Futurismus und Faschismus – Zwillingspaar wider Willen?

Wer sich das futuristische Manifest Marinettis zu Gemüte führt, dem wird unweigerlich eine gewisse innere Verwandschaft mit dem später zur Macht gekommenen Faschismus auffallen. Die Verherrlichung der Gewalt, die Loblieder auf den Krieg, die Verachtung des behäbigen Bürgertums sowie die Zerstörungswut auf alles Gewesene erscheinen als Indizien gleichartiger Geisteshaltungen. Ist der „zweite Futurismus“ deshalb zwangsläufig als faschistische Staatskunst anzusehen, oder offenbaren sich auch hier Schattierungen und Nuancen, die eine simplifizierende Einordnung schwierig machen? Zunächst muss festgehalten werden, dass der Futurismus als Kunstform mehr als ein Jahrzehnt älter ist als das faschistische Regime Mussolinis und deshalb rückblickend eher von einer fruchtbaren Symbiose der beiden Phänomene gesprochen werden kann. Da sich der Faschismus nicht ausschließlich als reaktionär gebärdete, sondern im Gegenteil viele für die damalige Zeit progressive Elemente aufwies, eröffneten sich sowohl für Künstler als auch für den Staat ein großer Kooperationsspielraum. So fern sich die Künstler nicht explizit gegen den neuen Staat positionierten und im Sinne der „Italianità“ (Italianität, kann als Analogon zum „Deutschtum“ aufgefasst werden) ans Werk gingen, konnte von deutlich größerer künstlerischer Freiheit gesprochen werden als beispielsweise in der NS-Diktatur, die u.a. vom bekannten Bühnenbildner Prampolini stark kritisiert wurde.

Um diesbezüglich tiefere Einblicke zu gewinnen, bietet sich zunächst der Vergleich der beiden faschistischen Staaten bezüglich ihres Kunstverständnisses an. Während die Nationalsozialisten rasch jegliche Art von moderner bzw. avantgardistischer Kunst verboten und sogar auf Ausstellungen als „entartet“ verbrämten, maß sich Mussolini derartiges nicht an. Die geringere Radikalität hatte seine Ursache darin, dass die moderne Kunst in Italien maßgeblich vom Futurismus geprägt war, dessen Anhänger dem Faschismus größtenteils wohlwollend (z.B. Marinetti, dem Begründer des Futurismus) bis sehr positiv (z.B. Somenzi, Künstler des futuristischen Genres der „Luftmalerei“) eingestellt waren. Der wachsende Einfluss des NS-Regimes auf Italien ließ jedoch nicht lange auf sich warten, und so wurden aufgrund der mehr oder weniger verordneten Staatskunst in Deutschland (samt neoklassizistischen Bauten und antiken Schönheitsidealen) auch Forderungen nach einem italienischen Pendant zur „entarteten Kunst“ laut. Diese Vorgänge sind von politischen Prozessen der Vorkriegszeit kaum zu trennen, da die 1935 erlassenen Nürnberger Rassegesetze (wenn auch weit weniger radikal) auch in Italien als leggi razziali Anwendung fanden und der große Einfluss NS-Deutschlands immer spürbarer wurde. Der Historiker und Mussolini-Biograph Renzo De Felice sah im diesbezüglichen Einknicken einen „reinen Tribut an Deutschland“.

Nun schien, sollte der Futurismus des „Judaismus“ überführt werden können, eine gesetzliche Handhabe gegen ihn bereitzustehen. „Ebraico“ bot sich als Abkürzungsformel für alle modernen Kunstrichtungen, denen gegenüber das Verständnis ohnehin versagte.

Was sich im weiteren Verlauf offenbarte, war der Kampf um die innerfaschistische Deutungshoheit in der Kunst, die vereinfacht gesprochen zwischen rechtsfaschistischen Gegnern des Futurismus, welche ausschließlich „italienischer Kunst“ das Wort sprachen, und den „klassischen“ Faschisten im Umkreis Marinettis. Der sich ab 1938 propagandistisch stark ausweitende Antisemitismus hatte jedoch in Italien kaum gesellschaftlichen Rückhalt, und den ideologisch versteiften Hardlinern fehlte es selbst an einer schlüssigen Konzeption einer im weitesten Sinne „faschistischen“ Kunst. So scheint es wenig verwunderlich, dass das von der Zeitschrift „Il Quadrivo“ vorgeschlagenene antifuturistische „Referendum über die moderne Kunst“, die ein Quasi-Verbot erstrebte, kaum Zustimmung fand:

„Schon die Tatsache, dass überhaupt die Intellektuellen aufgerufen werden mussten, und die Staatskunst nicht einfach dekretiert werden konnte, ist im Unterschied zu Deutschland bezeichnend genug.“

Ein Gegenreferendum, angeführt von Somenzi und Marinetti höchstpersönlich, war die logische Konsequenz der sich kämpferisch gebärenden Künstler. Die hier vorgetragene Verteidigung des Futurismus, veröffentlicht in Somenzis Zeitschrift „Artecrazia“, ist voll des Lobes ebendieser Kunstform, welche seiner Auffassung nach alle ausländische Kunst mit Italianität imprägniert hatte und am authentischsten die große Faschistische Revolution verkörpere.

