Gottfried Benn (I) – Kleine Aster

Der sicher erscheinende Grund der Wirklichkeit zerbröselt: die Natur, die tradierten Residuen der Geschichte und des Geistes werden durch eine neue Konzeption der Welt verflüssigt und mit der um sich greifenden Industrialisierung hinweggespült. Es herrscht eine Atmosphäre der Entfremdung in die Gottfried Benn im Jahr 1886 hineingeboren wird.

Schon früh scheint Benn ein Sensorium für diese eigentümliche Stimmung zu haben und zeigt sich dementsprechend abgeschreckt von dem ihm umgebenden Dunst der Auflösung. Er sucht nach neuen Formen des Ausdrucks und findet sie in der Lyrik.

„Morgue und andere Gedichte“ lautet der Titel von Benns lyrischem Erstling. Der schmale Gedichtband zählte eine Auflage von 500 Stück, die Benns Erfahrungen aus dem Leichenschauhaus, in dem er tätig ist, in lyrischer Form fixieren. Schnell sind sie vergriffen, doch der große Erfolg blieb trotz einiger „witziger Kritiken“ (Benn) außerhalb des expressionistischen Milieus zunächst aus. Der Mythos vom Dr. Benn als Schockautor entsteht erst einige Jahre später, obgleich sich Benn zunächst recht skeptisch gegenüber der Auswahl seines Berliner Verlegers zeigte und von „einer schamlosen Ausnutzung meiner von Seiten des Verlegers“ sprach, der ausschließlich die skandalösen Verse in den Band aufnahm, um genau auf diesen Schockmoment zu spekulieren.

Dann fragst Du nach meinen Gedichten. Ich bedaure ihre Veröffentlichung bereits sehr. Nicht weil ein paar Spießer, Familienväter, Oberfeldärzte und ähnliche Kanaken aus ihrer Ruhe gestört werden. Sondern aus künstlerischen Gründen: der Inhalt überschreitet die Form. Es riecht nach Sensation. Es schmeckt nach Kino.

Benns frühe Lyrik, bekannt als seine expressionistische Phase, jedoch auf ihren makabren und amoralischen Gestus zu reduzieren, wäre deutlich zu kurz gegriffen. Nach gescheiterten Studiumsversuchen der Theologie und Philosophie geht Benn an die Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, um dort sein Medizinstudium zu absolvieren. Sechs Jahre später ist er promovierter Mediziner und eröffnet seinen ersten Gedichtband. In den fünf „Morgue“-Gedichten, von denen Kleine Aster den ersten Teil darstellt, eröffnet er dem Leser seine Erfahrungen aus dem Leichenschauhaus (franz. Morgue). Doch Benn spiegelt mit seinem seziererischen, medizinischen Blick nicht nur seine beruflichen Erfahrungen, sondern rekurriert eben auch auf den Verfall seiner Umgebung. Mit den „Morgue“-Gedichten und der Umgebung der Leichenschau steht Benn jedoch nicht solitär da, er greift damit auf eine Traidtion der lyrische Leichen-Sichtung zurück. Exemplarisch dafür sei Rainer Maria Rilkes gleichnamiges Gedicht aus dem Jahr 1907 genannt.

Doch klingt in dem Sound von Gottfried Benn eine antitraditionelle Stoßrichtung an? Es scheint so, denn nicht nur optisch und stilistisch bricht er mit den Lesegewohnheiten der „klassischen“ Gedichte, auch der Inhalt der Verse ist sofort zu fassen und bedarf meist keiner komplexen Entschlüsselung. Der Ton ist hingegen ein anderer, er ist durchweg zynisch. So ist es die „dunkelhelllila Aster“, die Blume der Epoche der Romantik, die mit dem Tod konfrontiert und von dem Zerfall mitgerissen wird – in der „Bauchhöhle“ verwelkt sie umgehend. Auch moralische oder religiöse Aspekte fehlen vollkommen in den dunklen und Mystik versprühenden Zeilen. Wenn auch sein Stil sich in den späteren Gedichten drastisch wandeln wird, so reagiert Benn doch ganz genau hiermit auf die geistige Misere seiner Zeit und lässt die gleiche Frage mitschwingen, die Charles Baudelaire in Frankreich schon einige Jahrzehnte zuvor gestellt hatte: gibt es eine Ästhetik des Hässlichen? Worauf man nach der Kenntnis der Bennschen Verse doch nur mit „Ja“ antworten kann. Ruhe sanft.

Zum Abschluss unserer Reihe zu Gottfried Benn sprachen wir mit dem Schriftsteller Uwe Tellkamp.

I. Kleine Aster (1912)

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
lrgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!

Weitere Beiträge