„Unsere Gegenwart ist durchschossen von Residuen“ – Im Gespräch mit Uwe Tellkamp

Gibt es ewige Gedichte der Gegenwart? Ist die Lyrik Gottfried Benns eine demokratische oder ist der Lyriker per se ein Aristokrat? Wo endet der Konservatismus und wo beginnt der Avantgardismus? Warum sollte man Stefan George in Koranschulen lesen und in welcher Form bekommt Uwe Tellkamp seine Romane zurückgeschickt?

Wir trafen den Dresdener Schriftsteller Uwe Tellkamp und sprachen über Gottfried Benn, die Rolle des Schriftstellers im Kulturbetrieb, über die Zukunftsfähigkeit des Konservatismus und die Frage, ob es Grund zur Hoffnung gibt.

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Lieber Herr Tellkamp, möchten Sie uns zum Einstieg ein Benn-Gedicht nennen, das Ihnen auf Ihrem bisherigen Lesensweg den größten Eindruck hinterlassen hat?

Ganz klar Schleierkraut. Mich hat der unverkennbare Rhythmus Benns sofort beeindruckt. Mir ist dann auch in meinem Studium aufgefallen, dass die Professoren der Medizin, wenn sie Lyrik kannten, dann meistens Benn kannten. Ich weiß noch ein Anatom, Paul Rother, der selbst auch Gedichte geschrieben hat und seine Vorlesung teilweise in Versform gehalten hat, der zitierte beim Sezieren immer Benn. Vor allem die Klassiker aus der Morgue und dem Gang durch die Krebsbaracke. Auch einige Pathologen und Hautärzte kannten ihn.

Aufgrund der Morgue Gedichte?

Natürlich auch, aber vielleicht liegt es auch daran, dass Benn einer der wenigen Lyriker ist, den erwachsene Männer mögen. Wo der Vorwurf des Kitsches oder des Pubertären vollkommen ausbleibt.

Wenn Ihnen als Chirurg die Moral durchs Skalpell fließt, geht’s schief.

Meinen Sie das liegt an der äußeren Kälte Benns?

Die Kälte gibt es bei Benn vor allem in den Essays und in der Haltung, die Gedichte hingegen sind sentimental grundiert. Es gibt eine Sehnsucht nach der Südsee (das Palau Gedicht). Auch in den Morgue Gedichten ist es nicht unbedingt Kälte. Es ist einfach der Stoff, der ihm zur Verfügung steht und dem er dann in lyrischer Form Ausdruck verliehen hat. Nach außen hin mag das sehr krass wirken, aber für jemanden der das praktiziert, ist das Alltag.

Denken Sie aber an die dunkelhelllila Aster, ein Anflug von Romantik …

… genau, aber den bricht er ja sofort wieder weg. Die dunkelhelllila Aster, die gemeinhin als die letzte Blume der Romantik gilt, wird sofort weggestopft.

Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber mir leuchtet das sehr ein, dass Benn der Dichter der erwachsenen Männer ist. Es ist vielleicht etwas gemein, aber Rilke ist dann der Dichter der Schwiegermütter und George der Dichter der jungen Männer.

So weit würde ich gar nicht gehen, es ist aber zumindest auffällig. Ob die Professoren andere Lyriker kannten, weiß ich nicht. Wenn sie mal etwas zitierten, dann meistens Benn. Nicht immer nur aus dem medizinischen Aspekt heraus. Wenn man die Möglichkeit hatte, in kleineren Gruppen mit den Professoren direkt zu sprechen, war meistens eine größere Kenntnis von Benn vorhanden. Das hat mich erstaunt. Die Gegenprobe: Bei jungen Frauen habe ich Benn hingegen nie gesehen oder zitiert gefunden. Da würde dann wahrscheinlich Rilke ins Spiel kommen. Es gibt offenbar einen Vorbehalt.

Gegenüber der Person?

Nein, gegenüber der Form. Aber natürlich ist auch die Person dahinter spürbar. Es ist der Vorbehalt gegen diesen mitleidlosen Blick.

Den „Blick der distance“ hat Helmut Lethen ihn genannt.

