Gottfried Benn (VI) – Menschen getroffen

Der späte Benn, das ist nicht mehr Schrei, Traum und Rausch. Es ist Ernüchterung. Der dionysische Materialismus des Frühwerks weicht einem resignativen Materialismus. „Menschen getroffen“ ist das Bekenntnis eines aufrichtigen Materialisten, Bekenntnis einer intellektuellen Resignation: das Sanfte und Gute ist zwar in der Welt, aber der Dichter findet keinen Grund dafür. Ein „Ignorabimus“ steht am Ende von Benns Lebenswerk. Und Benn ist aufrichtig genug, sein „Warten auf Godot“ nicht sentimental in ein „Warten auf Gott“ umzudeuten.

In dem frühen Gedicht „Der Arzt“ schrieb Benn noch höhnisch: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“. Er suhlte sich in Tod, Verwesung und stinkender Kloake, inszenierte sich als Egozentriker: „Auch was sich noch der Frau gewährt, / Ist dunkle süße Onanie“ („Synthese“). Der späte Benn hat das Staunen über die Menschen gelernt, über ihre Sanftheit und Güte. „Menschen getroffen“ ist nicht zuletzt ein Dokument des Mannes Benn, der über die Frauen staunt, die er in seinem ereignisreichen Leben kennengelernt hat, ein Dokument von hintergründigem erotischen Zauber. Dafür werden auch Mythos und Religion in Anspruch genommen: die phäakische Königstochter Nausikaa, die Odysseus nach einer Irrfahrt wäschewaschend am Strand trifft und die seine Geliebte wird – ja selbst die Engel, dem Materialisten doch eigentlich tote Illusionen, feiern in Benns Gedicht fröhliche Urständ. Damit schrammt das Gedicht an der Grenze zum Kitsch nur knapp vorbei. Als Gegengewicht dienen der leise Humor des Gedichtanfangs und der unpathetische Parlando-Tonfall des gesamten Gedichts.

Ist es Altersmilde? Altersweisheit? Etwas von beidem. Aber man sollte es nicht verniedlichen. Der hier spricht, weiß genau, wovon er redet und wo seine Grenzen liegen. Er weiß vor allem um die Begrenztheit seiner Lebenszeit, und dass der Tod nicht weit entfernt ist. Er hat Endgültiges zu sagen.

MENSCHEN GETROFFEN (1955)

Ich habe Menschen getroffen, die

wenn man sie nach ihrem Namen fragte,

schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,

auch noch eine Benennung zu haben –

„Fräulein Christian“ antworteten und dann:

„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,

kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ –

„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die

mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube

aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,

am Küchenherde lernten,

hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen –

und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,

die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,

woher das Sanfte und das Gute kommt,

weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.

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