„Denn groß ist die Stunde und neu, wo es neu sich zu fassen gilt. Und wem denn überließen wir die Ehre unserer Zeit?“
Saint-John Perse in seiner Nobelpreisrede von 1960
Es ist heute unter Konservativen „in Mode“, sich in Pessimismus zu ergehen und sich Szenarien des Niedergangs auszumalen. Oswald Spenglers Formel vom bevorstehenden „Untergang des Abendlandes“ wird häufig benutzt; dabei steht die Problematik des starken Bevölkerungswachstums in armen Ländern und der anwachsenden Migration nach Europa im Mittelpunkt. Unter dieser demographischen und politischen aber schwelt in Europa eine tieferliegende geistige Krise: Die Verheißungen der Moderne, der Technik und des Fortschritts sind schal geworden, säkulare Ersatzreligionen vermögen keinen Sinn mehr zu stiften und die christlichen Konfessionen haben mit einem wachsenden Glaubensverlust zu kämpfen. In diese Situation hinein spricht das Werk eines Kulturphilosophen, das zwar zu politischen Fragen nur wenig beitragen mag, dafür aber umso mehr Relevanz für eine Antwort auf unsere geistige Krise besitzt: das Werk Jean Gebsers.
Er schreibt zu Beginn seines Hauptwerkes „Ursprung und Gegenwart“, das 1949 und 1953 in zwei Bänden publiziert wurde: „Wer heute das Werden einer neuen Epoche der Menschheit als Gewißheit betrachten würde, wer die Überzeugung ausspräche, daß es infolge einer neuen Geisteshaltung der Menschen, und infolge eines neu sich bildenden Bewußtseins, eine Errettung aus Zusammenbrüchen und Chaos geben könne, der würde ohne Zweifel weniger Glauben finden als jene, die den Untergang des Abendlandes verkündet haben.“ (Ursprung und Gegenwart, S. 23)
Gebsers Gedanke eines „neu sich bildenden Bewusstseins“ wurde in der New-Age-Bewegung aufgegriffen und trivialisiert. Doch Anleitungen zu Drogentrips oder „Meditation“ wird man bei Gebser vergeblich suchen. Wer seine Schriften liest, findet nicht nur eine originelle Darstellung der Kulturgeschichte und eine Diagnose der Fehlentwicklungen der europäischen Moderne – er findet auch eine Fülle an Hinweisen auf ein neues Denken, die Hoffnung machen und den Spengler’schen Pessimismus zumindest dämpfen könnten. Es ist das erklärte Ziel Gebsers, in „der Betrachtung aller Äußerungen unserer Zeit so weit und so tief vorzustoßen, daß uns die dämonischen und zerstörenden Aspekte nicht mehr bannen, so daß wir nicht nur sie sehen, sondern hinter und unter ihnen die unermeßlich starken Keimlinge des Neuen wahrnehmen, für das die einstürzende Welt den Humus liefert.“ (S. 29) Ob die „Keimlinge des Neuen“, die Gebser seinerzeit wahrnahm, auch heute noch Hoffnung stiften können, muss letztlich jeder Leser selbst entscheiden.
Hier werde ich zunächst die älteren Strukturen des menschlichen Bewusstseins darstellen, die Gebser im ersten Band seines Hauptwerks beschreibt. Er neigt dazu, diese Strukturen an alten Artefakten abzulesen, auch wenn er betont, dass ältere Strukturen keineswegs einfach durch neuere ersetzt wurden, sondern auch im heutigen Menschen der technischen Zivilisation weiterexistieren und in tieferen Schichten seines Geistes weiterwirken. Ich werde hier etwas anders als Gebser vorgehen, indem ich die einzelnen Strukturen vor allem an Beispielen aus der Gegenwart erkennbar werden lasse. Das dient der Ausrichtung des Blicks auf die von Gebser angezielte geistige Erneuerung, die nur vom „Sprungbrett“ einer vollen Bewusstwerdung der älteren, tieferliegenden Strukturen des Bewusstseins aus möglich ist.
Die archaische Bewusstseinsstruktur
In dieser anfänglichen Struktur kann man eigentlich gar nicht von „Bewusstsein“ reden, denn hier ist der Mensch eins mit der Welt. Im tiefsten, traumlosen Schlaf, in Momenten tiefsten Schweigens und größter Stille oder allergrößter Hingabe an Kunstwerke mag eine Erfahrung diesen Einsseins möglich sein. Es sind dies immer auch Erfahrungen der Befreiung aus dem Hier und Jetzt, aus Zeit und Raum. Ob es jemals Menschen gab, die dauerhaft in einem solchen Bewusstseinszustand lebten, ist fraglich. Vielleicht ist deshalb Gebsers Beschreibung der archaischen Struktur seine Version eines Mythos vom verlorenen Paradies.
Die magische Bewusstseinsstruktur
Hier setzt der Riss ein, der sich in den folgenden Strukturen erweitern und vertiefen wird: der Riss zwischen dem Menschen und der Welt, zwischen Zukunft und Vergangenheit, zwischen dem, was bloß gedacht wird und dem, was real ist. In der magischen Struktur ist dieser Riss noch klein, das Ich-Bewusstsein des Menschen nur schwach ausgeprägt. Er ist symbiotisch mit seiner Umwelt, mit der Tier- und Pflanzenwelt sowie den anderen Menschen „verwachsen“. In der Wahrnehmung kann alles für alles stehen: Die Voodoo-Puppe steht für einen Menschen, und wer sie durchbohrt, verletzt dadurch auch den Menschen. Entfernungen in Raum und Zeit spielen eine geringe Rolle.
