Ein Sprung ins All mit Maurice Dantec

„Die Wahrheit höchstselbst kann sich als eine große Lüge herausstellen.“

Maurice G. Dantec

In Frankreich gehört Polemik seit jeher zum Standardrepertoire der Literaten. Auseinandersetzungen, Invektiven, Provokationen und Herabsetzungen werden nicht gescheut, sondern auf allen denkbaren Galligkeits- und Giftigkeitsstufen kultiviert. Auch der Science-Fiction Autor Maurice Dantec war Offensiven keinesfalls abgeneigt. Doch sein schriftstellerisches Werk ist mehr als reine Provokation. Sein temporeiches, erzählerisches Werk bezog Inspiration aus allen nur erdenklichen Quellen: Informatik, Theologie, Botanik, Linguistik, Ontologie, Biologie, Ökonomie, Raketentechnik – um nur einige zu nennen. Bis dato in keiner deutschen Übersetzung zugänglich, beleuchtet es in phantastischen Wirklichkeitskonstruktionen die Wechselbeziehung von Mensch und Technik. Ein Autorenporträt.

Maurice Dantec scherte sich wenig um die eventuelle Möglichkeit von Irrtümern oder der Verletzung politischer Korrektheiten – seiner Meinung nach sind das in Kauf zu nehmende Berufsrisiken für Schriftsteller, die ihre Arbeit ernst nehmen. Und seinen Beruf und seine Berufung nahm Dantec äußerst ernst. In den deutschen Feuilletons wurde der selbsternannte französischsprachige Nordamerikaner wohl am häufigsten von Michel Houellebecq erwähnt, nämlich als Antwort auf die Frage, welche französischen Bücher der letzten Jahrzehnte sich zu lesen lohnen. Gut möglich aber, dass die Positionierungen des reifen und späten Dantec ihn gerade hierzulande als zu problematisch erscheinen lassen. Uninteressante Fragen hat er allerdings keineswegs gestellt, auch wenn sein Drogenkonsum manches allzu unliebsame Gerücht über ihn befeuert haben mag.

Nur einige wenige Beispiele: Er verstand sich nach seiner Hinwendung zum Christentum als „futuristischen“ Katholiken. Die Europäische Union lehnte er ebenso wie die Vereinten Nationen als gigantomanische, ineffiziente und fortschrittsfeindliche Bürokratiemonster ab. Die Todesstrafe und Weltraumexpeditionen hingegen befürwortete er ausdrücklich. Die wohl bekannteste und umfangreichste Polemik gegen ihn nahm 2002 ihren Anfang, als Dantec die zweifelhafte Ehre zuteil wurde, von dem Soziologen und Journalisten Daniel Lindenberg dem informellen Komplott der „Neuen Reaktionäre“ (Nouveaux réactionnaires) zugerechnet zu werden. Ihm wurde vorgeworfen, mitsamt anderen Schriftstellern und Denkern wie Michel Houellebecq, Philippe Muray, Alain Badiou oder Alain Finkielkraut die Werte der Aufklärung und Humanismus im Namen reaktionärer Ideen anzugreifen und so dem Rassismus Vorschub zu leisten.

Enzyklopädischer Cyperpunk

Soweit aber nur, um den äußeren Rahmen grob anzudeuten, denn es soll hier nicht um den Polemiker Dantec gehen, sondern um den Schöpfer von Literatur – eben diese war zeitlebens Dantecs große Obsession. Jahrgang 1959 und aus kommunistischem Elternhaus stammend, hatte er, nach einigen Jahren in der Pariser Werbebranche und New-Wave-Szene, Anfang der 1990er Jahre eher zufällig den Zugang zum Schreiben gefunden. Sein Roman-Erstling von 1993, La Sirène Rouge, erschien in der prestigeträchtigen Krimi-Reihe von Gallimard und wurde ein beachtlicher Überraschungserfolg, der ihm das verhasste Etikett einhandelte, ungewöhnlich talentierter Produzent extravaganter Science-Fiction-Thriller zu sein. Zahlreiche Romane, Erzählungen, Novellen, Essays, Tagebücher und Interviews folgten, nicht zuletzt auch Fernseh- und Internetauftritte.

Dem deutschen Leser kann vorneweg verraten werden, dass Dantec ein aufregender Romancier und Erzähler ist. Er kann spannend und unterhaltsam schreiben. Sein erzählerisches Werk speist sich stilistisch vor allem aus zwei Genres. Zuerst übernimmt er von der US-amerikanischen Science-Fiction, besonders im Geiste des Cyberpunk, das Gebot, für effiziente Spannungsbögen und effektvolle Auftritte, den unverkrampften Zugriff auf aktuelle Themen, schnelle Schnitte, kurz: Action zu sorgen. Die Inkrustierung und Ausgestaltung philosophischer und anthropologischer Fragestellungen in der Erzählung im Sinne eines neugierig-zweifelnden Humanismus kommt eher von der europäischen Science-Fiction. Zum anderen adaptiert er typische Erzähltechniken des französischen Krimis, das heißt des roman noir, wobei natürlich die Grenzen zum Thriller fließend sind. Dieser liefern ihm den trockenen Zynismus der mehr oder weniger „harten“, nur mittelmäßig erfolgreichen Männergestalten, aus deren Perspektive meist erzählt wird, die Gewandtheit, den Wortwitz und das Tempo in den Dialogen, die wohldosierten Anteile an Brutalität, Erotik, Perversität sowie Ironie und Humor.

