Alles nur Worte

1.

Nachdem mir der Deutschlandfunk, der mich von Kind an erst durchs ostdeutsche, dann durch das bundesdeutsche Leben navigiert hatte – zumindest das politische Tier in mir – abhandengekommen ist (ich ertrug das p.c.- und Gendergequatsche von Moderatoren und Interviewten nicht länger), kehrte ich beim hiesigen Mitteldeutschen Rundfunk ein. Die Musik auf dem Kulturkanal ist besser als die anderer Sendeanstalten. Die Kultur unserer drei Bundesländer geht mich an und ich fühle mich akustisch zu Hause. Aber ein Tränchen vergoss ich schon beim Abschied: vierzig Jahre Freundschaft und Inspiration. Wie konntest du nur so tief sinken!

Natürlich erlauben es sich auch die Radiojournalisten Sachsens nicht, die Forderungen der politisch und kulturell herrschenden Kaste einfach zu ignorieren. Auch sie sondern Neusprech ab. Aber es hält sich in Grenzen, und man meint die Gänsefüßchen zu hören, wenn gezielter Pfusch am Bau betrieben wird. In vierzig Jahren Sozialismus hatte man ja auch in zwei verschiedenen semantischen Welten gelebt (genau genommen sogar in drei, denn die Sklavensprache der Literatur war nahezu eine eigene Gattung), und es tat gar nicht weh. Aber wir hatten eine Wahlmöglichkeit: Wenn man die Aktuelle Kamera nicht aushielt, drehte man den Schalter auf Westempfang und hatte das Gefühl, am Weltgeschehen beteiligt zu sein. In Bezug auf Radio und Fernsehen gibt es diesen Fluchtpunkt heute nicht mehr.

Journalisten sind Trüffelsucher. Sie nehmen die Fährte auf, wenn ihnen Extravagantes in Aussicht gestellt wird: eine Story oder ein Wort. Das Wort, das jemand auf das Trottoir fallen ließ, greifen sie auf, werfen es in den Himmel, und es leuchtet wie ein Feuerwerk. Kollegen und Politiker, manchmal auch Wirtschaftsmenschen, fangen es auf, schicken es weiter und machen es berühmt und zum Modewort. Das Publikum hat in diesem erfolgreichen Fall verstanden, wie es zu denken und – in der Folge – zu sprechen hat.

 

2.

Es gibt aber auch Worte, die keine Saison haben und von Journalisten mit Leidenschaft benutzt werden. In meinem neuen Lieblingsradiosender hat vor kurzem ein angestaubter politischer Begriff ein Revival gefeiert. Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine kündigte der Moderator eine Sendung zum Holodomor in den dreißiger Jahren an. Und dann arbeitete dieses Wort sich aus seiner Kehle und seinen Stimmbändern heraus.

Schon das Wort „Holodomor“ war ja nicht von Pappe. Vier „O“s hintereinander und kein anderer Vokal am Anfang, am Ende oder dazwischen! In diesem Zusammenhang schien das „O“ gar nicht mehr gefährlich und dunkel zu sein. Im Ganzen klang das Wort so weich wie ein brummender Teddybär. Versuchen Sie’s mal: Ho-Lo-Do-Mor. Ohne dass Sie die Form der Lippen ändern müssen, windet sich das Wort durch Ihre Mundhöhle und den runden Lippenkanal ins Freie. Do, re, mi, fa, sol.  Aber in weich und ein-tönig. Haben Sie eine Ahnung, was sich hinter diesen mantrageeigneten vier Silben verbirgt? – Ich löse das Rätsel für Sie auf: der gezielte Hungertod von mehreren Millionen Ukrainern zu Beginn der dreißiger Jahre, befohlen vom Georgier Josef Wissarionowitsch Stalin, dem „Eisernen“ und Führer der Sowjetunion, der damit auch schon einmal der eigenständigen Nation Ukraine das Existenzrecht abgesprochen hatte. Selten fallen Bezeichnung und Bezeichnetes akustisch so weit auseinander.

Doch dann – wir waren bei der Ansage eines Radiomoderatoren – sprach er vom Stalinschen Terror. Beide Worte, sowohl „Holodomor“ als auch „Terror“ gehörten nicht zum in der Schule vermittelten Wissen über den „Großen Bruder“. Das Mantra-Wort kannten wir vor der Wende überhaupt nicht. Und „Terror“ war ein Begriff, der nur im Zusammenhang mit der „Bader-Meinhof-Bande“ benutzt wurde. Jetzt durfte man es auch auf die Sowjetunion anwenden. Der Moderator sprach es mit Begeisterung, ja Leidenschaft aus. Er begann mit dem harten, zischenden Anlaut „T“. Der Weg führte über die ersten beiden „R“ hin zum Abschluss-„R“. Der Journalist rollte das erste lustvoll, so dass man meinen konnte, es sei ein genuin russisches Wort, zog es in die Länge und überwand das diesmal höllische „O“, um beim zweiten zum euphorischen Höhepunkt zu gelangen. Drohend und brutal war dieses letzte „R“: TERRRORRR.  Wie ein Donnergrollen. Man hört die Gewalt und sieht das Herunterrauschen des Fallbeiles. Rrrrratsch.

Die Genugtuung des Sprechers beim genießerisch-wonniglichen Ausspucken der Todesvokabel befremdete mich. Zu Gunsten des Lautmalers entschied ich mich für die gutmütige Interpretation, der zufolge er auf selbstverständigende Art die Freiheit genoss, sich in aller Öffentlichkeit einer Vokabel des ehemaligen Klassenfeindes zelebrativ zu bedienen. Ein Mann der sensiblen Ästhetik. Und der kleinen Rache. Jetzt darf ich sowas sagen. Anderes hingegen nicht mehr. Hm. Die Summe aller scheintoten Begriffe bleibt sich offenbar gleich.

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