Jeder kennt ein solches Erleben aus der frühen Kindheit oder aus Träumen. Die magische Symbioseerfahrung mag dem vereinzelten, hochgradig individualistischen Stadtmenschen sehr fremd sein, aber gerade deswegen sucht er sie im Liebesakt, in Discos, auf Konzerten oder Demonstrationen, im schlimmsten Fall auch im Gewaltrausch eines Mobs oder in Drogentrips.
Von einer symbiotischen Situation in einem Militär-U-Boot berichtet der Psychologe Erik H. Erikson: „Mannschaft und Kapitän kommen zu einer Symbiose, die nicht allein auf den dienstlichen Vorschriften beruht. Mit erstaunlichem Takt und ungelernter Weisheit werden stillschweigend Anordnungen getroffen, durch welche der Kapitän zum Sinnesapparat, Gehirn und Gewissen des ganzen unter Wasser lebenden Organismus der bis ins kleinste aufeinander abgestimmten Maschinerie und Menschengruppe wird“. (Identität und Lebenszyklus. 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1991. S. 21.) Ichverlust und Symbiose bedeuten Entlastung, aber auch Gefahr für den Menschen, denn er verliert die Kontrolle und damit auch seine Verantwortungsfähigkeit.
Die mythische Bewusstseinsstruktur
Was in der magischen Struktur angefangen hat, setzt sich hier fort: Indem der Riss zwischen Mensch und Welt sich vergrößert, wird der Einzelne seiner selbst inne als jemand, der von allem abgetrennt an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt existiert. In der mythischen Struktur ist der Mensch in zyklische Abläufe der Natur eingebunden: Tag und Nacht, Jahreszeiten, Saat und Ernte, Mond- und Sonnenzyklen, der Lauf der Gestirne, Ebbe und Flut.
Auch hier empfiehlt sich ein Rückblick auf die eigene Kindheit, um dieses Erleben einer Geborgenheit in immer wiederkehrenden Abläufen nachzuempfinden. Es vermittelt ein Gefühl von Beständigkeit und Dauer, das der Geschäftigkeit und Hektik des erwachsenen Stadtmenschen entgegengesetzt ist.
Die mythische Struktur lebt fort in unserer Begeisterung für Geschichten und Bilder, sei es in Büchern oder in Filmen und Serien. Hier denken wir nicht rational, sondern verlieren uns in einen erzählerischen Ablauf, der häufig durch die Archetypen alter Mythen geprägt ist. Die Werbeindustrie macht sich unsere Lust auf Bilder zunutze, indem sie mit ihrer Hilfe unsere rationale Fähigkeit zu Reflexion und Distanzierung aushebelt.
Die mythische Struktur ist nach dem Prinzip der Ergänzung, des Sowohl-als-auch, und nicht nach dem des Gegensatzes und des Entweder-oder organisiert. Entsprechend sind Ich und Welt hier zwei Hälften eines Ganzen, das sich noch nicht gespalten hat, sondern durch beständige zyklische Übergänge und Vermittlungen fest zusammengehalten wird.
Die mentale Bewusstseinsstruktur
Die zyklische Vermittlung zweier einander ergänzender Hälften wird in der mentalen Struktur beendet: hier regiert der Gegensatz. Im Grunde erübrigt sich eine genauere Beschreibung dieser Bewusstseinsstruktur, denn es handelt sich um eine Erfahrung, die wir alle Tag für Tag machen: Ich stehe der Welt und den anderen Menschen als Vereinzelter gegenüber. Zwar gibt es zyklische Abläufe, doch sie können durch Handlungsimpulse durchbrochen werden, die neue Anfänge setzen. Sie machen das eigene Leben und die Weltgeschichte im Ganzen zu einem unumkehrbaren Ablauf einmaliger Ereignisse, die sich gedanklich entlang eines Zeitpfeils gruppieren lassen.
Gebser bezeichnet die mentale Struktur auch als „perspektivisch“ und sieht in zentralperspektivischen Gemälden ihre künstlerische Ausdrucksform. Die Illusion der Raumtiefe auf solchen Gemälden erzeugt den Eindruck eines Gegenüberstehens von Betrachter und Gegenständen. Alles läuft auf einen zentralen Fluchtpunkt zu, der der Position des Betrachters im Raum korrespondiert: Das Bild gruppiert sich um das Ich des Betrachters herum. Gleichzeitig verschwindet der Fluchtpunkt am Horizont des Bildes, wie sich die Zukunft beim Zeitpfeil ins Unendliche verliert.
Die mentale Struktur ist die dominierende Bewusstseinsstruktur des modernen Europäers. Sie ermöglichte den Fortschritt von Wissenschaft und Technik ebenso wie eine nie zuvor dagewesene Verzweckung und Entheiligung der Natur. Nach Gebser ist sie heute „defizient“ geworden, also in eine Phase des Verfalls und der Destruktivität eingetreten. Diese „Defizienz“ ist die Wurzel unserer gegenwärtigen geistigen Krise. Es kommt nun darauf an, sich durch diese Krise nicht lähmen zu lassen und ebensowenig in nostalgischer Regression ältere Strukturen des Bewusstseins wiederzubeleben, sondern die „Keimlinge des Neuen“ wahrzunehmen und zu fördern, auf die Jean Gebser im zweiten Band seines Hauptwerkes „Ursprung und Gegenwart“ hinweist. Sie werden in einem zweiten Teil dargestellt.
// Der zweite Teil folgt nächste Woche.