Das ist keine Distanz. Er zerrt ja alles ran. Wenn man die curettage liest, wo die Frau auf einem Stuhl liegt, die Beine wie zur Geburt abgespreizt und dann wird darin ausgeschabt, das ist ja das Gegenteil der Distanz.

Der Vorwurf gegenüber Benn war ja oftmals, dass er die Dinge so nah ranhole und kühl seziere und dadurch eine moralische Distanz entstehe.

Das kann sein. Vielleicht habe ich da einen zu ärztlichen Blick, weil der moralische Blick für einen Arzt nicht taugt. Wenn Ihnen als Chirurg die Moral durchs Skalpell fließt, geht’s schief. Das muss man klar trennen.

Wenn Sie als Student in irgendeiner Bude hockten mit fast 40 Grad und für Mikrobiologie lernen mussten, da war Benn der Pate.

Kein Zufall also, dass Benn Mediziner war.

Wenn ich mich mit anderen Ärzten über ihn unterhielt, war das Attribut der Kälte nie gegenwärtig. Im Gegenteil. Als ich so alt war wie Sie, war er mir sehr nah, manchmal sogar ein wenig onkelhaft. Unvergesslich sind mir diese unfassbar heißen Leipziger Sommer geblieben. Sommerzeit war immer Prüfungs- und nie Ferienzeit. Unheimlicher Druck gepaart mit größter Hitze, mit Schüsseln auf den Boden, wo wir durchgegangen sind, damit es ein bisschen kühler wurde und dann Benn als Figur, der dich das aushalten gelehrt hat, der auf die ganz elementaren Grundtatsachen zurückweist: Was ist das Leben? Brücken schlagen, über Ströme, die vergehen; Einsamer nie als im August; Die roten und die goldenen Brände. Wenn Sie als Student in irgendeiner Bude hockten mit fast 40 Grad und für Mikrobiologie lernen mussten, da war Benn der Pate und nie Rilke oder sonst jemand. Das ist eine Elementarfahrung von Lyrik überhaupt.

Rilke hockte auch nicht in Buden, sondern kränkelnd auf irgendwelchen Schlössern von Freunden.

Es ist bei Benn einfach härter und verbürgter. Er hat natürlich auch eine pathetische Lyrik, wobei ich glaube, Pathos wird von Kritikern mit Grundsatz verwechselt. Benn hat eher eine grundsätzliche Lyrik. Er bricht die gesamten Aktualitäten, die einen umschwirren, runter: Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, Rose, Duft, Himmel, Schwalbe, Südsee, Tod usw. Das beschäftigt und beeindruckt natürlich einen jungen Medizinstudenten, der mit Grundlagen konfrontiert ist: Was ist das Leben überhaupt? Was ist Krankheit überhaupt? Was ist eine Geburt? Wenn Sie das erste Mal zugucken und das Kind dort rausflutscht, mehr tot als lebendig, wenn Sie den Damm dann nähen, der blutet wie Schwein, wenn sie eine große Wunde vor sich haben, wie bei einem geköpften Rind … das ist Benn.

Ich finde ihn auch deshalb faszinierend, weil ich kaum ein Leben kenne, das gestopfter gewesen wäre. Er hat alles erlebt, er war im Ersten Weltkrieg, er war im Nuttenspital in Brüssel, hat dort geschrieben, hat die Inflation mitgemacht, er kannte Hinz und Kunz, egal ob Brecht, Becher, Bronnen oder Jünger… Er hat sogar noch Ernst von Bergmann operieren gesehen, eine Chirugenlegende.

Es muss ja einen Wendepunkt in Benns Leben gegeben haben, denn es gibt einen unverkennbaren Bruch zwischen den ganz frühen und den späteren Gedichten, wo ein Sehnsuchtsgefühl hinzutritt, das womöglich durch den Verlust eines heilen, geistigen Raums zu erklären wäre. Für Benn war die Gegenwart ja nur mehr eine gestapelte Faktenwirklichkeit.

Ich weiß nicht, ob es für Benn diesen heilen Raum je gab. Wenn ich ihn lese, dann habe ich nicht das Gefühl. Ich meine, er kommt aus einem Pfarrhaus und hatte größte Probleme mit seinem Vater. Der Vater hatte ja der Mutter, als sie im Sterben lag, das Morphium verweigert, da der Schmerz gottgewollt gewesen sei, dafür wollte der junge Benn ihn erschlagen. Ich weiß nicht, ob für ihn je etwas Heiles gewesen ist.

