Wenn wir nach dem Zustand unserer Kultur fragen, wird oft auf das Stadium der Dekadenz und des Verfalls hingewiesen. Die Gemeinschaft ist im Kern aufgelöst und hat ihre gemeinsame Grundlage zugunsten einer inneren Ausdifferenzierung preisgegeben. Doch gibt es einen Gradmesser für den Zustand einer Kultur? Gibt es Voraussetzungen, die für jede höhere Kultur unerlässlich sind?
Wenn man dem englischsprachigen Schriftsteller und Essayisten T.S. Eliot (1888-1965) folgt, dann ja. Eliot stützt sich dabei auf einen von ihm erarbeitete Kulturbegriff, der zugleich maßgeblich für die universitäre Diskussion über eine zeitgemäße Definition desselben war. Dieses vorherrschende Verständnis wurde durch den sogenannten cultural turn endgültig aus dem geisteswissenschaftlichen Betrieb ausgebootet. Dennoch, oder gerade deshalb, verweist Eliots Kulturbegriff auf Aspekte, die ein systematisch-methodischer Zugang nicht aufdecken kann. Eliot Selbstverständnis als Europäer, als ein Vertreter des Abendlandes, hilft ihm, über eine deskriptive Beschreibung der Kultur hinauszugehen und ein narratives Element in seine Deutung aufzunehmen.
Nach T.S. Eliot ist Kultur in erster Linie eine bestimmte, eigene Art und Weise des Denkens. Sie bezeichnet alle charakteristischen Betätigungen und Interessen eines Volkes, ist dabei aber nicht die Summe verschiedener Betätigungen, sondern eine ganzheitliche Lebensform. Zugleich ist Kultur aber auch immer etwas, das man nicht auf exakte Formeln herunterbrechen und damit auch nicht bewusst erstreben oder initiieren könnte. Dieses Kulturverständnis rückt Kultur in die Nähe von Natur. Denn die Kultur gehört zum Wesen, zur Natur, des Menschen: Kein Mensch ist ohne Kultur. Kultur kennt jedoch kein bestimmtes Ziel, sie ist nicht systematisierbar, sondern ein Zusammenspiel aus mehreren Elementen, sie ist ein „Gesamtorganismus der Gesellschaft“.
Zugleich steht jede Kultur auch immer in einem fließenden Austausch mit anderen Welten und Bildern und macht sie somit variabel und anpassungsfähig. Aus diesem Gesamtorganismus heraus entsteht auch das Individuum und sein Selbstverständnis, denn die Kultur eines Individuums ist unmittelbar auf die der Gruppe angewiesen, die ihm seine Einzelstellung zuweist. Ein unabhängiges Individuum kann somit nicht einmal theoretisch existieren. Selbst in zivilisierten Gesellschaften bleibt der Einzelne an den Zusammenhang der ihn umgebenden Gruppe, gebunden.
Dieser Vermittlungsprozess von Kultur findet vordergründig durch die Sprache statt, weshalb die Literatur und Dichtung in Eliots Verständnis einen so großen Stellenwert einnehmen. Wenn ein großer Dichter, wie beispielsweise Goethe, einmal gelebt hat, sind bestimmte Möglichkeiten des Dichtens und Denkens einer Kultur durch ihn erschöpft worden. So verhält es sich auch mit den Kulturen an sich: Wenn bestimmte Höhen erreicht wurden, sind diese Möglichkeiten unwiderruflich abgeschlossen. Gerade in der abendländischen Kultur ist, durch die Komplexitätssteigerung und Ausdifferenzierung der kulturellen Teilgebiete in der Moderne, der Zustand dieses Stadiums weit fortgeschritten.
Eliot unterscheidet zwei Ebenen der Kultur, die in dem Gesamtsystem zusammentreffen. Erstens ist Kultur ein System von Sinnzusammenhängen, das vermittelt, wie die Welt zu ordnen und zu verstehen sei. Diese erste Ebene ist eng mit der Religion verflochten, denn sie gibt Zeit ihres Bestehens dem Leben einen greifbaren Sinn, stellt somit ein Gerüst für die Kultur und bewahrt die Masse vor geistiger Leere. Die zweite Ebene bezeichnet die kulturellen Erscheinungsformen wie Kunst, Architektur, Literatur usw., die ein bestimmtes Verständnis der Welt widerspiegeln. Diese Erscheinungsformen sind dabei auf einen Sinnzusammenhang und eine Deutung der Welt angewiesen, die den Formen eine Richtung und Legitimation gibt.
Um einen Zustand der Kultur zu beschreiben, nutzt Eliot den Vergleich zwischen primitiven und zivilisierten Kulturen. Ein entscheidender Vergleichsparameter liegt im Stadium der Ausdifferenzierung. Wenn in primitiven Kulturen einzelne Bereiche der Kultur sehr eng miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen, so gestaltet es sich in zivilisierten Kulturen so, dass bestimmte Bestandteile sich verselbstständigen und ein anderes Element dominieren wollen, beispielsweise der Staat die Religion, so Eliot. Ein Fortschritt, also eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die deren Komplexität steigert, führt zu einer Spezialisierung der Kultur und somit zur Auflösung „des inneren Bands“ der Gemeinschaft. Zu betonen gilt, dass Eliot keine ethisch-moralische Wertung über den Zustand einer Kultur vornimmt, sondern eine Bestimmung ihres inneren, selbstlegitimierenden Zustands vornimmt.
Unsere zeitgenössische Lebenswelt ist hingegen vor allem von einer sinnentleerten Umgebung dominiert. Alle kulturellen Erscheinungsformen scheinen beliebig, da sie sich lediglich durch ihren zweckmäßigen Nutzen hinsichtlich ihrer Vermarktbarkeit definieren lassen. Sie verweisen auf eine Gedankenwelt in der nur das Material, die Hülle, die Konsumierbarkeit die entscheidenden Faktoren sind. Wie können wir mit diesem Stadium umgehen, gibt es eine Möglichkeit zurück, zu einem vergangenen Zustand?
Eliot meint nein, es ist vielmehr notwendig, eine Welt zu gewinnen, die einen Sinn hat. Um in einer Welt zu leben, in der jeder Mensch seinen Platz und seine Bestimmung kennt, bedarf es einer kulturellen Erneuerung. Doch wie eine neue Kultur aussehen könnte, ist nicht bestimmbar. Wiederzugewinnen ist daher zuallererst ein schöpferischer Blick auf die Welt, der unsere kulturellen Erscheinungsformen in einen höheren Sinnzusammenhang einbettet. Von diesem ausgehend könnten sich neue Möglichkeiten ergeben. Wie die Form jedoch konkret aussehen kann, ist nicht zu bestimmen, da es sich bei nicht um ein technisch-mathematisches Verfahren handelt, sondern um eine Hermeneutik, in der der Mensch als ein kulturelles, gemeinschaftliches Wesen verstanden wird, das in einem unmittelbaren Austauschprozess der Natur steht.
„Keine Auflösung ist so bedrohlich wie die kulturelle, und sie ist am schwersten zu heilen.“
Literatur
T. S. Eliot, Die Einheit der europäischen Kultur, Berlin 1946.
T.S. Eliot, Zum Begriff der Kultur, Hamburg 1961.