Die Inflation des Begriffes und des Themas „Familie“ im konservativen Diskurs der Gegenwart ist nicht zu übersehen und zu überhören. Als gelernter Ostler schüttelt man nach einer Weile nur noch Kopf und fragt sich: Was haben sie denn bloß?
Natürlich ist die Familie die kleinste Zelle der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft. Das war so und wird so bleiben, solange Kinder nicht in größerem Maßstab von ihren Eltern planmäßig getrennt werden und die menschliche Fortpflanzung auf natürlichem Wege stattfindet. Sicher, in letzter Zeit ist etwas dazugekommen, das Irritation erzeugt: Es gibt ein paar Kinder in Deutschland , die statt von Eltern beiden Geschlechtes von zwei gleichgeschlechtlichen erzogen werden (falls sie erzogen werden – Papa und Mama zusammen garantieren für sich genommen längst keine gelingende Erziehung mehr). Aber mal halblang: Der Anteil Homosexueller an einer Gesellschaft beträgt zu allen Zeiten im Durchschnitt 10%. Von denen will nur ein kleiner Teil „eigene“ Kinder großziehen. Das fällt erstens allerdings kaum ins Gewicht, da gibt es deutlich schlimmere Umstände – und diese häufiger – und zwar vordergründig in normalen Familien in Deutschland. Zweitens hat sich eine schädliche Wirkung von gleichgeschlechtlichen Erziehungsberechtigten auf die Kinderseele noch nicht erwiesen. Eine Triangulierung jedenfalls kann auch bei gleichgeschlechtlichen Eltern stattfinden. Natürlich soll und darf dieses Modell nicht hegemonial werden, aber eine solche Gefahr besteht auch gar nicht.
Das eigentliche Problem scheinen Konservative hingegen in der staatlichen Familienpolitik zu sehen. In der „Jungen Freiheit“ (32/19) wird in einer Buchrezension vor noch mehr Kinderkrippen gewarnt: „In bester DDR-Manier warb die CDU im EU-Wahlkampf mit dem Slogan „Jedes Kind braucht einen Betreuungsplatz. Wir sorgen dafür“.“ Die Politik gehe unter feministischen Vorzeichen seit Jahrzehnten destruktiv gegen die Familie vor, heißt es weiter. Sind aber Betreuungs- und Erziehungseinrichtungen für Kleinkinder per se des Teufels oder jedenfalls familienfeindlich?
Mir scheint die Beschwörung der Familie eher der Reflex auf eine auseinanderfallende Gesellschaft zu sein. Wenn sich alle Bindungen lockern oder ganz verschwinden, wenn Vertrauen, der Kitt in großen wie in kleinen Menschengemeinschaften, verlorengeht, Beziehungen nur noch aus Nützlichkeitserwägungen oder im Netz eingegangen werden, Kriminalität, Rücksichtslosigkeit und Aggressivität das öffentliche Leben prägen, bleibt in der Tat als letzter Hort von Sicherheit und Tugend nur noch die traditionelle Familie übrig.
Aber die DDR-Sozialpolitik als Feindbild taugt nicht wirklich. Tatsächlich war eine flächendeckende Versorgung mit Kinderkrippen (0-3 Jahre) und Kindergärten (3-6 Jahre) erklärtes Ziel jedes Fünfjahrplanes seit Beginn der siebziger Jahre. Kaum eine Frau (oder ein Mann) blieb nach dem einen Jahr Elternzeit mit ihrem Kind zu Hause. Und dies lag nicht nur daran, daß der Verdienst des zweiten Elternteils zum Leben benötigt wurde. Es lag vielmehr daran, daß die Erziehung und Betreuung von Kindern nicht nur in den Händen der Kleinfamilie konzentriert war. Wenn ich schreibe, daß beide – Erziehung und Betreuung – von der Gesellschaft als ganzer geleistet wurde, assoziiert der Westler natürlich sofort kommunistische Indoktrinierung und Abrichtung in Kinderheimen. Es gibt aber auch andere Formen gesellschaftlicher Fürsorge, und die waren die dominanten: Eltern waren nicht auf sich allein gestellt. Sie verbrachten ihre Freizeit mit Freunden, mit Kollegen, mit Gartennachbarn, die meist ebenfalls Kinder hatten, mit Eltern, Großeltern und Verwandten, ja sogar mit Hausbewohnern. Kinder hatten viele Bezugspersonen. Die Familie funktionierte trotzdem, sie löste sich nicht auf, und an ihrer Abschaffung war dem Staat auch nicht gelegen.
Die Doppelbelastung der Frauen allerdings war häufig ein Problem und verlangte diesen viel ab. Möglich war die Betreuung durch andere Familienmitglieder, weil die Angehörigen in bedeutendem Ausmaß in der gleichen Stadt oder im gleichen Ort wohnten, Wohn- und Arbeitsorte waren meist identisch. Die DDR war keine Gesellschaft der Pendler und Nomaden. Allenfalls Studenten tauschten ihren Wohnort dauerhaft gegen eine Großstadt ein. Auch der große Anteil der Land- an der Gesamtbevölkerung und die relativ kleinen Großstädte mit ihrer marginalen Kriminalität begrenzten die von der Moderne forcierte Entfremdung der Menschen voneinander und von der Natur. Kinder lebten in viel höherem Maße „draußen“ – und zwar miteinander und ohne pausenlose Aufsicht durch ihre Eltern – als dies heute der Fall ist. Eltern oder alleinerziehende Mütter oder Väter bildeten das sichere Hinterland für die Kinder und ihre engsten Bezugspersonen, sicher übten sie auch den hauptsächlichen Einfluß auf sie aus, präsent aber mußten sie nicht immer sein.