Die Frage wäre, um vielleicht auch die Parallele zu unserer Zeit zu ziehen, ob Benn diese Sehnsucht nach einem heilen, geistigen Raum schon immer in sich trug…

… die gab es immer, auch wenn man sie in den Morgue Gedichten noch nicht findet, sondern eher in dem, worauf sie weisen. Diese Gedichte aus den Morgue kommen mir vor wie Scherben aus einem sehr hässlichen Nachttopf, aber den Nachttopf muss einer gefüllt haben, mit seinen Sehnsüchten und Hoffnungen. Sie schweigen und sprechen gerade deswegen davon.

Sie fühlten sich vom „Schleierkraut“ direkt berührt. Meinen Sie, das ist eine Grundeigenschaft, die man in sich haben muss, das Sich-Berühren-Lassen-Können, um Benn überhaupt fühlen zu können, oder kann man das lernen?

Es ist die Frage, ob einem persönlich Lyrik zugänglich ist oder nicht, es ist keine Frage von Benn allein. Das Schleierkraut-Gedicht kommt zwar bei Benn vor, ist aber vielleicht nicht das Typischste für ihn.

Welche denn?

Die Aster: der frühe, der krasse Benn; zwei Dinge: der lakonische Benn; einsamer nie: der romantische Benn. Was mich beim „Schleierkraut“ einfach angerührt hat war die Musikalität und die vollkommene Rückführung. Man hat das Gefühl, man hört ein Zeitgeräusch und von dieser Schallplatte fährt einer den Tonabnehmer runter auf eine viel grundsätzlichere Schallplatte, die drunter spielt und in dieser aktuellen Tonlage nur punktuell noch zu hören ist. Ein ewiges Gedicht der Gegenwart.

Uwe Tellkamp beim signieren seines Romans Der Turm.

Das legt ein Kontinuum des Daseins frei. Auch wenn wir von geschlossenen geistigen Räumen sprechen, allein, dass das Gedicht möglich ist, weist ja darauf hin, dass diese Räume noch vorhanden sind, wenn auch nur auf den Einzelnen bezogen.

Was Sie gerade beschrieben haben, die Vergegenwärtigung des prähistorischen Augenblicks archaischer Empfindungen, dieses Motiv ist auch bei Stefan George allgegenwärtig. George hat aber im Gegensatz zu Benn einen kultischen Kreis um seine Lyrik gezogen. Warum fehlt das bei Benn vollständig?

Es gibt darauf eine drastische und eine literaturwissenschaftliche Antwort…

… wir wollen natürlich die drastische.

Benn war nicht schwul genug. Außerdem war Benn immer noch im Äußeren Arzt, das erzieht zu einer Form von Demokratie, Sie sind dadurch mit einer Lebenswirklichkeit konfrontiert, in der Sie sich solch herrscherliches Gebaren gar nicht leisten können.

Sie meinen also, Benn gehört auch als Figur ins 20. Jahrhundert? Das könnte man von George nämlich nicht behaupten.

Ich hatte bei George immer das Gefühl, er will etwas von Hölderlins Archipelagus wiedererwecken, also eine geistige, mit Griechenland kontaminierte Utopie, die mittelalterliche Züge trägt. Da gibt es ja von Grünbein dieses Diktum, nach dem George der größte Dichter des Spätmittelalters gewesen sei – was aber sicherlich eher ein Spätmittelalter Wagnerscher Prägung gewesen sein muss, denn es ist ja nicht real, sondern ein Sehnsuchtsort, der mit gewissen Insignien versetzt ist.

Sicher, aber da hätte George auch nie widersprochen. Er hat ja auch immer gesagt, was ich hier mache, oder was Wagner macht, das kann nicht aufgefunden werden, weil es eine Erfindung ist. Man müsste dann schon sagen, dass Benn im Gegensatz dazu modern ist.

Ja, vor allem alltäglicher. Das Unmoderne an George hebt vor allem auf seine Fremdheit in der Zeit ab. Der geistige Hall- und Lebensraum von Stauffenberg und George etwa, der ist uns heute fremd, was ihn so interessant macht. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass das er nie wiederkommen kann.

