Herbst 2018. Hetzjagd in Chemnitz. „Hetzjagd“, weil ein paar Biodeutsche hinter zwei Neudeutschen herliefen, um sie zu erwischen. Um das Video zu löschen, das diese von den Demonstranten gedreht hatten. Die Lage war unübersichtlich. Es gab eine Demo und einige deutsche Männer, die, aus ihr heraustretend („Ausschreitungen“ im Wortsinne), rannten, ca. 40 m zu überwinden hatten, um zwei fremdländisch aussehende junge Männer zu erreichen. Wie sich später herausstellte, hatte einer der Verfolger mit einer Bierflasche das Handy des einen der beiden Afghanen zerstört. Der damalige Regierungssprecher Seibert, vormals Journalist im ZDF und von der Kanzlerin persönlich hochgelobt, verlieh dieser Szene die Überschrift „Hetzjagd“ bzw. „Menschenjagd“. Das war die Bezeichnung der Situation durch die Antifa „Zeckenbiß“, die als Täter „Nazi-Hools“ ausgemacht zu haben glaubte. Alle Journalisten der Leitmedien nahmen diesen Begriff begeistert auf. Ein ehemaliger Journalist hatte „Hetzjagd“ gesagt, und die Schreiber dankten ihrem Kollegen und klatschten Beifall.
Erst nachdem diese Deutung sich durchgesetzt hatte, ohne dass ein „vermutlich“ oder „mutmaßlich“ den Übergangscharakter dieses Verdikts demonstriert hätte, untersuchte der Verfassungsschutz. Denn eine rassistische Tat wird immer vom Verfassungsschutz untersucht und nicht etwa von der Polizei oder informell von Kirche oder von Mediatoren. Der damalige Chef des Verfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen, wagte es, der Interpretation „Hetzjagd“ zu widersprechen. Das gäben die Bilder und die Aussagen nicht her. Das sei überinterpretiert. Nicht jede Aggression, die zwischen Eingeborenen und Dazugekommenen geschieht, dürfe als „rassistisch“ bezeichnet werden. Vernünftiger Mann. Aber mit der allgemeinen Vernunft war es schon lange vorbei. Man bestrafte den Boten der Nachricht – er wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt – und die Deutung von ganz oben wurde zu einer allgemeinen. Jedenfalls was die Leitmedien betraf.
Bizarr wurde das Nichtereignis dadurch, dass auf dem Video die Stimme einer Frau zu hören war, die laut und deutlich ihrem in den Startlöchern stehenden Ehemann, der sich an der Rauferei beteiligen wollte, befahl: „Hase, du bleibst hier!“ Ein Satz wie der des Jungen im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Er hätte die Kraft gehabt, entspannend zu wirken. Ein großes Lachen hätte ausbrechen können. Die Absurdität, mit der im heutigen Deutschland Narrative herbeigekrampft werden, war mit Händen zu greifen. Die Ehefrau hat unbewusst und ungewollt (sie konnte ja im Moment des Geschehens noch nicht wissen, wie diese Situation von führenden Vertretern des Mainstreams interpretiert werden würde) eine Gegenerzählung eröffnet. Und die war eine typisch ostdeutsche:
Beginnen wir mit der Anrufung „Hase“: Ein solches höchst intimes Kosewort war typisch in Mann-Frau-Beziehungen im Osten. Dass es in aller Öffentlichkeit ohne Scham herausgerufen wurde, sich eine Frau in gewisser Weise outete (und ihren Mann gleich mit), wäre im Westen des Landes kaum vorstellbar. Das „Du bleibst hier“, das sie dreimal rufen musste, bevor sie sich durchsetzen konnte, sagt etwas über Rolle der Frau in dieser Ehe aus: Sie ist selbstbewusst und akzeptiert nicht alles, was ihr Mann tut, nimmt nichts einfach nur hin. Sie ist gewohnt, dagegenzuhalten und gehört zu werden. Vielleicht ist der Angetraute ein Heißsporn, und sie ist schon seit Jahrzehnten mit Schadensbekämpfung beschäftigt. Beide teilen eine ganze Menge, haben Vieles gemeinsam, aber wenn es um Nüchternheit, Pragmatismus und schiere Vernunft geht, liegt der Ball in ihrem Feld. Diese Arbeitsteilung wird von beiden akzeptiert. Er hat Temperament und viele gute Ideen, liebt seine Kinder und zeigt es ihnen. Und er ist ehrlich und in seiner Jungenhaftigkeit einfach liebenswert. Aber manchmal trinkt er zu viel und ist schnell auf der Palme. Dann greift sie ein. Dann greift sie auch mal durch. Zärtlich, aber bestimmt.
