Jedem Kulturschaffenden, und jedem der es werden will, stellt sich heute die Frage, wie er sich in seiner Zeit zurechtfinden will. Daraus ergibt sich auch für den zeitgenössischen Film die Frage nach Verortung: Wie positioniert sich ein Künstler zur Welt – und konkret gegenüber der gängigen Kulturszene?
An dem Verhältnis zur gegenwärtigen Kulturszene lässt sich nämlich einiges ableiten. In jener hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte eine Erzähltradition gebildet, die sich irgendwo zwischen soziologischem Tunnelblick und dem völligen Aufgehen in Fragmentierung und Dekonstruktion eingefunden hat und nun in dieser Starre verharrt. Wer außerhalb dieses Framings Kultur schaffen will, muss eine andere Perspektive suchen. Es braucht kleinste Schritte und ein vorsichtiges Herantasten an die Frage: „Was will ich eigentlich erzählen und welches Bild will ich eigentlich entwerfen?“
Denn natürlich lässt sich eine Geschichte nicht erzählen, ohne dass ihr eine Vorstellung zugrunde liegt, wie die Welt funktioniert. Ereignisse und Charaktere die handeln, sprechen, Absichten und Wünsche haben, verraten etwas darüber, was der Autor oder Regisseur der Geschichte über Menschen und ihre Art zu handeln, zu fühlen und zu begehren, denkt. Es ist nichts anderes, als wenn ein Künstler bestimmte Bilder aufruft – Landschaften, Sträucher, Gräser, Straßen, Geschäfte und Wohnungen – immer zeigen diese etwas über die Bilder, die in seinem Inneren schlummern. Bilder, die sich, abgeleitet aus seiner Wahrnehmung der Welt, in ihm verfestigt haben. Man muss auf die Frage „was willst du eigentlich erzählen?“, mit seinem eigenen Bild antworten können.
Ich glaube, dass die besten Geschichten da zustande kommen, wo ein Menschenbild (und ein Bild vom Dasein überhaupt) vorhanden ist, das man tragisch nennen könnte. Der Mensch wird dabei in all seinen anthropologisch verankerten Beschränkungen gesehen. Wie er denkt, fühlt und mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen agiert, ist dabei sowohl von seinen Umständen wie auch gewissen im Menschen grundlegend vorhandenen Wurzeln bestimmt. Dass der Mensch ein soziales Tier ist, dessen Handeln und Empfinden sehr grundlegend davon beeinflusst wird, in welchen Positionen er zu seinen Mitmenschen steht, welches Verhalten ihm entgegengebracht wird, wie seine Identifikation mit bestimmten Gruppen verläuft, ob er einen gesunden Bezug zu der Gesellschaft hat in der er lebt, oder ob er ein desintegriertes Dasein fristet. Diese allzumenschliche Seite muss dabei nicht mit moralischer Hässlichkeit einhergehen – sicher ist der Mensch oft gemein und kleingeistig – aber ebenso kann er großartig und edel sein. Von beiden Tendenzen muss im Hinblick auf die Dynamiken die zugrunde liegen ehrlich erzählt werden.
Jede Erzählung über das Verhalten und Wesen des Menschen kommt jedoch an ihre Grenzen, wo das Moment des Irrationalen auftritt. Der blinde Fleck im Menschen (oder in der Welt selbst), der sich dem rationalen Zugang entzieht. Was wir in der zeitgenössischen Kunst häufig erleben, ist eine Tendenz zu einem quasi formalen Blick. Die Geschichte wird in soziologischen Zusammenhängen erzählt, als ginge es darum, eine Rechenaufgabe zu lösen. Klasse, Ethnie, und Geschlecht werden durcheinandergewürfelt und mit einer moralischen Lehre beladen. Am Ende hebt der hornbebrillte Schreiberling mahnend seinen Zeigefinger und ruft aus: „Die Gleichung ist gelöst! Es braucht nur mehr von diesem und jenem Element!“. Seit Jahrzehnten werden wir nun mit Geschichten gelangweilt, die mal mehr, mal weniger stark nach diesem Schema gestrickt sind und sich in erster Linie einem sowohl überholten als auch langweiligem Fortschrittsglauben verpflichtet fühlen.