Eine interessante Frage wäre, wenn man über die Fremdheit in seiner jeweiligen Zeit spricht: Hat es nicht in der Zwischenkriegszeit besonders gut in die Zeit gepasst, zu sagen „Ich passe nicht in die Zeit“? Das hat Brecht ja auch George immer vorgeworfen. Wer 1920 gesagt hat, „Ich stehe gegen diese Zeit, weil sie vulgär und modern ist“, der war in der Mehrheit.

Mich würde interessieren, wie ein gebildeter Muslim George liest. Ob es von dem, was ich aus dem Koran verstehe als Laie, ob es nicht dort solche Vorstellungen des Jenseitsreiches oder überhaupt der Gottesglaubensvorstellung im Islam große Parallelen zu George gibt.

Das könnten wir ja mal in der Fußgängerzone ausprobieren: Sind Sie gebildeter Muslim, was halten Sie von Stefan George?

Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das zum Affront führen wird. Da urteilen wir aus unserer Zeit heraus, aber mal ernsthaft zu fragen, wie andere Kulturen darüber denken, ob diese elitäre Denkweise von George etwas Ewigzeitiges ist und nicht durchaus in Koranschulen Bestand hätte. Am Ende gibt es dort mehr George als in unserer verwalteten Kultur.

Der späte Benn, der Benn des Büchnerpreises und der Statischen Gedichte, war ein Demokrat.

Was wir doch heute vermissen ist das, was Benn und Teile seiner Zeitgenossen noch anders gemacht haben, aus dem Gefühl der Fremdheit in der Zeit etwas Schöpferisches zu ziehen und sich mit neuen Formen gegen die Zeit aufzulehnen. Oder sehen Sie etwas Neues aufkommen?

Ehrlich gesagt nicht. Das verstehe ich ja bis heute nicht, warum ein so starker Konformismus herrscht und man sich noch gut dabei fühlt.

Meinen Sie denn, dass Benn zu Größen wie Volk oder Gesellschaft Bezüge hatte?

Ich denke eher nicht, aber man muss klar sagen, gerade der späte Benn, der Benn des Büchnerpreises und der Statischen Gedichte, war ein Demokrat. Alles kommt in seinen Gedichten gleichberechtigt vor, der Professor, der dort raucht, das Bier, die Querflöte die etwas spielt usw. Er kontaminiert seine Texte ganz bewusst mit Alltag. Ich finde es interessant, dass gerade dieser Benn eine Breitenwirkung in der Bundesrepublik erlangt, wo gewissermaßen sein Umschwenken in den Zeitgeist passt. Der frühe Benn, der Radikalinski, kommt dort nicht vor und hätte auch in der frühen Bundesrepublik keinen Anklang gefunden.

Ins Adenauer-Biedermeier passt er schon rein.

Diese stoische Haltung, die mich immer fasziniert hat: du bist letztlich bei den elementaren Dingen allein, egal ob auf dem Totenbett oder bei der Geburt. Das Ich und die Welt, die sich drumrumdreht. Das ist einfach eine Sache von Stimmung. Die Schlager die vorüberwehen, die Hitze, die Großstadt im Sommer wenn alle im Urlaub sind. Eigentlich eine wunderbar produktive Zeit. Alle sind auf Mallorca oder Usedom und du bist in der Großstadt, die Wände strahlen die Hitze ab. Gehst in die Kneipe, zischst ein Bier, wie Benn schreibt, und beobachtest diese Wüste, die dort entstanden ist. Benn ist für mich eine Sache von Stimmung, die anderswo kaum wiederzufinden ist.

Benn nennen Sie dann insofern demokratisch, als dass er jedes Thema in seine Gedichte hineinfließen lässt. Aber ist er auch in der Form demokratisch?

Nein. Lyrik ist immer aristokratisch, das versteht sich von selbst. Lyrik ist nie ein Massenphänomen. Deswegen wirkt die „Erklärung der Vielen“, um das mal wieder runterzubrechen, für mich so absurd, wenn dort Lyriker unterschreiben. Lyriker sind immer Aristokraten.