Solcherart Beziehung war die Regel in der untergegangenen DDR. Zumindest keine Seltenheit. Die Berufstätigkeit beider Eheleute prägte das Privatleben und gab sowohl ihm als auch ihr Selbstvertrauen. Keiner war dem anderen überlegen. Beide zusammen kämpften für ein bisschen Glück und Zufriedenheit im Familienleben und mit Freunden. Mit den Gartennachbarn feierten sie gern nach getaner Arbeit. Die Kinder liefen frei herum. Man ließ sie mit anderen spielen und prüfte nicht ständig, ob sie noch da waren. Sie würden schon zurückfinden. Das Leben war übersichtlich und in seiner Schlichtheit lebenswert. Man nahm, was man kriegte. Und manchmal macht man aus Scheiße Bonbons.
Im Zuge der Abwicklung ihres Heimatlandes und dessen Wirtschaft hatten sie zu strampeln, um nicht unterzugehen. Er verlor seine Arbeitsstelle, sie eignete sich die Normen der neuen Praxis an, und beide versuchten, die Kontrolle über ihre Kinder und deren neue Lebensweise zu behalten. Die beiden lernten schneller als ihre Eltern. Manchmal verkehrten sich die Rollen: Die Kinder brachten ihre Eltern bei, was Computer und Internet waren und konnten. Das kleine Reihenhaus an der Peripherie von Chemnitz haben sie sich aus dem Kopf geschlagen. Sie würden in ihrer Neubauwohnung bleiben – im besten Fall. Zu mehr als Billigreisen in die alten Länder oder nach Österreich hatte es nie gereicht.
Als Pegida auch in Chemnitz lief, schlossen sie sich an. Das Wüten der Treuhand saß ihnen noch in den Knochen. Und jetzt durften Leute von sonst wo, die weder Deutsch sprachen noch irgendeine verwertbare berufliche Kompetenz besaßen, unter ihnen leben, die vom Staat ohne Gegenleistung Arbeitsersatzgeld bezogen und die Nächte durchfeierten. Das war so ungerecht! Und gestern haben sie einen Chemnitzer erstochen. Dagegen musste man doch protestieren! Wie sollte das denn alles weitergehen? Wo und wer war man denn?
Gesicht zeigen sollte man. Gegen Rassismus! Gesicht zeigen wollten sie – gegen die grassierende Ausländerkriminalität. Dagegen, dass kulturfremde Jungmänner, die von der Stütze lebten, auch noch ihre Großfamilien hier her brachten, ihre Kopftuchmädchen, die natürlich auch von der staatlichen Stütze lebten, während die arbeitslosen Einheimischen beim Amt akribisch nachweisen mussten, dass sie sich jede freie Minute für irgend einen Job bewarben, sonst gab es Abzug. Und jetzt hatten die Nichtsnutze auch noch einen von ihnen umgebracht. Einen Deutschen kubanischer Herkunft, der gut integriert gewesen war!
„Hase, du bleibst hier! Du bleibst hier! Du bleibst hier!“ Sie sollten und wollten friedlich demonstrieren, wie im Herbst ’89. Keine Gewalt! Jedes Schimpfwort würde man ihnen als Ausländerfeindlichkeit, als Rassismus, als Nazismus auslegen. Nicht mit uns! Hase, du.bleibst.hier!