Literatur als Fenster zur Zukunft

Maurice Dantec nutzt dieses literarische Fundament, um darauf eine eigene Welt zu schaffen, deren teils bizarre Phantastik getragen wird von bombastischem Ideenreichtum und einer irrwitzig-barocken Einbildungskraft. Besonders fällt die Tatsache auf, dass permanent und eklektisch alle denkbaren Wissenschaftsdisziplinen einbezogen werden. Bildung für einen Schriftsteller, so Dantec, sei nicht nur die humanistisch verstandene Kenntnis des Besten aus Sprache, Literatur und Geschichte, sondern nicht weniger Naturwissenschaften und Ökonomie. Im Sinne Rimbauds könne der Dichter als Seher nur vorangehen, d.h. vorandichten, wenn er sein Handwerk versteht und Bescheid weiß von der Wirklichkeit.

Den westlichen „Kulturbetrieb“ seit 1945 geißelte er regelmäßig als erstarrt, bildungsvergessen, verknöchert und selbstfixiert. Der Schock, den die unsäglichen Katastrophen der Weltkriege und des Holocaust ausgelöst hatten, habe besonders in Westeuropa eine Überproduktion weltfremder Flennereien von Halbgebildeten und Möchtegernintellektuellen eingeleitet. Einmal stellte er klagend fest, dass die literarischen und intellektuellen Strategien des Westens in ihrer reaktionären Antiquiertheit und Weltfremdheit der Methodik sowjetischer Landwirtschaftsplanungen glichen.

Anthropologische Experimentierfelder

Doch gerade im 21. Jahrhundert, so Dantecs Standpunkt, könne Wirklichkeit ohne die von den Wissenschaften hervorgebrachten Technologien nicht sinnvoll benannt werden. Von Haus aus kein Naturwissenschaftler, elektrisierten und euphorisierten ihn die Perspektiven, die die Wissenschaften in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten eröffnet hatten, anstatt ihn abzuschrecken. Ob Gentechnik oder Linguistik, ob Chaos-, Markt-, oder Quantentheorie: Er sah darin hoffnungsvoll zu meisternde Probleme. Die vollkommenste Verbindung all dieser Elemente in einem Werk ist ihm wohl in den Romanen der mittleren Phase, etwa in Babylon Babies gelungen. Bei den späteren Werken mag manchmal nicht zu Unrecht moniert werden, dass auf Kosten der Literatur die Reflexivität überhandnimmt, dass etwa Thematiken aus Theologie, Informatik, Philosophie und Psychologie allzu stark dominieren. Insbesondere Leser der Essays oder der metaphysisch-politischen Tagebücher Le théâtre des opérations mag manche Redundanz auffallen.

Europa – und natürlich Frankreich im Speziellen – sah er in einem moralischen, wirtschaftlichen und staatlichen Niedergang. Die Auflösung und Zersetzung von überkommenen nationalstaatlichen Institutionen und der Bürgergesellschaft (im Sinne der Analyse The Coming Anarchy Robert D. Kaplans von 1994) sowie die „neuen Unübersichtlichkeiten“ sah er in einer Mischung aus Nüchternheit und exaltierter Ungeduld. Der Zerfall der Ordnungen, beschleunigt durch die neuen Technologien, führe folgerichtig zu Chaos und Leere, die wieder neu geordnet und gefüllt werden müssten. So tummeln sich in den labyrinthischen Zukunftsvisionen von Maurice Dantec eine Unmenge von Akteuren auf postindustriellen Trümmern: Nationalstaatliche Reststrukturen aus Verwaltung, Armee, Geheimdiensten und Polizei, Konzerne, Internetgroßunternehmen, Mafiabosse und paramilitärische Zweckverbünde, fundamentalistische oder nationalistische Separatisten, Sektierer, verrückte Wissenschaftler, seltsame Künstler sowie viele Abgehängte, die kümmerlich ihr Dasein fristen – die Liste wäre lang.

„Das 21. Jahrhundert wird wissenschaftlich sein, oder es wird nicht sein“

Sein literarisches Instrument der Wahl war der Roman, verstanden als das Genre gewordene Nicht-Genre, als sprachlicher Allzweckschwamm für die Verbindung von Disparatem, in dem Kopie, Zitat, Parodie, sample und Anspielung keine Grenzen gesetzt sind. Der Roman solle sowohl Seismograph sein, indem er Gewesenes und Bestehendes verarbeitet, und er soll als eine Art anthropologisches Experimentallabor dienen, mit Blick auf die Potentialitäten der Zukunft. Literatur war ihm Möglichkeit, die schwierige und explosive, aber umso engere Beziehung zwischen Anthropologie und Technologie spielerisch abzuhandeln. Maurice Dantec, der bereits im Jahr 2016 mit nur 57 Jahren das Zeitliche segnete, leistete etwas sehr Kostbares: Einen phantastischen Sprachraum mit Fenstern zur Wirklichkeit.

Weitere Beiträge