Es gibt Texte, die den Eindruck wiederkehrender geschichtlicher Zyklen erzeugen, weil sie gar nicht in die Vergangenheit hineinzusprechen scheinen, sondern direkt in die Gegenwart. Zu diesen Texten gehört eine kurze Predigt Paul Tillichs unter dem Titel „The Shaking of the Foundations“ – die erste Predigt in dem gleichnamigen Band (in deutscher Übersetzung trägt er den Titel „In der Tiefe ist Wahrheit“).
Es handelt sich dabei um den ersten englischsprachigen Sammelband mit Predigten, den der Emigrant Tillich im amerikanischen Exil veröffentlichte. Das Jahr der Veröffentlichung ist 1948. Das ist wichtig, weil Tillich sich explizit auf die zeitgeschichtliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg bezieht. Die Predigt richtet sich primär an amerikanische Studenten in New York, doch sie besitzt eine universelle Gültigkeit, die nicht nur andere Nationen miteinschließt, sondern sogar bis in unsere Zeit hineinreicht.
Das titelgebende „Erbeben der Fundamente“ entnimmt Tillich dem 24. Kapitel des Buches Jesaja, wo es in Vers 18 in deutscher Übersetzung heißt:
„Die Grundfesten der Erde beben.“
Diese Reminiszenz an katastrophische Zeiten in der Geschichte des jüdischen Volkes setzt Tillich in Beziehung zu seiner Gegenwart. Jesaja scheint in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hineinzusprechen, wie wiederum Tillich in unsere Gegenwart. Zwischen 1914 und 1945 hatten die Bomben zweier Weltkriege die Hoffnungen auf einen humanen Fortschritt brutal zersprengt und zerschlagen. Tillich weist darauf hin, dass es gerade die Wissenschaft war – ein Unternehmen, das ursprünglich dem humanen Fortschritt dienen sollte –, die die zuvor ungekannte Barbarei zweier Weltkriege mit unzähligen Toten möglich gemacht hatte. Damit wurde für Tillich zugleich der Götzendienst der Wissenschaft zerschlagen. Der europäische Mensch wurde daran erinnert, dass er im Aberglauben an die Macht der Wissenschaft die wesentlichen Fragen nach dem Sinn seines Lebens nicht mehr in ihrer Tiefe beantwortet hatte.
Diese Tatsache wird heute nach Jahren erneuter Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit wieder zunehmend offenbar. Es wird wieder offensichtlich, dass die Wissenschaft keine Lebensfragen, keine Sinnfragen beantworten kann. Und wir spüren bereits die Vorbeben kommender Erschütterungen in den Fundamenten unserer Zivilisation. Tillich macht seinen Zuhörern und Lesern klar, dass man nicht bis zu Jesaja und Jeremia zurückgehen muss, um auf Propheten zu treffen. Auch in der Zeit vor den Weltkriegen, auch danach, auch heute noch gibt es sie, wie in jeder Epoche – auch wenn sie immer auf je andere Art und Weise gesprochen haben.
„For the prophetic spirit has not disappeared from the earth. Decades before the world wars, men judged the European civilization and prophesied its end in speech and print. There are among us people like these. They are like the refined instruments which register the shaking of the earth on far-removed sections of its surface. These people register the shaking of their civilization, its self-destructive trends, and its disintegration and fall, decades before the final catastrophe occurs. They have an invisible and almost infallible sensorium in their souls; and they have an irresistible urge to pronounce what they have registered, perhaps against their own wills.“ (S. 7f.)
Vom Schicksal der Propheten weiß die Bibel nichts Gutes zu berichten. Niemand wollte sie gerne hören, und nicht selten trachtete ihnen das Volk und besonders der Herrscher nach dem Leben. Man hörte lieber auf die falschen Propheten, die mitten im Niedergang blühendes Leben prophezeiten. Das war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anders, und es ist auch heute nicht anders.
„But is it a sign of patriotism or of confidence in one’s people, its institutions and its way of life, to be silent when the foundations are shaking? Is the expression of optimism, whether or not it is justified, so much more valuable than the expression of truth, even if the truth is deep and dark?“ (S. 8)
Es folgen Worte, die wahrlich „brennend aktuell“ sind:
„Most human beings, of course, are not able to stand the message of the shaking of the foundations. They reject and attack the prophetic minds, not because they really disagree with them, but because they sense the truth of their words and cannot receive it. They repress it in themselves; and they transform it into mockery or fury against those who know and dare to say that which they know.“ (8f.) Tillich richtet dann an uns Heutige – nicht weniger als an seine damaligen Zuhörer – die Frage: „In which of these groups do you consider yourselves to be? Among those who respond to the prophetic spirit, or among those who close their ears and hearts against it?“ (S. 9)
Tillich beschließt seine Predigt mit einigen Worten, die explizit an die zuerst erwähnte Gruppe gerichtet sind, an diejenigen also, die sich dem prophetischen Geist auch dann nicht verschließen, wenn er kommendes Unheil und das Erbeben der Fundamente verkündet: Das Wissen um den kommenden Untergang einer Zivilisation lässt sich unmöglich ertragen im Aberglauben an den Fortschritt, die Technik und die Wissenschaft. Es lässt sich nur ertragen, wenn man gleichzeitig um die Ewigkeit Gottes weiß, der die Fundamente der Welt gelegt hat und der niemals untergehen wird. Wie es auch bei Jesaja in einem Vers heißt, den Tillich in seiner Predigt zitiert:
„Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“ (Jesaja 54,10)