Was ist konservative Ästhetik?

Spätestens seit den 1960er Jahren dominiert ein progressives Verständnis den bundesdeutschen Diskurs darüber, was als Kunst zu gelten hat. Kritiker meinen, eine konservative Ästhetik gewinne erst durch die Abgrenzung zur emanzipatorischen Fortschrittslehre eigene Konturen, Verteidiger hingegen sehen in ihr den Ausdruck des stetig Schönen und ewig Wahren. Doch kann es überhaupt eine theoretische Grundlage für eine ,konservative Ästhetik‘ geben?

Die wohl augenscheinlichste und zugleich populärste Position hinsichtlich der Unterscheidung einer progressiven Ästhetik und einer konservativen leitet sich aus dem einfachen Betrachten ab. Für Konservative liegt der ästhetische Wert eines Kunstwerks zunächst in seiner Erscheinung: Wo ein progressives Kunstwerk heute nicht ohne theoretischen Kommentar auskommt, steht das klassisch-konservative Werk für sich und verweist potentiell auf Werte, die hinter den Werken liegen.

In diesem Sinne offenbart sich den Selbstverständnissen nach der bekannte Widerspruch: Aufklärerische, fortschrittsgläubige Linke auf der einen Seite und an überdauernden Prinzipien festhaltende Konservative auf der anderen. So darf die zeitgenössische Ästhetik nicht nur als ein Prozess der Abstraktion von dem konkreten Gegenstand verstanden werden, sondern auch als Politikum, denn eine Vielzahl moderner Kunstwerke präsentieren zugleich auch ein verschlüsseltes philosophisches Konzept. Demzufolge wird deutlich, dass sich die Frage nach einer konservativen Ästhetik nicht in Formen der gegenständlichen Malerei erschöpft, sondern auf alle Erzeugnisse der Kulturschöpfung auszuweiten ist und dadurch auf die dahinterstehenden ideologischen Überzeugungen zielt.

Im Schatten des Progressivismus

Dass die Frage nach einer konservativen Ästhetik ein weitaus größerer Komplex ist als die einfache Reduzierung auf ein Rechts-Links-Schema, hat die Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) verdeutlicht, die sich mit einem Themenschwerpunkt dem Konglomerat der „konservativen Ästhetik“ annähert. Bereits im Editorial weisen die Herausgeber allerdings darauf hin, dass der Begriff Ästhetik in der Gegenwart per se mit dem „emanzipatorischen Projekt“ verschmolzen sei und demnach die konservative Ästhetik in den Schatten der Wahrnehmung rücke. Eine konservative Ästhetik gelte nicht zuletzt deshalb als überholt, weil ihr die theoretischen und philosophischen Repräsentanten fehlten.

Unrecht haben sie damit nicht. Das belegt unter anderem ein Blick auf die wichtigsten Anwälte einer solchen Ästhetik, die ihren Zenit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt haben und im gegenwärtigen Diskurs kaum einen Platz mehr finden. Exemplarisch stehen dafür Martin Heidegger (Der Ursprung des Kunstwerks), Arnold Gehlen (Zeit-Bilder) und der Österreicher Hans Sedlmayr (Der Verlust der Mitte), die schon zu ihren Lebzeiten an den Universitäten über weite Strecken als Außenseiter galten. Wie Karl-Heinz Bohrer in seinem Essay über „Das Problem des Sinns“ konkretisiert, zählen die Genannten allerdings primär aufgrund ihrer „Distanz zur aufklärerischen-theologischen Geschichtsphilosophie“ und dem hiermit zusammenhängenden immanenten Wahrheitsbegriff zu Repräsentanten einer konservativen Ästhetik. Die Bildung von entsprechenden stilistischen Kategorien blieb bewusst aus.

Als überholt wird eine konservative Ästhetik auch deshalb wahrgenommen, weil das emanzipatorische Kunstverständnis überdauerte, wenn auch nicht unbeschadet. Dies belegt sowohl ein Blick auf die zeitgenössische Kunstlandschaft als auch in die Seminarräume der Universitäten. Kontrovers geführte Diskussionen zwischen zwei so gegensätzlichen Koryphäen wie Joseph Beuys und Arnold Gehlen gehören der Vergangenheit an. Zugleich wird man bei einem Besuch in einem Museum oder an einer Kunsthochschule den Eindruck nicht los, dass sich die Theorie der totalen Emanzipation qua Mangel an ernstzunehmenden Widersachern selbst ad absurdum führt. Das revolutionäre Projekt des Aufbrechens von Sehgewohnheiten erschöpft sich mittlerweile in den „immer gleichen Provokationsspiralen“ (ZIG) durch sich selbst, sodass es in eine vorhersehbare aber nicht auflösbare Sinnkrise schlitterte: Wenn es auf dem Gebiet der Kunst nichts mehr zu dekonstruieren gibt, fehlt ihr ein wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses.

Eine reaktionäre Frage

Auch die äußerst ambitionierte, aber beispielsweise von den Vertretern des Dadaismus durchaus ernstgemeinte Annahme, dass durch die Avantgardekunst die künftige Gesellschaft vorweggenommen würde, hat sich indes eben sowenig bewahrheitet wie die Befreiung der Kunst durch die Befreiung von konventioneller Formensprache. Diese Bestrebung begründet sich in einer politischen Eschatologie, die sich vordergründig-methodologisch aus der Dekonstruktion und dem Auf- und Abbrechen des Überlieferten legitimiert und hintergründig dem Individuum zur Emanzipation verhelfen will. Das klassische, von der Antike geprägte abendländische Kunstverständnis wird entsprechend der eigenen politischen Logik unter generellen Ideologieverdacht gestellt.