Ein dritter Grund, warum Frauen nach relativ kurzer Zeit der ausschließlichen Kinderbetreuung wieder ihre Arbeitstätigkeit aufnahmen, war die Freude an dieser Arbeit und das Zusammensein mit ihren Kollegen. In unserer neoliberalen Epoche, deren Signets Burnout, Mobbing und Depression darstellen, wirkt es kaum noch glaubhaft: tatsächlich identifizierten sich die meisten Frauen mit ihrer Arbeit und ihrem Betrieb, auch wenn sie deren Effektivität und die Auswüchse des planwirtschaftlich bedingten Bürokratismus kritisch sahen (und viel geschimpft wurde). Und es waren auch nicht nur Berufe, in denen man sich „selbst verwirklichen“ konnte, die zur Identität gehörten, auch einfache, mechanische, körperliche Arbeiten waren selbstverständlich für Frauen. Der Geist bzw. die freundschaftsähnlichen Beziehungen im Arbeitskollektiv, die solidarische Atmosphäre ohne viel Profilierungsenergie und Ehrgeiz entschädigte weitgehend für geistlose Tätigkeiten. Frau wollte in der Regel schnell wieder zurück in ihr Arbeitskollektiv. Der Wechsel des Arbeitsplatzes oder gar –ortes war daher kaum gewünscht.
Es handelte sich im Prinzip um eine unflexible Gesellschaft, mit einer im Ganzen genommen konservativen Lebenshaltung als dominierendes Lebensmodell . Sicherheit und Stabilität, aus denen auf die Dauer Stagnation und Mangel erwuchsen – gewiß. Aber welche, erst durch den Vergleich deutlich werdende, angenehme, ja regelrecht entspannte Arbeitsatmosphäre herrschte im Allgemeinen in den Betrieben! Eine in den fünfziger Jahren in die Bundesrepublik übergesiedelte Hallenserin und Feministin versuchte mir doch tatsächlich beizubringen, daß in der DDR so viele Frauen berufstätig waren und es kaum Hausfrauen gab, weil die DDR-Männer sie zwangen, einem Beruf nachzugehen. Sie hatte offenbar weder von den Männern, noch von den Frauen in der DDR die geringste Vorstellung – und da dürfte sie nicht in der Minderheit sein.
Das Ideal einer sozialistischen Menschengemeinschaft war in Ansätzen in der DDR realisiert – nicht wegen und durch die Partei und den Staat, sondern trotz ihrer, teilweise gegen sie, auf alle Fälle an ihr vorbei. Das Informelle machte den Gehalt und den Sinn des Lebens aus, das Formelle wurde lediglich in Kauf genommen und ihm so weit wie nötig Tribut gezollt. Das Leben wurde von ihm nur bei denen geprägt und beeinflußt, die sich dafür entschieden hatten: Funktionäre und Staatsbedienstete. Kinderbetreuungseinrichtungen gehörten unter den geschilderten Umständen zum selbstverständlichen Luxus der an sich bescheidenen DDR-Lebensweise und waren die Voraussetzung für den Einsatz der Eltern in einer „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Wolfgang Engler). Ich wage die Behauptung, daß die solcherart kollektivistisch erzogenen und betreuten Kinder weniger psychische Probleme hatten und haben, als das bei den heute nicht erzogenen, ständig auf eine oder die andere Weise überforderten Kinder der Wohlstandsgesellschaft der Fall ist. Natürlich gibt es auch ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Kinderbetreuung in der DDR: die Säuglings- und Kinderdauerheime ignorierten weitgehend die Bindungstheorie und führten bei vielen ihrer Insassen zu Traumatisierungen. Auch mit den Kleinkinderwochenheimen, denen Alleinerziehende oder/und Schichtarbeiter ihre Kinder fünf Tage am Stück überließen, wurde eine Zeitlang der Bogen überspannt. Aber die Regel war eben eine andere. Solche Kinder stellten eine genau so kleine Minderheit dar wie die bis zum Schulalter von der nicht erwerbstätigen Mutter aufgezogenen.
Als vorläufige Schlußfolgerung ergibt sich nun, daß die heutige Sozialpolitik hinsichtlich der Ausrichtung der Kinderbetreuung Unterstützung verdient? Jedenfalls dürfte klar geworden sein, daß die Zerstörung der Familien bestimmt erst in allerletzter Instanz den Kinderbetreuungseinrichtungen zuzuschreiben ist. Die innere Logik des Turbokapitalismus im Zeitalter der Digitalisierung ist der Hauptverursacher für das Schleifen aller Bestände. Für viele Kinder ist der Aufenthalt in Tagesstätten vielleicht die einzige Möglichkeit, die von der Erziehungsverweigerung ihrer Eltern verursachten asozialen Verhaltens- und Denkweisen der Egozentrik, des Narzissmus und des Mimosentums rechtzeitig abtrainiert zu bekommen – fähige und mutige Erzieher vorausgesetzt.
Der zweite Teil erscheint am kommenden Samstag