Die Staatsführung um den „Duce“ hielt sich bezüglich der Debatte um „echte faschistische Kunst“ überraschenderweise zurück und agierte dementsprechend unentschlossen. Man war wohl nicht gewillt, den Künstlern unnötigerweise Steine in den Weg zu legen und ließ sie entweder einfach gewähren oder spannte sie dementsprechend für politische Zwecke ein (siehe z.B. Alfredo Ambrosios Bildnis Mussolinis). Etwaige innerfaschistische Friktionen zwischen Marinetti-Jüngern und Rechtsfaschisten zeigten jedoch auch, dass eine grundlegende Infragestellung der Mussolini-Herrschaft in jenen Kreisen niemals ernsthaft diskutiert und das System sowohl durch „revolutionäre“ als auch „restaurative“ Kräfte stabilisiert wurde. Rückblickend betrachtet kam es allerdings, anders als in Deutschland, zu keiner Vernichtung der modernen Kunst und auch die italienische Ausgabe der „entarteten Kunst“ konnte aufgrund starken futuristischen Widerstands nie realisiert werden. Einen vorläufigen Klimax der Auseinandersetzung spiegelte sich exemplarisch auf zwei Ausstellungen ab, von denen die zuerst staatlicherseits initiierte „Premio Cremona“ (durch „Mussolinis rechte Hand“ Roberto Farinacci angestoßen) Kunst nach „deutschem“ bzw. anti-avantgardistischem Vorbild präsentierte. Passenderweise eröffnete Mussolini die Ausstellung selbst, die allerdings keine namhaften Künstler für sich gewinnen konnte. Die Antwort der selbstbewussten Futuristen folgte auf dem Fuße: Ihre „Premio Bergamo“ konnte die einflussreichsten und talentiertesten Köpfe für sich gewinnen. Dies ist ein Indiz für die Tatsache, dass der Staat die direkte Mitarbeit am vagen Projekt der „echten faschistischen Kunst“ schlechterdings nicht erzwingen konnte oder wollte.

Im Gegensatz zu Deutschland war es italienischen Künstlern möglich, ihre privaten wie beruflichen Nischen weiter auszubauen und relativ unbehelligt zu arbeiten, während avantgardistische Kunst unter Hitler von vornherein unmöglich gemacht wurde. Den geringen Widerstand gegen die faschistische Machtübernahme konstatierend, analysiert der italienische Philosoph Norberto Bobbio:

„[…] die italienische Kultur […] akzeptierte, sie erlitt, sie macht sich gleich, sie duckte sich in einem Raum, in dem sie fortfahren konnte, die eigene Arbeit zu tun.“

Besonders aussagekräftig ist die 1932 verordnete Vereidigung der Universitätsprofessoren auf das Regime, bei der von 1200 lediglich 11 ablehnten. Der Passauer Literaturwissenschaftler Manfred Hinz resümiert die Lethargie der gesamten Intelligenzija folgendermaßen:

Gleichgültig, ob er (der Faschismus, O. N.) in kulturkonservativer oder revolutinärer Perspektive gesehen wurde, traf er auf einen kulturellen Konsensus, der einen gewaltsamen Eingriff zu erübrigen schien. Die Anpassungsfähigkeit […] bezeichnet ebenso ihre Ohnmacht, wenn nicht gar die Begrüßung des neuen Regimes durch weite Kreise der italienischen Intelligenz […].

Der Umgang mit progressiven künstlerischen Bewegungen offenbart exemplarisch einige grundlegende Unterschiede der beiden faschistischen Staaten. Während man es in Italien verstand, die Futuristen ob ihrer grundlegenden Sympathie ins System einzubinden bzw. in Frieden zu lassen, sah man sich in Deutschland dazu gezwungen, Expressionisten und Dadaisten mit Berufsverboten zu belegen oder letztlich ins Lager zu schicken. Möglicherweise waren abseits kunstspezifischer Überzeugungen und Ideale auch eine charakteristische italienische Gelassenheit bzw. deutsche Radikalität am Werk, die Gestaltungsräume offen ließen oder von Beginn an versperrten.

Weiterführende Literatur und Links:

Norbert Hinz, Die Zukunft der Katastrophe – Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Walter De Gruyter, Berlin 1985

Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus: Geschichte, Ästhetik, Dokumente, rowohlt, Hamburg 1993

https://heise.de/-3421869

 

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