Gottfried Benn (VII) – Schleierkraut

Jahrhunderterscheinungen wie der Lyriker und Essayist Gottfried Benn wirken weit über ihre Lebzeit hinaus und inspirieren folgende Generationen. Der Autor der nachfolgenden Zeilen ist einer dieser Inspirierten. Nicht zuletzt durch die Absolvierung eines Medizinstudiums sind beide biographisch miteinander verbunden. Auch die Kenntnis vom Einzeldasein inmitten einer auseinanderfallenden Welt prägt die Gemütslage beider Autoren. Die Verbindung zur Gegenwart und ihrem spezifischen Geist verlieren sie dabei nicht.

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Dichtern begegnet man nicht selten über andere Dichter, so war es bei mir mit Benn, den ich in einem für die Verhältnisse, in denen ich aufwuchs, ungewöhnlichen Buch kennenlernte. Johannes Bobrowski, „Meine liebsten Gedichte“ hieß es, „Eine Auswahl deutscher Lyrik von Martin Luther bis Christoph Meckel“, 1985 im Union-Verlag zum Preis von 24,80 Mark erschienen, für die Bücherlandschaft der DDR sehr teuer; das Signal war: dieses Buch soll nicht gekauft werden.

Ich fuhr sofort, nachdem es angekündigt war, zum „Haus des Buches“ am Dresdner Postplatz, wo in der Warteschlange gemutmaßt wurde, das sei vielleicht die raffinierteste Strategie, Bücher an den Leser zu bringen, einfach die Preise in die Astronomie, schon werde auch im Lenin Dissidenz vermutet!

Bobrowski hatte die Angewohnheit gehabt, seine Lieblingsgedichte auf Karteikarten abzuschreiben in einer regelmäßigen, mich faszinierenden Schrift (einige Karten waren faksimiliert), er schrieb noch Sütterlin, ich las von Brentano „Wenn der lahme Weber träumt, er webe, / Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe“ und war berührt, ich schlug das Buch an anderer, zufälliger, Stelle auf, Seite 235, Gottfried Benn, „Schleierkraut“, las die erste Strophe „Schleierkraut, Schleierkraut rauschen, / rausche die Stunde an, / Himmel, die Himmel lauschen, / wer noch leben kann“, jeder weiß von den Tagen, / wo wir die Ferne sehn: Leben ist Brückenschlagen / über Ströme, die vergehn“ und war versenkt, versunken, war dem Anderen begegnet, das mit und in Sprache möglich war, einem Blick, einem Ton, der knapp den Schlager unterlief und etwas Uraltes, Vergessenes wiederfand, eine Melodie, weich, aber nicht sentimental, ein Lied für Kinder, die keine mehr sind, das sog mich ein, das hatte eine magnetische Magie, das war, um im Begriffsfeld zu bleiben, das mir im Medizinstudium bald vertraut sein würde, radioaktiv.

So trifft, dachte ich vielleicht nicht damals, sondern „empfand nur“, aber empfand so stark, daß ich mich an dieses innere Türauffliegen erinnere, das diese Zeilen bewirkten, – so trifft, denke ich heute, das poetische Wort, das Eichendorffsche Zauberwort mit einer Gefühlswucht, die sonst nur in der Musik vorkommt; ich lernte das Gedicht auswendig, ich murmelte es später, in den Hitzesommern Leipzigs, die immer Prüfungszeit waren, vor mich hin; es half mir, zu bleiben. Benn ist der einzige Lyriker für Männer, die erwachsen sind. In der Leipziger Liebigstraße, wo ich Medizin studierte, zitierten die Anatomen, Pathologen, Hautärzte Gedichte aus der „Morgue“, aber auch die illusionslosen späten Verse „ob die Glücke stimmen“ und „Sela, Psalmenende“. Seit der Begegnung im Bobrowskibuch suche ich Benn immer wieder auf, wie einen zwar distanzierten und skeptischen, aber väterlichen Freund, der zwei Kriege überlebte, Schiffsarzt war, alles aushielt, und dem jüngeren Kollegen schweigend ein Bier rüberschiebt.

Schleierkraut (1925)

Schleierkraut, Schleierkraut rauschen,

rausche die Stunde an,

Himmel, die Himmel lauschen,

wer noch leben kann,

jeder weiß von den Tagen,

wo mir die Ferne sehn:

Leben ist Brückenschlägen

über Ströme, die vergehn.

Schleierkraut, Schleierkraut rauschen –

es ist die Ewigkeit,

wo Herbst und Rosen tauschen

den Blick vom Sterben weit,

da klingt auch von den Meeren

das Ruhelose ein,

von fahlen Stränden, von Schären

der Woge Schein.

Schleierkraut, Schleierkraut neigen

zu tief Musik,

Sterbendes will schweigen:

Silence panique,

erst die Brücken geschlagen,

das Blutplateau,

dann, wenn die Brücken tragen,

die Ströme – wo?

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