Vergegenwärtigen wir uns zu Beginn noch einmal, wo wir heute nach Jean Gebser stehen. Blicken wir auf die wesentlichen Charakteristika der „mentalen Bewusstseinsstruktur“, die unser Wahrnehmen, Denken und Handeln dominiert und prägt:
Im normalen Wachbewusstsein des Tages nehmen wir uns als Vereinzelte wahr, die allem anderen gegenüberstehen. Wir sind der Natur entfremdet. Die Dinge haben für uns keine magischen Qualitäten und verweisen nicht auf eine andere Realität – sie sind uns schlicht, was sie faktisch sind. Dem Bewusstsein unserer selbst als abgetrennter, vereinzelter Individuen entspricht unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit: Wir sehen uns an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt, der Teil einer linearen Kette von Zeitpunkten ist. Zeit und Raum sind messbar und beherrschbar. Wir sind es gewohnt, vorauszudenken und für die Zukunft vorzusorgen mit Geldanlagen, Altersvorsorge, Versicherungen und anderem. Selbstreflexion und Distanzierung sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht nur unser individuelles Leben, sondern die gesamte Organisation unserer Städte und unserer Arbeitswelt mit ihrer genauen Zeittaktung und Rationalisierung fußt auf dieser Bewusstseinsform, wie schon 1903 der Soziologe Georg Simmel in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ gezeigt hat.
Im ersten Teil wurde gezeigt, dass und wie ältere Formen des Bewusstseins in uns weiterwirken. Doch eine geistige Erneuerung darf kein Rückfall in diese älteren Bewusstseinsformen bedeuten. Wer der Freiheit, dem Ich, der Verantwortung entkommen will in die Masse, in den Rausch, ins Dahinvegetieren, der wird keine Erneuerung erzielen können, sondern auch noch das bisher Erreichte verlieren. Es gilt, mithilfe von Gebser den Blick auf die „Keimlinge des Neuen“ zu richten, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf allen Gebieten der europäischen Kultur, in den Wissenschaften und Künsten, sichtbar geworden sind.
Ich konzentriere mich im Folgenden auf die „Keimlinge des Neuen“ in der modernen Kunst, die auch bei Gebser einen beträchtlichen Raum einnehmen. Zuvor muss aber noch auf die fundamentalen Umwälzungen in der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts hingewiesen werden, auf Relativitätstheorie und Quantenphysik. Mit seinem ersten Aufsatz über Relativitätstheorie, der 1905 erschien, stieß Einstein eine grundlegende Revision der Physik an, die ihm schließlich sogar „über den Kopf wuchs“, als Bohr und Heisenberg die Tendenz zunehmender Abstraktion und Mathematisierung in der Quantenphysik auf die Spitze trieben. Diese fundamentale Revision der Grundbegriffe der zentralen Naturwissenschaft ist nach Gebser Anzeichen eines neu sich bildenden Bewusstseins – sie ist zwar nicht selbst dieses neue Bewusstsein, aber sie weist darauf hin.
Malerei
Im ersten Teil wurde bereits erwähnt, dass die Zentralperspektive in der Malerei nach Gebser die künstlerische Ausdrucksform der mentalen Bewusstseinsstruktur ist. Es ist deshalb von größter Bedeutsamkeit, wenn die Malerei seit Paul Cézanne die Zentralperspektive aufgibt. In Cézannes Stillleben „Der Küchentisch“ aus den Jahren 1888–90 finden sich viele Formen, die nach den Maßstäben der zentralperspektivischen Darstellungsform als falsch zu bezeichnen wären, die aber dann sinnvoll sind, wenn man statt eines einzigen mehrere bzw. „wandernde“ Fluchtpunkte erkennt.
Im Gegensatz zur perspektivischen Malerei, die um ein einziges Zentrum organisiert ist, ist diese Malerei multiperspektivisch und „polyzentrisch“, also um mehrere Zentren herum gruppiert.
Die Malerei Cézannes bereitete den Kubismus vor, dessen Protagonisten Pablo Picasso und Georges Braque waren. Der Grundgedanke ist, einen und denselben Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven gleichzeitig zu malen. Das Ur-Bild des Kubismus ist Picassos „Les Demoiselles d’Avignon“, mit dem schockierenden Gesicht der Frau, die rechts unten kauert.
Mit dem Kubismus waren Picasso und Braque einen ersten Schritt in Richtung der „abstrakten“ Malerei gegangen, die nur noch Formen, aber keine erkennbaren Gegenstände mehr darstellt. Diesen Weg beschritten Wassily Kandinsky, Marcel Duchamp und Piet Mondrian.
Fassen wir zusammen: Die moderne Malerei ist nicht perspektivisch, sondern – um das von Gebser vorgeschlagene Wort zu gebrauchen – aperspektivisch. Der wandernde Fluchtpunkt bringt Bewegung in den Raum des Gemäldes und bricht die Fläche auf. Vor polyzentrischen, kubistischen oder abstrakten Gemälden steht der Betrachter dem Dargestellten nicht gegenüber, sondern wird in den Bildraum gewissermaßen „hineingezogen“ und involviert.
