Zu Besuch (II) – Friedrich Nietzsche-Gedenkstätte

Unweit von Leipzig entfernt, kurz hinter der anhaltinischen Grenze, liegt der unauffällige verschlafene Ort Röcken. Kaum mehr als drei Straßen zählt der Ort und die Bushaltestelle wird wohl weniger als alle zwei Stunden angefahren, am Wochenende womöglich gar nicht. Auch in den dorftypischen Aushängen unter dem Titel „Bekanntmachungen“ herrscht gähnende Leere. Von Leben zeugt einzig und allein ein Anwohner, der die letzten Sommertage nutzt, um seinen von der Witterung beschädigten Gartenzaun neu zu streichen und winterfest zu machen. Recht schnell fällt dem Beobachter dann allerdings das kleine Schild mit der Aufschrift „Nietzsche-Gedenkstätte – Geburtsort und letzte Ruhestätte von Friedrich Nietzsche“ ins Auge.

Nur schwer vorzustellen, dass hier der zweifelsohne bekannteste und prägendste Philosoph für das ideologisch so hart umkämpfte 20. Jahrhundert geboren sein – und nun ruhen soll. Eine Idylle der schlichten Einfachheit.

Ausgerechnet Nietzsches zeitweiliger Weggefährte und später erbitterter Gegner Richard Wagner aber rühmte die provinziellen Winkel Deutschlands gegenüber der großen Stadt für seine ihm innewohnende Geistigkeit. Nietzsches Geist also, der weit über die Person mit dem markanten Schnurrbart und den traurigen Augen hinauswies, zeugt davon. Hier in Röcken hat also alles begonnen, bevor Friedrich, nach dem Tod seines Vaters und Bruders, mit seiner Mutter nach Naumburg zog. Auch sein durchaus angespanntes Verhältnis zum anderen Geschlecht, das ihn später hat vereinsamen und wahnsinnig sterben lassen, hat hier seine Wurzeln. Großgezogen wurde Nietzsche von vier Frauen.

„In Deutschland ist wahrhaftig nur der Winkel – nicht aber die große Hauptstadt – produktiv gewesen.“

Richard Wagner

Im Zentrum des Örtchens steht, wie es nunmal für Dörfer üblich ist, die Kirche, genauer gesagt die Taufkirche Nietzsches. Direkt daneben befindet sich die ebenfalls sehr überschaubare Gedenkstätte, daneben wiederum sein Geburtshaus. Der heruntergekommene Zustand der Kirche lässt darauf schließen, dass ohne die reiselustigen Nietzscheaner kaum jemand mehr das alte Gotteshaus besucht – das, erbaut im 12. Jahrhundert, zu den ältesten der Region zählt. Welch ein Widerspruch, der hier ins Auge springt. Der Verkünder des Todes Gottes wird zur Reiseattraktion, die dadurch Besucher in die Kirche lockt, aus deren Gemäuern allerdings der schöpferische Geist des Christentums längst entflohen zu sein scheint.

Auch wenn der Tod Gottes von Nietzsche weniger als antichristliche Handlungsanleitung gemeint war, denn als die Verkündung, durch den Willen zur Macht die christliche Moralphilosophie zu überwinden und das menschliche Geschlecht zu neuen Ufern zu führen. Es scheint so, als würde dieser wahnsinnige Anspruch seine Energie auch im verschlafenen Örtchen kaum noch jemanden zu fesseln. Dementsprechend ist Röcken auch alles andere als ein Touristenmagnet. Es ist Samstag Nachmittag und es herrscht gähnende Leere, denn außer uns, der Rezeptionistin und dem Gartenzaunstreicher scheint sich niemand im Ort aufzuhalten.

Hinter dem kleinen, steinernen Bogen wartet die überschaubare Gedenkstätte.

Beim Blick ins Gästebuch der Gedenkstätte dominieren andere Sprachen als die Deutsche und auf Nachfrage bestätigt sich der Verdacht, dass vor allem Reisende aus Asien den Weg zu Nietzsches Geburtsstätte finden. Doch auch Franzosen oder Amerikaner lassen sich öfters blicken. Die Deutschen scheinen hingegen genug zu haben von der Brutalität und Konfrontationslust des Nietzscheanischen Geistes, von den großen ideologischen Verwerfungen, die Nietzsche wie kein Zweiter in allen politischen Lagern befeuerte. Überhaupt sind auch die großen Denker und Lyriker des 20. Jahrhunderts ohne Nietzsche nur schwer vorstellbar. So beschwor Gottfried Benn als den einenden Band zwischen ihm und Ernst Jünger den Philosophen aus der mitteldeutschen Provinz:

Wir sind von außen oft verbunden,

wir sind von innen meist getrennt,

doch teilen wir den Strom, die Stunden,

den Ecce-Zug, den Wahn, die Wunden

des, das sich das Jahrhundert nennt.

Gottfried Benn an Ernst Jünger

Man fragt sich jedoch, was man sich denn eigentlich von so einem Wochenendsausflug verspricht. Man unternimmt natürlich den Versuch, der Hektik der Stadt zu entkommen und den Tag durch einen solchen Ausflug zu veredeln, etwas mitzunehmen von der Genialität Nietzsches. Doch was ist es konkret, was man sich erhofft, wenn man die Schriften Nietzsches studiert hat und nun zu seinem Geburtsort pilgert? Erwartet man etwa weitere, tiefere Einsichten? All die Informationen, die die Gedenkstätte über Nietzsche bereithält, kennt man doch längst aus Biographien oder anderen Sekundärschriften. Will man hingegen den Geist des Ortes, der Landschaft aufsaugen, um zu verstehen, woher Nietzsche kam? Dafür hat Nietzsche wahrscheinlich doch selbst viel zu sehr in seinem eigenen Geist gelebt, als das über die Landschaft konkrete Rückschlüsse zu seinen Gedanken zulässig wären. Bei Heidegger, der mir ohnehin näher ist als die wandelnde Dynamitstange, würden die Dinge hingegen etwas anders liegen. Er verdankt seiner ländlichen Prägung wahrscheinlich deutlich mehr.

Der Antrieb, zu Orten des Gedenkens zu fahren, muss folglich im Bereich des Metaphysischen liegen, weshalb gerade deshalb gut daran gelegen wäre, diesem Verlangen nicht allzu sehr auf den Grund zu gehen, sondern sich einfach davon mitnehmen zu lassen.

Liest heute noch jemand Zarathustra?

„Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? so wenig Schicksal in eurem Blicke? Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr einst mit mir  — siegen?“   

Zarathustra (Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra)

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