Das gute Kunstwerk ist nie vereinnahmbar. Das gute Kunstwerk hat nicht recht.

Um noch einmal den Bogen zur Gegenwart zu schlagen: Sie haben einmal geschrieben „im guten Kunstwerk fehlt der Terror der Eindeutigkeit“. Diese Ambivalenz finden wir bei Benn sicherlich vor. Wenn wir hingegen heute auf den Kulturbetrieb blicken, gibt es da noch etwas, was nicht eindeutig ist? Oder muss durch die Politisierung des Kunstbetriebs alles eindeutig sein?

Das kann ich pauschal nicht sagen. Aber wo ich das wahrnehme, fehlt es mir oft, das stimmt. Das gute Kunstwerk ist nie vereinnahmbar. Das gute Kunstwerk hat nicht recht.

Sie haben selbst ein Buch geschrieben, das in der Öffentlichkeit sehr positiv rezipiert wurde und viele gute Rezensionen bekommen hat. Dass Ihr Werk nun in der öffentlichen Wahrnehmung durch politische Äußerungen Ihrerseits beschädigt wurde, tut Ihnen das weh?

Das tut weh und das stört mich auch, aber das ist unvermeidbar. Das ist das Spiel des Lebens.

Das Schöne bei Ihnen ist doch, sie bekommen sie nur zurückgeschickt und nicht wie Knut Hamsun früher über den Gartenzaun geworfen.

Doch, ich habe auch schon Werke geschreddert bekommen. Eins wurde durch den Reißwolf geschickt, nur das Titelblatt blieb unbeschädigt, damit ich sehen konnte, welches es ist.

Das ist ja abartig.

Das ist schon fast Liebe. Das hat mir wirklich zu denken gegeben. Dieses Paket voll mit Reißwolfschredder, das dauert ja auch eine Weile bis man es da durch geschickt hat. Das hat Mühe gemacht. Aber das ist unvermeidbar, das muss man wissen, wenn man in die Arena steigt in einer solch aufgeheizten Zeit, das war mir auch klar. Alles andere wäre naiv.

Vorher haben Sie sich ja relativ zurückgehalten. Ich meine auch, wenn wir in jungen Jahren mit unseren Freunden Ihren „Turm“ gelesen haben, da war uns schon klar, da schreibt schon jemand der wahrscheinlich konservativ ist oder zumindest nicht ganz so links. Wie viel Überwindung hat Sie das gekostet, sich in die politische Debatte zu begeben?

Das hat schon etwas Überwindung gekostet. Ich habe das ja schonmal ausgebadet, beim „Eisvogel“ oder auch zu meiner Studienzeit in Leipzig beim StuRa. Man fragt sich ja schon, willst du dir das nochmal antun, du hast Literatur zu schreiben. Natürlich wäre es auch klüger sich so zu verhalten, als gebe es gewisse Probleme nicht. Und man muss sich auch fragen, wie ergeht es deinen Kindern dabei, was hat das für Konsequenzen? Kriegst du ’nen Molotow ins Fenster geschmissen? Ich bin schon der Meinung, wenn man das will, das macht, dann muss man es ohne Zögern angehen.

Haben Sie das aus persönlichem Anreiz gemacht oder auch, um den medial so häufig geschundenen Dresdenern beizustehen?

Das habe ich primär aus persönlichen Gründen gemacht, weil es mich einfach angestunken hat, wie die Debatte in Deutschland läuft. Die Verlogenheit, Heuchelei und Elendigkeit der Journalisten zu diesem Thema. Der immer schlimmer werdende Umgang auch mit meiner Freundin Susanne Dagen. Gewisse Selbstermächtigungen und Selbsterhöhungen. Da habe ich mir irgendwann gesagt, jetzt reicht es mir, da kann man einfach nicht mehr im Elfenbeinturm sitzen. 

Haben Sie das bereut?

Nein.

Freuen Sie sich denn auch ein wenig über die spannenden und turbulenten Zeiten oder wäre es Ihnen lieber, es wäre ruhiger?

