Anwendbarkeit von geschichtlichem Wissen auf die Gegenwart macht aus der Vergangenheit ein Konstrukt namens practical past und ist ohne ideelle Beimischungen des Betrachters oder Analysten nicht zu denken.

Die Parabel über den Turmbau zu Babel fügt sich in diese Optik als übergroßes Gemälde, das man aus der Distanz überblicken, betrachten und dessen innewohnenden Bezüge man untersuchen könne, das aber kein Abziehbild der Gegenwart darstellt, in das man Gegenwärtiges hineinprojizieren könnte. Der Historiker Oakeshott geht wie ein Gerichtsmediziner an die Geschichte heran, um historische Tathergänge mit Hilfe einer minutiösen Autopsie aufzuklären, vor allem aber, um ihre geistigen Hintergründe freizulegen. Das hat mit Moral nichts zu tun, viel eher mit Ehrfurcht vor dem Vergangenen sowie vor den jeweiligen Versuchen des menschlichen Geistes seiner jeweiligen Zeit und nur ihr beizukommen.

Ein ebenso geschichtsbelastetes wie geschichtsgläubiges Volk, wie das deutsche, wird Schwierigkeiten haben, Oakshotts Anliegen der historiographischen Askese nachzuvollziehen. Zu übermächtig erscheint heute wieder der moralische Imperativ, aus der Geschichte lernen zu müssen und zu können. Der hysterische Rubrizismus, der in allem und jedem Wiedergänger aus der dunkelsten deutschen Vergangenheit zu entlarven meint sowie der resignative Fatalismus, der einzig die Endlichkeit von allem (insbesondere der eigenen Kultur) verinnerlicht hat, um sich Entlastung von den Daseinskämpfen zu verschaffen, gehören in die von Oakeshott beklagte Geschichtsverwertung. Weit entfernt davon, das eigene Gewissen zu beruhigen, birgt diese Haltung viel eher die Gefahr, vor lauter Vergangenheitsfixierung die Zeichen der Zeit zu verkennen. Eine vorurteilsfreie wie entschlossene Reaktion der Gegenwärtigen wird somit verbaut. Das Gebot der Stunde wird von der Vergangenheit erstickt.

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