Burning (2018) ist in diesem Sinne interessantes filmisches Erzählen, da die sozialen Spannungen deutlich aufgezeigt werden und ihr Einfluss auf das Handeln und Fühlen der Charaktere sichtbar ist. Die Geschichte erschöpft sich jedoch nicht in dieser Betrachtung – die sozialen Missstände bilden vielmehr ein drohend umherwanderndes Element unter vielen; Teil eines Versteckspiels, bei dem der Zuschauer das Geschehen nie auf eine Bedeutungsebene festlegen kann. Die Figuren sind in ihrem Handeln ebenso unergründbar wie der Realitätsgehalt dessen, was passiert. Der oscargekrönte Film Parasite (2019) ist trotz der Auszeichnung vergleichsweise langweilig im wahrsten Sinne des Wortes; ein soziologisches Lehrstück, bei dem der Zuschauer zu einer bestimmten Bedeutungsebene hingedrängt wird.
Um die Gleichung zu verwerfen, braucht es also ein Element X – das Hereinbrechen eines rational nicht-Nachvollziehbaren, sei es im Verhalten der Charaktere oder in den Umständen, die sie umgeben und auf sie einwirken. Am elegantesten ist es dabei, wenn im Leser oder Zuschauer eine Art von assoziativem Denken angestoßen wird, welches von sich aus bereits aus dem Rahmen des Rationalen oder logisch Notwendigen heraustritt. Die Kombination von Bildern, Figuren, Worten (und im Film auch die der Musik), macht dabei Sinnzusammenhänge auf, die einer intuitiven Logik folgen. Dass diese Art zu empfinden nicht ein bloßes „Gimmick“ eines Erzählstils ist, sondern eine sehr eigenständige und tief im Menschen angelegte Art zu empfinden, verrät ihre Ähnlichkeit mit dem Traum. Dort finden wir die gleiche scheinbar bizarre Verknüpfung von verschiedenen Inhalten, die nach dem Aufwachen sinnlos wirken, aber für die Dauer des Traums nicht bloß einen gefühlten Sinn ergeben, sondern oft auch starke Gefühle hervorrufen. Eben diese Gefühlsregung ist es, worauf der Künstler abzielt, wonach sich die assoziative Lockerung in seiner Erzählung richtet. Es soll kein bloßer „Unsinn“ sein, der dadurch entsteht, sondern eben jene tiefere Wahrnehmungsschicht des Lesers oder Zuschauers gekitzelt werden.
So könnte man in der heutigen Zeit mit den Mitteln der Kunst ein Bild der Welt entwerfen. Es gibt keinen simplen Weg zurück zur europäischen Hochkultur. Sie kann in Erinnerung gehalten, aber nicht in historischer Form weitergelebt werden, ohne zu einem Live-Action-Role-Play zu werden. Erzählt man vom Menschen in schonungsloser Härte und verweigert zugleich dem Leser oder Zuschauer einen einfachen Sinnzusammenhang, bedeutet das, dass man sich der Zerrissenheit der heutigen Zeit stellt, sie erfahrbar macht und sie vielleicht sogar für den Augenblick überwindet.
Um solche neuen Geschichten zu ermöglichen, habe ich mit einigen Freunden letztes Jahr das Nullpunkt-Filmfestival ins Leben gerufen. Dort können uns Filmemacher ihre Werke zusenden und werden bei gelungenen und neuartigen Bildwelten mit einem Preis geehrt.
Der hier vorgestellte Ansatz ist mein persönlicher und ich schreibe nicht im Namen des Festivals. Dennoch ist mein Mitwirken an diesem Projekt natürlich von meiner Vorstellung von Kunst beeinflusst, ebenso wie von dem Wunsch, bei dem Entstehen einer neuen Kunstszene behilflich zu sein.