Ein Maler, der Brad Pitt zu seinen Käufern zählt, bisher unter anderem im New Yorker Metropolitan Museum ausgestellt hat und dessen Werke international für Millionenbeträge gehandelt werden, taugt denkbar schlecht zum wehrlosen Opfer einer feuilletonistischen Provinzposse. Wohlmeinende Chefredakteure hätten deshalb gut daran getan, den Münchner Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in seinem notorischen Denunziationseifer zumindest versuchsweise auszubremsen.
Ein Beitrag von Tano Gerke und Jonas Maron
Doch irgendwann im Lauf des vergangenen Monats war es schließlich zu spät für gesichtswahrende Redigate: In der ZEIT holte der wackere Ordinarius in einem assoziationsfreudigen Pamphlet unter dem Titel ‚Auf dunkler Scholle‘ zum philosophisch verbrämten Generalangriff auf den mit Abstand bedeutendsten Repräsentanten der ihrerseits nicht vollends irrelevanten Neuen Leipziger Schule aus: Den auch anderweitig vielfach preisgekrönten Bundesverdienstkreuzträger Neo Rauch.
Neo Rauch, ein Reichsbürger?
Unter den wesentlichen Vorwürfen, die Ullrich bei dieser Gelegenheit ins brachliegende kunsttheoretische Diskursfeld zu führen wusste, fand sich bizarrerweise auch und gerade Rauchs Neigung zum unbefangenen Entwurf imaginärer Gegenkosmen:
„Er weicht der verhassten Gegenwartsgesellschaft aus. Im Spiel mit leicht surrealen Bildräumen schafft er eine autonome Gegenwelt, mit viel Platz für unerfüllte Sehnsüchte.“
Im Folgenden entblödet sich Ullrich tatsächlich nicht, eine Verbindung herzustellen zwischen traditioneller bohemienhafter Distanz des Künstlers zur Mehrheitsgesellschaft einerseits und der sich aktuell auf ihre Weise aus dem Sozialgefüge entkoppelnden Reichsbürger-Klientel andererseits. Für Ullrich reicht folglich bereits das Unbehagen am Vorgefundenen und ein daraus erwachsender ästhetischer Fluchtimpuls zur Aufnahme in den beträchtlich erweiterten Kreis von „Reichsbürgern und Preppern.“
„Die Distanz zur Gesellschaft lebt man nicht mehr als Bohemien aus, sondern begibt sich in eine Wahlverwandtschaft zu Reichsbürgern und Preppern, die sich in ihrem Bunker auf die finale Katastrophe vorbereiten.“
Doch als wäre der Bogen des Zumut- und Hinnehmbaren bis hierher noch immer nicht entschieden überspannt, versucht Ullrich in seinem Beitrag außerdem, Rauch mit vage gehaltenen Verweisen auf „Motive rechten Denkens“ in seinen Bildern an der Seite anderer, vereinzelt auch aktivistisch hervorgetretener „rechter Künstler“ zu verorten. Empfindlicher noch soll der Vorwurf treffen, Rauch nutze seine Prominenz ganz bewusst, um „das politische Klima in Deutschland zu verschieben.“ Eine These, auf deren Begründung auch der aufmerksamste Leser im Weiteren allerdings vergebens wartet.
Rauch beklage ferner – und abermals zu Unrecht, so Ullrich -, dass sich die realexistierende Bundesrepublik in geistigen und kulturellen Belangen zusehends dem repressiven Klima der DDR angleiche. Schon im 2007 produzierten Filmporträt ‚Ein Deutscher Maler‘ hatte Rauch neue „Politkommissare“ innerhalb der alarmistischen „Generation Golf“ ausgemacht. „Rechts gesinnte Künstler“, so Ullrich, würden sich heute ausgehend von diesem deutsch-deutschen Vergleichsszenario geschickt „als letzte Verteidiger der Kunstfreiheit“ inszenieren: Allen voran der Leipziger Neo Rauch.
