Gegen die Eindeutigkeitswut – Fabian oder der Gang vor die Hunde

Der Regisseur Dominik Graf, Moralist auf seine Art, hat sich Erich Kästners Fabian, dieser Geschichte eines Moralisten angenommen. Nach eigener Aussage wollte Graf eine „Perlenkette von Situationen“ schaffen, ja ein „Zeit-Fresko“. Entgegen der Tendenz zu allzu viel Glattheit in der heutigen Kino- und Serienwelt sollte sich der Film dadurch auszeichnen, „kleinteilig, sperrig, schmutzig“ und „lang“ zu sein. Und das ist ihm auf beeindruckende Art und Wiese gelungen, wenn auch mit einem kleinen Makel.

Zeit nimmt sich der Film in der Tat, nämlich knapp drei Stunden – laut Graf in etwa so viel, wie ein Leser theoretisch braucht, um das Buch in einem Zug durchzulesen. Der sonst nicht filmfeindliche Kästner hatte sich freilich zeitlebens geweigert, den Roman für eine Verfilmung freizugeben. In der Tat gibt es viele Texte, deren Kinoeignung höher einzustufen ist. Die Überschläue des Romans ist so wenig vielversprechend als Filmvoraussetzung wie dessen harte, kalte Sprache. Was als Sittenbilderreigen mit unbarmherzigen Pointen und ironischen Sinnsprüchen literarisch durchaus Sinn macht, indem düstere Sinnbildlichkeit und schneidender Witz sich in etwa die Waage halten, wird im Film schwer auszubeuten sein, der für seine Bilder gerade Unsagbarkeiten, Traum und Delirien braucht. Aber Graf setzt die Sprödheit der Vorlage als unbequemes Spannungsmoment ein. Er vertraut vor allem auf deren hintergründige Obsessionen – nämlich die Verzweiflung an der menschlichen Unzulänglichkeit, an der unaufhaltsamen Zweitklassigkeit der Zustände.

Graf geht mit der Vorlage sehr viel freier um als Wolf Gremm in seiner ziemlich texttreuen Verfilmung aus dem Jahr 1980. Und das steht dem Film außerordentlich gut. Er ist nämlich einerseits ein fiebrig-gespenstisches Stimmungsbild geworden (vom Grundton nicht weit entfernt vom Joker), andererseits aber auch eine eklektische Genre- und Stilwundertüte. Tatsächlich auch sperrig, denn deutliche Handlungslinien oder übersichtliche Spannungsbögen sucht man vergebens.

Historienfilm, deutsches Fernsehspiel, Mehrbildaufnahmen, stummfilmartige Einschübe und große Kinogesten lösen einander munter ab. Gespenstische Anachronismen beleben den Film, indem sie die historisierenden Fassaden und Masken brechen und durchbrechen. Schon der Anfang: Begleitet von schweren Rockgitarren fährt die Kamera durch die U-Bahnstation Heidelberger Platz im Berlin von 2021, um auf der Ausgangstreppe unvermittelt im August des Jahres 1931 und beim Protagonisten Dr. Jakob Fabian anzukommen. Derlei wird dem Zuschauer noch oft begegnen, wie etwa auch die Stolpersteine auf einem Charlottenburger Bürgersteig.

Tom Schilling, der die Hauptrolle mimt, ist vielleicht die wichtigste dieser Zeitverstrebungen: Werden durch sein Spiel nicht der Fabian von Graf und der Niko aus Gersters Film „Oh Boy“ unheimliche Brüder? Auf jeden Fall erreicht Graf sein Ziel: Die ihn beunruhigende Ähnlichkeit der Zeiten dem Publikum sichtbar zu machen.

So viel sei verraten: Die Liebe besiegt in diesem Film nichts und niemanden. Die Menschen sind bloß hungrige Masken auf der Suche nach Geld. Die Welt ist Fassade, hinter der Chaos und Zerstörung dräut. In der schwülen Hochsommerdüsternis Berlins gibt es bestenfalls falsche Hoffnungsschimmer. Der eigentliche Mittelpunkt des Films sind die Szenen, in denen Fabian und Cornelia als Liebende zu sich und zueinander finden – scheinbar. Der tödlichen Blässe und Steifheit der Masken, die sonst im Film dominieren, setzt Graf hier die Leidenschaft der beseelten, lebendigen Gesichter Schillings und Rosendahls entgegen. Frei nach Tolstoi, von dem das Bonmot stammt, dass es keine Liebe gäbe, sondern nur das physische Verlangen nach ihr, wird die Liebe eine reine Sehnsucht bleiben, die sich ihre eigene Unmöglichkeit einzugestehen hat. Das wird munter mit Kästners zynisch-pessimistischem Salonplauderton überspielt.

Das Off spielt, ähnlich wie im Roman, die Rolle der sich unenttäuschbar gerierenden Hoffnungslosigkeit. Die Sprache wird auch im Film nie lebendig-warm, scheint versteinert in einem Geschäfts- oder Geschwätzton, oder maskiert als weitere Maske Sprachlosigkeit und Distanz. Doch Graf lehnt sich mit seinem Filmende, nachdem Fabian ins Elternhaus zurückgekehrt ist, gegen diese erbarmungslose Kälte auf. Bei Gremm wird der Film kästnerisch-vollnüchtern beschlossen: Die Hauptfigur geht im Mittellandkanal unter, und das niedersächsische Ackerland der Umgebung registriert das so ungerührt wie den Tod eines weiteren krepierten Hundes.

Bei Graf dagegen wird einiges aufgeboten: Fabian und Cornelia erhalten in Grafs Version die Aussicht auf ein Wiedersehen – doch diese Wendung wirkt eher wie ein Wachtraum des Filmprotagonisten. Und schließlich: Nachdem Fabian vor einer traumhaft schönen, sächsischen Kulisse mit Viadukt ertrunken ist, fällt sein Notizbuch wie von Geisterhand getragen in einen der zukünftigen, brennenden Bücherhaufen der Nationalsozialisten – im Hintergrund Tonspuren zur Machtübernahme durch Hitler. Die Reminiszenz an das Schicksal von Kästners Büchern nach 1933 ist mehr als offensichtlich.

Die starre Kontrolliertheit, der nur scheinbar ungerührte Zynismus der Kästner’schen Prosa wird nicht durchgehalten, sondern macht etwas anderem Platz. Schwer zu sagen nur, was genau: Kippt hier das Gespenstische nicht doch zu sehr in eine schlechte deutsche Angewohnheit, nämlich ins Geschichtsphilosophische? Oder ist es bloß die hollywoodeske Filmlust an der Katastrophe, am Pathos eindrücklicher Bilder?

Eines steht allerdings fest: Graf stemmt sich mit Erfolg gegen die leider unbeeindruckt grassierende Eindeutigkeitswut im Kino, und hat eine schillernde, irisierende Herausforderung in Filmform geschaffen – einen disparaten Gespensterspiegel unserer eigenen, wirren Epoche.

 

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