Wer ist Lars von Trier? Der innere Idiot (3)

Das Motiv des Idioten als wunderlichem Eigenbrötler und Soziopathen einerseits oder als seherischem Außenseiter und weisem Unverstandenen andererseits findet sich zu jeder Zeit in der Literaturgeschichte des Abendlandes. Lars von Trier setzt den entfesselten Idioten an den Beginn einer filmischen Utopie.

Ganz gleich ob mit Dostojewskis Fürst Myschkin, Don Quichotte oder und Flaubert als „Idiot der Familie“ bei Sartre, der Idiot als Typus begegnet uns immer wieder. Botho Strauß gibt ihm allerdings eine andere Wendung und macht ihn in Form des griechischen Idiotes produktiv, indem er ihn zum Gegenstand seines Buches „Lichter des Toren“ erhebt. Darin verschiebt er die verkürzte zeitgenössische Interpretation des Idioten als Trottel und Depp zurück zur griechischen Figur des Narren. Wörtlich übersetzt bedeutete das griechische Wort Idiotes nämlich „der Abgesonderte“. Er könne zum Inbild, ja sogar zur Leitfigur des 21. Jahrhunderts werden, prognostiziert Strauß in seinem 2013 veröffentlichten Essay.

Während Intelligenz zur Massenbegabung wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben. Den Idioten gibt es daher in mehrfacher Symbol-Gestalt, auch als Januskopf: nach vorn blickt die Parodie des Informierten, der Info-Demente. Zurück blickt die Heiterkeit des Ungerührten. Der heitere Idiot in der Welt der Informierten zu sein, ohne eine Regung von Zukunftsunruhe, ohne Angst zu leben. Statt dessen aber in einer den Informierten ungültigen Redeweise sich mitzuteilen, die jedoch ungemildert und unverzerrt die Vibrationen eines rumorenden Untergrunds wiedergibt.“

In seinem Dogma-Film „Idioten“ (1998) läßt Lars von Trier seine Protagonisten in antibürgerlichem Furor und mit ähnlichen Motiven wie Botho Strauß den Gang ins Offene proben: Was kommt dabei heraus, wenn einige Außenseiter sich zusammenschließen und das nach außen kehren, was in ihrem Inneren bislang verborgen, ja berechtigterweise unterdrückt war? Wie fühlt es sich an, wenn sie den Idioten in sich selbst in die Freiheit entlassen? Müßte das nicht für alle eine beispiellose Beglückung sein? Doch so einfach ist es nicht.

„Idioten“ ist der zweite Film der sogenannten Dogma 95-Reihe. Den ersten Film drehte Thomas Vinterberg im Jahr 1998 und nannte ihn „Das Fest“. Er dürfte als der bekannteste unter den insgesamt sieben dänischen Dogma-Filmen sein, die alle nach den von den Regisseuren bestimmten Prinzipien gedreht wurden.

Die eigenartige Ästhetik des Menschenversuchs, die Lars von Trier in „The boss of it all“ und „Five obstructions“ probt, nimmt mit „Idioten“ ihren inhaltlichen Anfang. Es ist ein Menschenversuch auf der fiktiven und der realen Ebene zugleich: Zehn Menschen leben in einer Landkommune. Sie wohnen schwarz in einer Dorfvilla, die Stoffer (Jens Albinus) so lange zur Verfügung stellt, bis sein Onkel Svend sie letztlich verkauft hat. Stoffers erklärtes Ziel ist es dabei, seelisch verwandten Menschen die Möglichkeit zu bieten, an ihren „inneren Idioten“ heranzukommen und zwar indem sie geistig Behinderte spielen – sowohl in der Öffentlichkeit, als auch intern. Er ist der Philosoph und der Anführer dieser Gruppe und sein Credo muss er immer wieder gegen aufkommende Zweifel verteidigen: Ein Idiot zu sein ist ein Luxus und Fortschritt zugleich, deshalb ist der Idiot ein Mensch der Zukunft. Jeder sollte seinen ganz eigenen Idioten finden, lautet der erklärte Glaubenssatz.

Doch jeder der WG-Bewohner verbindet mit dem Experiment eine eigene Agenda: eine der Teilnehmerinnen meinte, es ginge der Gemeinschaft darum, möglichst „viel und schnell zu bumsen“. Der Maler hingegen sucht Inspiration für seine Kunst und eine andere hatte Hals über Kopf ihre Familie verlassen, als ihr Kind gestorben war. Trier schätzt im Nachhinein ein, daß er der einzige gewesen sei, der wirklich an den Film geglaubt und das Ziel der Selbstbefreiung verfolgt habe. Er rechnet in dem parallel geführten Drehtagebuch mit dem Experiment radikal ab: Jeder ist mit seiner kleinen Welt zu 190% allein. Wir sind uns nicht näher gekommen und zeigen kein Verständnis füreinander. Das müsse er auf die harte Tour jedes Mal aufs Neue begreifen.

