In „Teils-teils“ berichtet Benn, dass in seinem amusischen Elternhaus „kein Chopin gespielt“ worden sei. Dass Benn hier gerade Chopin erwähnt, zeigt, dass dieser für ihn etwas Exemplarisches verkörperte: das vom Bürgertum vereinnahmte Genie. „Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal, / damit das Pack drauf rumlatscht!“, heißt es in „Nachtcafé“. 1928 hatte Benn ein Buch von Guy de Portalès gelesen: „Der blaue Klang. Friedrich Chopins Leben“, deutsch von Hermann Fauler. Diesem Buch entnahm er, wie wir heute wissen, jene biographischen Details aus dem Leben des Komponisten, die er zu dem hier vorgestellten Gedicht verarbeitete. „Chopin“ fand Eingang in die „Statischen Gedichte“, wurde also 1948 publiziert.
Aber ist es überhaupt ein Gedicht? Reime und ein festes metrisches Schema sucht man vergebens. Auch der hohe Ton und das Pathos der freien Verse eines Hölderlin fehlt völlig. Stattdessen ist das Gedicht in nüchternem Tonfall gehalten. Scheinbar nebensächliche Details werden erwähnt: Flügelmarken, Auftrittsorte und Bezahlung in England. Die Tasten, auf denen Chopins Hände beim Beginn seines Spiels lagen. Wer das Gedicht aber aufmerksam liest oder (besser noch) hört, der nimmt wahr, dass Benn mit diesen Details verfahren ist wie ein Komponist mit seinen Motiven: um Musik daraus und damit zu machen.
Musikalische Semantik taucht häufig auf in Benns Gedichten, von den frühen „Gesängen“ bis hin zum späten „Notturno“ und „Aprèslude“. Der Lyriker ist dem Komponisten verwandter als dem Schriftsteller oder Journalisten, er schafft das Autonome: „Man kann das Gedicht als das Unübersetzbare definieren“, schreibt Benn später in „Probleme der Lyrik“. Es gibt also im Gedicht, wie in der Musik, keinen hinter dem Material stehenden, vom Material ablösbaren Sinn, sondern nur das reine Spiel der Formen. In der Lyrik wird Sprache Musik, oder sie ist auf dem Weg dorthin. Das kann man auch bei „Chopin“ wahrnehmen.
Sagt man, dass das Gedicht „Chopin“ das Porträt eines Genies sei, dann muss man sofort korrigierend hinzufügen, dass Benns Geniebegriff nichts mit dem der Romantik gemein hat. Das Genie ist für Benn nüchterner Konstrukteur, der dennoch mit seinen Konstruktionen das Blut der Menschen in Wallung zu bringen versteht. „Meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet, was mir zu erreichen möglich war“, so werden in „Chopin“ die letzten Worte des größten Klavierkomponisten und -virtuosen aller Zeiten zitiert. Nüchterner und bescheidener kann man das eigene Lebenswerk kaum bilanzieren.
CHOPIN
Nicht sehr ergiebig im Gespräch,
Ansichten waren nicht seine Stärke,
Ansichten reden drum herum,
wenn Delacroix Theorien entwickelte,
wurde er unruhig, er seinerseits konnte
die Notturnos nicht begründen.
Schwacher Liebhaber;
Schatten in Nohant,
wo George Sands Kinder
keine erzieherischen Ratschläge
von ihm annahmen.
Brustkrank in jener Form
mit Blutungen und Narbenbildung,
die sich lange hinzieht;
stiller Tod
im Gegensatz zu einem
mit Schmerzparoxysmen
oder durch Gewehrsalven:
Man rückte den Flügel (Erard) an die Tür
und Delphine Potocka
sang ihm in der letzten Stunde
ein Veilchenlied.
Nach England reiste er mit drei Flügeln:
Pleyel, Erard, Broadwood,
spielte für zwanzig Guineen abends
eine Viertelstunde
bei Rothschilds, Wellingtons, im Strafford House
und vor zahllosen Hosenbändern;
verdunkelt von Müdigkeit und Todesnähe
kehrte er heim
auf den Square d’Orléans.
Dann verbrennt er seine Skizzen
und Manuskripte,
nur keine Restbestände, Fragmente, Notizen,
diese verräterischen Einblicke –
sagte zum Schluß:
„meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet,
was mir zu erreichen möglich war.“
Spielen sollte jeder Finger
mit der seinem Bau entsprechenden Kraft,
der vierte ist der schwächste
(nur siamesisch zum Mittelfinger).
Wenn er begann, lagen sie
auf e, fis, gis, h, c.
Wer je bestimmte Präludien
von ihm hörte,
sei es in Landhäusern oder
in einem Höhengelände
oder aus offenen Terrassentüren
beispielsweise aus einem Sanatorium,
wird es schwer vergessen.
Nie eine Oper komponiert,
keine Symphonie,
nur diese tragischen Progressionen
aus artistischer Überzeugung
und mit einer kleinen Hand.