Ich persönlich habe es eigentlich gerne ruhig, wie die meisten Leute. Eigentlich wollen die Leute in Ruhe gelassen werden, werden sie aber nicht. Hier brechen alte Diskurse auf, dreißig Jahre nach der Wende. Viele Bürgerrechtler fragen sich, wofür sie überhaupt damals aufgestanden sind, wenn der gleiche Spuk jetzt wiederkommt.

Würden Sie denn sagen, dass es einen qualitativen Unterschied gibt zu dem, was Sie aus DDR-Zeiten kennen? Im „Turm“ beschreiben sie ja sehr detailliert eine Nische, in die man sich mit Literatur und Musik zurückziehen konnte. Diese Nische scheint es heute in der Form nicht mehr zu geben.

Das hat aber auch andere Gründe. Damals hatten viele Leute auch einfach viel Zeit, da waren sechs oder acht Stunden Arbeitstag. Meine Eltern und mein Onkel, die haben um 16 Uhr immer Deutschlandfunk gehört, dann kam danach der Onkel in Pantoffeln rüber und fragte, ob man dieses oder jenes gehört habe. Da gab es diesen Journalisten aus Bautzen, der dann auch gesessen hat, von Deutschlandfunk Hintergrund. Ein Pflichtprogramm für jeden. Solschenizyns „Archipel Gulag“ zirkulierte, wurde abgeschrieben. Oder auf die Buchmesse fahren, um Bücher zu klauen, die wir dann am Bahnhof im Schließfach versteckt haben.

Sie beschreiben noch eine richtige Lust und Energie, sich am kulturellen Austausch zu beteiligen. Wenn man heute sieht, wie alles gleichgültig behandelt wird, könnte man in dieser Hinsicht fast nostalgisch werden gegenüber einer Zeit, die man selbst nicht erlebt hat.

Das kommt aber wieder. Da müssen Sie nur mal hier nach Dresden ins Kulturhaus Loschwitz gehen. Da kommen mittlerweile sogar Leute aus Westdeutschland. Eine ähnliche Stimmung wie 89.

Sicherlich kennen Sie auch andere zeitgenössische Schriftsteller. Gibt es denn im Literaturbetrieb auch Bewegung?

Naja, alle Schriftsteller sind Individualisten. Natürlich sind da bekannte Namen wie Botho Strauß oder Martin Mosebach zu nennen.

Ich habe immer ein Problem mit Konservatismus, wenn es um das Vordergründige geht, um das, was man sofort erkennen kann.

Aber es gibt auch viele junge Leute, die tatsächlich schreiben können.

Klar, die gibt es. Ich schätze aber beispielsweise auch Jenny Erpenbeck sehr, obwohl sie in Sachen Flüchtlingsfrage mit Sicherheit anderer Meinung ist als ich. Auch das, was Günter Grass politisch abgesondert hat, war nicht besonders klug. Das hindert mich aber nicht daran zu erkennen, dass er mit der „Blechtrommel“ ein geniales Buch geschrieben hat.

Das kommt heute leider viel zu selten vor.

So ist es, aber man darf sich von solchen Tendenzen nicht vereinnahmen lassen. Dennoch gibt es natürlich auch solche, die unter wirtschaftlichen Zwängen leiden. Auch wie sich das Verlagswesen entwickelt, bleibt abzuwarten. Dieser Bekenntniszwang wird größer.

Wie Klonovsky sagt: Die Demokratie endet, wenn Bekenntnis zu ihr gefordert wird.

Absolut.

Wenn Sie drei Personen nennen müssten, die sie am meisten beeinflusst haben, welche wären das? Egal ob Lyriker oder Schriftsteller.

Benn ist schonmal gesetzt, klar. Sicherlich auch Frederike Mayröcker, die ist völlig frei. Und dann vielleicht noch Heimito von Doderer, Thomas Mann, Proust und Julien Gracq, das wäre so die Vätergalerie. Ich habe immer ein Problem mit Konservatismus, wenn es um das Vordergründige geht, um das, was man sofort erkennen kann. Bei Michael Triegel oder Martin Mosebach zum Beispiel, das mag ich überhaupt nicht. Wenn das etwa Konservatismus ist, bin ich nicht konservativ.

Es gibt einen Unterschied zwischen Kunst und bildungsbürgerlichen Turnübungen, wie Günter Maschke sagen würde. Zur Kunst gehört immer noch etwas ganz Anderes.