Unangesteckt von der Verderbnis der Zeiten
Die ästhetischen Anwürfe in Rauchs Richtung, wonach in den Bildwelten des Malers vielfach eskapistischen Gegensphären großzügig Platz eingeräumt werde, könnten dabei ebenso gut zur nachträglichen Kriminalisierung einiger der profiliertesten Kunsttheoretiker überhaupt herhalten: So müsste sich beispielsweise, falls man in Ullrichs Essay mehr erblicken wollte als eine lässliche Farce, auch Friedrich Schiller posthum betreten in die kontinentweite Warteschlange der Entnazifizierungsbedürftigen einreihen: „Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen Natur“, hatte der Freiheitsdichter 1793 über den Künstler als Typus dekretiert, „rinnt die Quelle der Schönheit herab, unangesteckt von der Verderbnis der Geschlechter und Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sich wälzen.“
Weit pikanter noch als Schillers ästhetische Lehrsätze nehmen sich in Bezug auf Ullrichs abenteuerliche Anklageführung indes vielgesungene Verse aus der Feder von Friedrich Gundolf aus, mit denen sich der jüdische Dichter und einflussreichste Germanist der Weimarer Republik kurz vor seinem Tod ungeniert als Apologet autonomer Gegenwelten und damit nach Ullrichs Urteil womöglich als potentieller Reichsbürger ante litteram aus der Deckung wagte. Dass Sophie Scholl an Gundolfs kontemplativem Ausweichen vor der „verhassten Gegenwartsgesellschaft“ genügend Gefallen fand, um sein letztes Gedicht als ‚Lied der Weißen Rose‘ in die Annalen eingehen zu lassen, entstellt Ullrichs kalkulierten Zynismus dabei nur noch deutlicher zur Kenntlichkeit.
Schließ Aug und Ohr für eine Weil
Vor dem Getös der Zeit.
Du heilst es nicht und hast kein Heil
Als wo dein Herz sich weiht.
Bildlicher Gegenangriff: Der Anbräuner
Dafür, dass der zurecht weithin unbekannte Kunstwissenschaftler nun voraussichtlich für gottlob nur kurze Zeit in aller Munde sein wird, zeichnet freilich nicht zuletzt Neo Rauch selbst verantwortlich: Nach Ullrichs mühsam zusammengeschusterter Attacke ließ sich der Leipziger Maler – vielleicht auch unter dem verstörenden Eindruck des kürzlichen Wirbels um seinen langjährigen Weggefährten Axel Krause – zu einer Antwort im einzig angemessenen Idiolekt, nämlich der Bildsprache hinreißen: In der ZEIT veröffentlichte Rauch vor wenigen Tagen eine gemalte Replik unter dem Titel „Der Anbräuner“. Das Gemälde kann hier berachtet werden.
In dieser unzweideutigen Erwiderung sind Künstler und Kritiker offenbar zu einer Figur verschmolzen, die auf dem beengten Dachboden mit ihren eigenen Fäkalien eine Silhouette auf die Leinwand schmiert, deren rechter erhobener Arm in Richtung des Atelier-Fensters ausgerichtet ist, durch das Hitler von außen aufmerksam – und wahrscheinlich auch mit Genugtuung ob seiner unverminderten Gegenwart im bundesdeutschen Diskurs – hineinzublicken scheint, während sich am unteren linken Bildrand Ausgaben der taz stapeln.