Die negativen Seiten eines WG-Lebens seien einmal mehr zum Vorschein gekommen: Keiner fühlte sich für Ordnung, Sauberkeit, Haushalt verantwortlich. Alle wollten nur ihren Spaß haben und sich gehenlassen. Sie liebten das „Herumspasten“, wie sie es intern nannten. Trier bekennt sich zu seinem Neid auf die Schauspieler, denn er müsse das Regime aufrecht erhalten und könne nicht mitspielen, obwohl er es so gern würde. Er habe sich einsam und isoliert gefühlt in dieser Runde und habe doch eine solche Sehnsucht nach Nähe in einer Gemeinschaft, gibt er zu bekennen.

Diese Einschätzung Triers spiegelt zugleich die Ambivalenz der Versuchsanordnung wider: Fiktion und Dokumentation sind hier besonders stark vermischt. Es gibt zwar ein Drehbuch, die Szenen aber sind zum größten Teil improvisiert. Trier begleitet die Crew mit der Videokamera dabei unablässig. Die Takes sind daher auch bewusst länger als bei herkömmlichen Dreharbeiten. Die Funktion dabei ist klar, denn die Schauspieler vergessen ab einem bestimmten Punkt, daß sie aufgenommen werden. Sie spielen ihre Rollen und gleichzeitig auch sich selbst.

Auch wenn der Drehtag vorbei ist, geben einige ihre Rollen nicht auf. Sie fühlen sich einfach wohl als Idioten. Bemerkenswert bei diesem Wandel der Persönlichkeiten ist, dass mit dem ersten Versuch die Last der zivilisatorischen, okzidentalen Kultur abfällt, als hätten sie nur auf diesen Startschuß gewartet, um sich zu befreien und ihre Fesseln abzuwerfen. Sie genießen sichtlich ein Verhalten, das unter bürgerlichen Maßstäben als übergriffig gilt und sofort sanktioniert werden würde: Sie kommen sich auf die physische Art, gepaart mit Urlauten, näher, ohne sich dabei des Verstandes zu bedienen.

Als vier reale Behinderte aus einem Heim zu ihnen zu Besuch kommen, haben die WG-Mitbewohner Schwierigkeiten, an ihrem diktierten Habitus festzuhalten. Wie selbstverständlich nennen alle ihre richtigen Namen und schwanken zwischen Idioten-Authentizität und Zivilverhalten. Stoffer, der Vordenker, kritisiert sie für dafür wütend. Doch plötzlich schämen sie sich dafür, diese tatsächlich behinderten Menschen nachzuahmen und fühlen sich jetzt als die eigentlichen Idioten. Allerdings nicht in dem gewünschten Sinn, sondern zweifeln im Gegenteil das ganze Projekt an.

Als der Vater Josephines kommt, um seine Tochter gegen ihren Willen abzuholen, dringt die Wirklichkeit in ihre Idylle ein, Josephine nämlich will nicht weg. Zum ersten Mal in ihrem Leben geht es ihr richtig gut, entgegnet sie. Zum ersten Mal benötigt sie die ihr verordneten Tabletten nicht mehr. Weinend verläßt sie die Kommune, vom Vater in einer Luxuskarosse chauffiert.

Das ist der Anfang vom Ende. Anstatt den Idioten in die bürgerliche Welt zu tragen, wie Stoffer es sich gewünscht hatte, empfängt einer nach dem anderen die Sirenenklänge eben dieser verachteten Gesellschaft und kehrt in sie zurück. Stoffer resümiert: „Es war alles nur eine große Lüge!“

In der Schlussszene betreten Karen und Suzanna, zurück in der bürgerlichen Welt, die Wohnung ihrer Familie. Außer dem Vorwurf, ohne Auskunft verschwunden zu sein, gibt es keine Reaktion der Eltern, nur gleichgültiges Schweigen breitet sich aus. Bei Kaffee und Kuchen spricht niemand, in das Schweigen hinein beginnt Karen, den Kuchenbrei langsam aus ihrem Mund laufen zu lassen und spastische Bewegungen zu machen. Ihr Vater steht wütend auf und gibt ihr über den Tisch hinweg einen Schlag ins Gesicht. Suzanna fragt Karen, ob sie gemeinsam fliehen sollen. Karen nickt und beide verlassen schlagartig die Wohnung. Wohin sie gehen werden, wissen wir und vielleicht sogar sie selbst nicht.

Das Wohnprojekt war eine Utopie, von der sich Trier so gerne gewünscht hätte, dass sie in Erfüllung ginge. Doch stattdessen sei eine „kalkulierbare Hölle“ entstanden, lautet das Resumé. Von Trier habe die Authentizität gesucht mit diesem Film, doch stattdessen wurde es einfach nur ein Spiel – erlebt in einem „erregten, emotionalen Zustand“.

Einen Versuch war es wert. Die Protagonisten hatten nach dem Ende des Experimentes keinen Kontakt mehr zueinander. Sie wußten: Was sie hier erlebt hatten, die Intensität, die Hingabe, die Freiheit im Miteinander, würden sie nie wieder erleben. Sie würden ihrem weiteren Leben einen Stempel aufdrücken.

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