Für mein Verständnis ist es schon so, dass man mit ewigen Prinzipien die Gegenwart erfasst, sodass sie erkennbar bleibt und aber trotzdem das Grundsätzliche, das Überzeitliche durchschimmert. Trotzdem ist deine Aufgabe deine Zeit.

Es gibt glaube ich Grund zum Optimismus im Pessimismus. Je schlechter es einer Gesellschaft geistig und materiell geht, desto mehr findet diese Besinnung statt und der Kulturhunger kommt zurück.

Bei Mosbeach haben wir auch mal etwas spöttisch gesagt, es gibt Leute, die glauben, das Einstecktuch und der Weinkeller seien die halbe Miete.

Ich bin da eigentlich eher radikal. Ich habe eine Aufgabe, beispielsweise die Frage, wie stelle ich Diskurse dar. Dafür suche ich dann eine angemessene Form, da interessiert mich Konservatismus herzlich wenig. Mich interessiert, wie bekomme ich das hin und wenn ich bei einem bekennenden Wähler der MLPD etwas finde, das mich interessiert, dann schaue ich mir das an.

Suchen Sie aktuell eine neue Form für Ihren Stoff?

Die Frage ist immer, wie geht man um mit Zeit und Zeitlichkeit. Unsere Gegenwart ist für mich eine Zeit, die durchschossen ist von Residuen. Das war vermutlich zu jeder Zeit so, aber vielleicht bemerken wir das heute stärker durch die Verfügbarkeit von Residuen. Das heißt, was wir als Gegenwart definieren ist durchsplittert von Vergangenheitsrelikten. Wie stellst du dann eine Gegenwart dar, die einerseits technisch eine ist und gleichzeitig drumherum aus einer Landschaft von Relikten besteht? Ist es dann gestatten reliktuös zu schreiben? Ist es statthaft, über Punker wie Jean Paul zu schreiben? Ist das modern? Wo ist der Punk bei Jean Paul? Mich interessiert nur, wie bekomme ich das gefasst, alles andere ist mir völlig egal. Ich habe dabei keinerlei Angst vor politischen Konventionen, egal ob ich Indymedia lese oder TUMULT. Das ist die Ruchlosigkeit des Arztes.

Das nehmen wir uns auch ohne Medizinstudium raus.

Uwe Tellkamp mit Tano Gerke (Anbruch).

Wenn Sie sagen, Sie sind kein Konservativer aber dann schreiben, es sei schade, dass keiner mehr Amadeus Webersinke kennt …

… klar, das ist Konservatismus. Ja, konservieren, aber in welcher Form? Sie können die bewährten Mittel zum Konservieren nehmen oder lassen sich etwas anderes einfallen und genau da fängt ja der Avantgardismus an: Wie konserviere ich? Aber das tun wir ja alle, das ist für mich das Paradoxe an der Diskussion. Welcher Künstler, welcher Autor ist denn nicht konservativ? Wovon leben wir denn, von Erinnerungen, von der Kindheit, der Jugend. Wenn ich aufschreibe, dann konserviere ich immer.

Dann müsste man wohl eher konservativ durch restaurativ ersetzen, weil es einfach nicht mehr so viel zu konservieren gibt. Da liegt ja der springende Punkt, die konservativen Bewegungen in Osteuropa müssen ja nur konservativ sein, das reicht bei uns nicht mehr. Die Substanz ist einfach verlorengegangen, doch wo kann man anknüpfen, ohne dabei in nationalrevolutionäre Romantik zu verfallen?

Es gibt glaube ich Grund zum Optimismus im Pessimismus. Je schlechter es einer Gesellschaft geistig und materiell geht, desto mehr findet diese Besinnung statt und der Kulturhunger kommt zurück. Zu meiner Studienzeit habe ich danach gesucht, aber niemanden gefunden, mit dem man darüber hätte reden können. Ich war vollkommen isoliert. Heute gibt es ja schon einige Gegentendenzen, gerade hier in Dresden, aber ohnehin ist es immer eine Sache von wenigen, die das tradieren.

Herr Tellkamp, vielen Dank für das Gespräch.

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Das Gespräch führten Tano Gerke und Jonas Maron.

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