Die Interpretationsspielräume sind in diesem Fall vom ansonsten mitunter als unzugänglich geltenden Maler sowohl durch die Signatur „W.U.“ als auch durch den Titel „Der Anbräuner“ verhältnismäßig eng gezogen: Einschlägige Medien und Kritiker, so die einzig naheliegende Lesart, prägen und verzeichnen in zunehmendem Maß und unter leichtfertigem, ja mittlerweile hobbymäßigem Rückgriff auf die Gespenster der Vergangenheit das öffentliche Bild des Künstlers. Ob die taz, deren Print-Ausgabe dem Vernehmen nach bis 2022 eingestellt werden soll, hier als Lektüre oder als Mittel der Wahl bei Verrichtung der Notdurft bereitliegt, muss offen bleiben. Für den letzteren Fall könnte der dargestellte Schmierer, sollte er bis dahin sein Atelier noch nicht geräumt haben, ab 2023 bedenkenlos auf die ZEIT ausweichen.
Längst bekannte Bruchlinien
So wenige Fragen das Bild an sich offen lässt, so sehr mag man sich doch darüber wundern, dass der seit Jahren angelegte Konflikt zwischen Neo Rauch und den publizistischen Inquisitoren des Justemilieu erst jetzt zum Austrag kommt: Immerhin hatte der Maler schon 2006 Lithographien zu einigen Kalendergeschichten des – 1993 stilecht aus der Gemeinde der Rechtgläubigen ausgeschiedenen – Schriftstellers Botho Strauß beigesteuert.
Jüngeren Datums ist Rauchs zugegebenermaßen anfechtbarer Vergleich des seit 2017 öffentlich gegen die Regierungspolitik aufbegehrenden Dresdner Romanciers Uwe Tellkamp mit Claus von Stauffenberg sowie eine Wortmeldung des Malers, wonach der Feminismus in seiner gegenwärtigen Ausprägung eine „Talibanisierung der Gesellschaft“ befördere. Auf diese bisherigen Standortmarkierungen folgte anstelle der üblichen konzertierten Entrüstung mit Blick auf Rauchs erhebliches Renommee jeweils bloß zähneknirschendes Schweigen.
Die Deutungshoheit fällt
Die nunmehrige Zuspitzung verdankt sich nicht zuletzt einem geistigen und kulturellen Klima, in dem auch die letzten verbliebenen Rückzugsräume zur Einnahme einer neutralen oder unpolitischen Haltung verbaut scheinen: Die täglich aggressiver durchgefochtene One-World-Ideologie, so heißt es im aphoristischen Werk des Schriftstellers Michael Klonovsky, habe in letzter Instanz ein Gefängnis zum Ziel, aus dem kein Weg mehr ins rettende Exil führe. Nachdem man über die letzten Jahre hinweg zunächst vorrangig politische Fluchtrouten durch die per definitionem postdemokratische Vokabel der „Alternativlosigkeit“ um den Preis einer erfolgreichen Parteineugründung zu blockieren versuchte, beginnt man nun auch ästhetische Schleichwege als „völkisch“ (Ullrich) oder reichsbürgerlich zu brandmarken.
Dabei spielen die Strategen dieser Anbräunung, was Rückschlüsse auf ihre zunehmend prekäre Position zulässt, vermehrt auf Risiko: Ließen sich unliebsame Abweichler vor wenigen Jahren noch vergleichsweise lautlos kaltstellen, so erwiesen sich bereits die Fälle Tellkamp und Krause als ernstere Belastungsproben für die bröckelnde Deutungshoheit der altlinken Schalthebelbesetzer: Krause etwa, der jüngst auf dem Neuen Hambacher Fest mit einem eigens gestifteten Preis für Zivilcourage ausgezeichnet wurde und daneben die aktuelle Sommer-Ausgabe der von Frank Böckelmann herausgegebenen Vierteljahresschrift TUMULT bebilderte, gewann durch seine letztlich missglückte Verfemung sicherlich mehr neue Bewunderer, als ihm an alten verloren gingen.
Mit Neo Rauch, so viel steht unabhängig vom Ausgang dieser Eskalation heute schon fest, wären die Exekutoren der diskursfreien Herrschaft endgültig bei einem Kaliber angelangt, das ihnen eine Niederlage von Symbol-, ja von Fanal-Charakter bescheren könnte.