„Das Neue wurde in dem Augenblick zur Wiederholung, als es eine künstlerische Konvention geworden war.“

Henning Ritter

Sucht man nach einer Theorie der konservativen Ästhetik, findet man sich zunächst in einem luftleeren Raum wieder, der nur durch den historischen Blick auf geschaffene Kunst- und Bauwerke gefüllt werden kann, auch wenn diese keine theoretische Grundlage für ihre Entstehung mitliefern. In weiter zurückliegenden Epochen wie der frühen Neuzeit oder dem Hochmittelalter wird man auch keine theoretische Fundierung dessen finden, wie Kunst auszusehen hat, außer, dass sie Gott verpflichtet sein muss, was sich weiter unten als zentrales Axiom erweisen wird. Ein Rückgriff auf das antike Kunstverständnis wäre eine weitere Möglichkeit, doch auch auf diesem Feld keimt wenig Fruchtbares für unsere Frage. Die jeweiligen historischen Epochen sind ihrer Struktur nach nicht von ihrer spezifischen Interpretation der Welt an sich zu trennen.

Es drängt sich somit die Feststellung auf, dass das Bedürfnis, eine konservative Ästhetik ausformulieren und auf einen theoretisches Fundament setzen zu wollen, den Verlust eines Sinns für diese Form des künstlerischen Schaffens voraussetzt. Die Frage nach einer konservativen Ästhetik stellt sich erst, wenn der ideologische Sieg einer aufklärerisch-emanzipatorischen Ästhetik den Status des Unhinterfragbaren erlangt hat. Es handelt sich somit um eine im wahrsten Sinne reaktionäre Fragestellung.

Der Verlust der Mitte

Dass ein Zusammenhang zwischen der Struktur der Moderne und den aus ihr hervorgebrachten bildenden Künsten besteht, hat vor allem Hans Sedlmayr ins Zentrum seines Denkens gerückt. Er nutzt „die Kunst als Instrument der Tiefendeutung einer Epoche“. Es sind also nicht die Theoretiker einer progressiven Ästhetik, die verantwortlich für ihr flächendeckendes Aufkommen wären, sondern die Moderne selbst. Sedlmayr meint, dass seit der Französischen Revolution auf dem Gebiet der Kunst Erscheinungen aufgetreten seien, die ein völliges Novum in der Weltgeschichte darstellten. Er weist damit auf die gegenstandslose Kunst als eine Praxis hin, die „Wurzeln der Humanität“ verletze, da sie die Menschen in einen Zustand der Bodenlosigkeit verbanne. Diese Tendenz sei eine geistesgeschichtliche Besonderheit für die Kunst ab dem 19. Jahrhundert. Weil die Moderne die historische und religiös-kulturelle Verbindung zwischen Gott und dem Menschen aufgelöst hat, sehen wir uns laut Sedlmayr dem Verlust der Mitte ausgesetzt.

Utopisches bauen: Étienne-Louis Boullée, Kenotaph für Isaac Newton, Entwurf, 1784.

Exemplarisch veranschaulicht er die Tendenz hin zu einer entorteten, universellen Kunst anhand der utopischen Revolutionsarchitektur. Diese neuartige Form entspringt dem Selbstverständnis nach der aufgeklärten Vernunft, denn sie schaffe eine Form des Bauens, die sich bewusst von seinem Boden löse und somit universelle Gültigkeit beanspruche. Dieses sehr drastisch gewählte Beispiel basiert auf einer philosophischen Weltdeutung und somit auf der eingangs erwähnten notwendigen Kommentierung für ein modernes Kunstwerk. Nur für sich betrachtet ist beispielsweise der Entwurf von Boullée für ein Kenotaph nur schwer nachvollziehbar. Sedlmayr bezeichnet diese Form als „gestaltetes Sehen“ und kritisiert diese Strömung als das genaue Gegenteil ihres eigenen Anspruchs, nämlich als unmenschlich.

„Alle Künste streben fort von einer gemeinsamen Mitte, in der und durch die sie einmal miteinander verbunden waren.“

Hans Sedlmayr

Wer jedoch bei Sedlmayr auf eine klare Formulierung dessen hofft, wie eine klassische Ästhetik auszusehen hat, wird enttäuscht werden. Viel mehr, als dass sie eine „Sphäre des Übersinnlichen“ vermitteln sollte, ist nicht zu finden. Seine Schriften zeichnen sich vielmehr durch ihren interpretierenden Charakter der Gegenwartskunst aus. Klar wird, was eine konservative Ästhetik nicht sein kann: eine von Gott losgelöste Abstraktion. Und somit bleibt das entscheidende Kriterium für eine menschenwürdige Kunst die Mitte, also Gott selbst. Die moderne Kunst sei die logische Konsequenz eines atheistischen Zeitalters, so Sedlmayr. Eine klassische Ästhetik scheint also in dieser Epoche der Gottlosigkeit keine Chance mehr zu haben, da ihr schlicht die Grundlage in Form einer gesamtgesellschaftlich legitimierten Rückbindung fehlt. Es überrascht hingegen nicht, dass Sedlmayrs Kritik an der Moderne selbst als modern gekennzeichnet wurde.

Die Frage nach einer konservativen Ästhetik darf sich nicht allein in einer Kritik am Zeitgeist der Moderne erschöpfen oder durch die Abgrenzung zu einem progressiven Kunstverständnis. Die entscheidende Kategorie für eine menschenwürdige Kunst ist die Schönheit, meint unter anderem Roger Scruton, den wir in Teil II genauer betrachten werden.

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