Musik
In der modernen Musik geschieht etwas Ähnliches wie in der modernen Malerei: das Zentrum wird aufgegeben. Die Musik der Tradition ist auf ein tonales Zentrum bezogen, das Anfang und Abschluss einer Komposition bildet. Manche Töne können nur als Durchgangstöne auftreten, Dissonanzen verlangen nach Auflösung. Die sogenannte „atonale“ Musik lockert diese Verfahrensweisen der Komposition auf: Verschiedene Harmonien können gleichzeitig erklingen („Polytonalität“) und das tonale Zentrum kann sich im Laufe einer Komposition mehrfach verschieben, was der polyzentrischen Malerei Cézannes und der Kubisten entspricht. In der „freien Atonalität“ versuchte Arnold Schönberg ein Komponieren ohne tonale Zentren. In seiner Zwölftonmusik sind alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter streng gleichberechtigt und dürfen erst dann wieder erklingen, wenn zuvor alle elf anderen Töne einmal erklungen sind – was dazu dienen soll, alle Töne als gleichwertig zu etablieren und der unwillkürlichen Bildung tonaler Zentren entgegenzuwirken.
Als eine Art Initialzündung der Neuen Musik gilt der vierte Satz von Schönbergs zweitem Streichquartett, das 1908, also kurz nach Einsteins erstem Aufsatz zur Relativitätstheorie (1905) und Picassos „Demoiselles d’Avignon“ (1907), komponiert wurde. Im vierten Satz dieses Streichquartetts singt eine Sopranstimme einen Text von Stefan George: das Gedicht „Entrückung“ aus dem Zyklus „Der siebente Ring“. Mit Versen wie „Ich fühle luft von anderem planeten“ wird der Übergang von der Tonalität zur Atonalität vollzogen.
Literatur
Das Multiperspektivische, Polyzentrische, das Malerei und Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickeln, findet auch Entsprechungen in der Dichtung. Die Einheit des Ichs wird in der modernen Lyrik aufgesprengt: räumlich und zeitlich völlig Disparates kann in einer einzigen Strophe eines Gedichts, ja sogar in einem einzigen Vers vereint sein. Das gilt auch für ganz unterschiedliche Stimmungen und widersprüchliche Symbole, wie man in den letzten beiden Strophen des Gedichtes „Menschliches Elend“ von Georg Trakl sehen kann:
Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer lauft ein Hund vorbei.
Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.
Auch moderne Romane wie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust und „Ulysses“ von James Joyce geben die souveräne Übersicht des auktorialen Erzählers auf zugunsten eines Nebeneinanders von ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das Erzählte.
Diese Verfahrensweisen haben Auswirkungen auf die Darstellung der Zeit in der modernen Literatur: Sowohl der „mythische“ Zyklus als auch der „mentale“ Zeitpfeil werden relativiert. So weist die moderne Literatur auf die Möglichkeit hin, die Zeitfreiheit der archaischen Bewusstseinsstruktur wahrzunehmen. Prousts „Suche“ beispielsweise gipfelt in der Erfahrung eines intensiven, unvergänglichen Moments, der den Menschen erneuert.
Zusammenfassung: Das neue Bewusstsein
Wenn man die Deutungen Gebsers ernst nimmt, kann man sagen: In der modernen Kunst zeigen sich die Keime eines neuen Bewusstseins. Dessen Charakteristika lassen sich abschließend zusammenfassen:
– Die aperspektivische Wahrnehmung, bei der sich das Wahrgenommene nicht um ein Zentrum organisiert, sondern mehrere und sich verschiebende Zentren vorhanden sein können
– Damit verbunden die Relativierung des Ichs. Auch wenn das Ich entscheidend für die Freiheit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen ist, führt es auch in Vereinzelung und Distanz zu allem anderen. Die Möglichkeit dieser Distanzierung bleibt auch im aperspektivischen Wahrnehmen erhalten, doch wird sie aufgehoben in etwas, was Gebser als „Teilhabe“ bezeichnet.
– Die Relativierung von Raum und Zeit und die Wahrnehmung der Zeitfreiheit. Zwar kann man sich weiterhin als fest umrissenes Ich an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt lokalisieren, doch werden Ich, Raum und Zeit transparent auf die dahinterliegende Zeitfreiheit.
Diese Überlegungen mögen reichlich weltfern und abstrakt anmuten. Doch lassen sich derart grundlegende Wandlungen, wie Gebser sie beschreibt, nur schwer in leicht verständlichen und griffigen Formeln beschreiben. Wichtig ist aber, dass das neue Bewusstsein, wenn es wirklich zum Durchbruch kommen sollte, keineswegs nur die Wahrnehmung des Einzelnen verändern, sondern für das Entstehen einer neuen Grundlage der europäischen Kultur sorgen würde. Dies würde dann nichts unberührt lassen – weder die Wahrnehmung noch das Denken und das Handeln. Es würde die Formen unserer Weltgestaltung grundlegend verändern: Kunst, Wissenschaft, Städtebau, Architektur, ja selbst die Wirtschaft.
Dennoch muss man damit rechnen, dass das neue Bewusstsein zunächst nur von einer kleinen Elite in kleinem Maßstab realisiert werden wird. Diese kleine Elite könnte sich aber im günstigsten Fall als „Keimling des Neuen“, als „Sauerteig“ oder „Senfkorn“ einer neuen europäischen Kultur erweisen. Ob diese neue Kultur dann auf dem Boden des Kontinents gedeihen kann, den wir heute „Europa“ nennen, oder ob sie sich neue Räume wird suchen müssen, ist eine andere Frage.