Michel Houellebecq ist mehr als ein nihilistischer Schriftsteller

Michel Houellebecq ist das, was er nach eigenen Angaben als ein ungefährliches Individuum bezeichnen würde, nämlich ein Konservativer. In der jüngst veröffentlichten Essay- und Interviewsammlung offenbart sich der Franzose zudem als jemand, der tiefgründig über die Grundlagen seines schriftstellerischen Schaffens und die gegenwärtige Gesellschaft nachdenkt.

In Deutschland gibt es zumeist zwei Lesarten für das Werk des französischen Romanciers, die man pünktlich zu Neuerscheinungen in den Feuilletons studieren kann. Für die einen ist Houellebecq ein reiner agent provocateur; ein Gegner der Politischen Korrektheit, der Europäischen Union, des Islam und nicht zuletzt des Rauchverbots. Für die anderen ist er ein gauloisesbetriebener Seismograph, der es versteht, die Angst seiner Zeitgenossen zu erkennen, zu verinnerlichen und in entsprechende literarische Formen zu gießen. Dabei ist Houellebecq weder ein Repräsentant eines bestimmten kulturellen Milieus noch einer politischen Richtung.

„Es stimmt, dass ich kein Revolutionär bin. Schon der Begriff ,kollektives Glück‘ löst in mir einen gewissen Schrecken aus. Der Gedanke, die Gesellschaft könnte um mein Glück bemüht sein, ruft in mir keine Sympathien hervor. Darum bin ich nie revolutionär, bin ich nie gefährlich gewesen.“

Nach der Lektüre des jetzt auf Deutsch veröffentlichen Bandes »Ein bisschen Schlechter«, das Interviews und Kurzessays der letzten Jahre vereint, besteht kein Zweifel daran, dass der ebenso geschmähte wie gefeierte Autor nicht nur ein aufrichtiger Menschenfreund humanistischer Prägung ist, sondern auch jemand, der sich über die Grundlagen seines schriftstellerischen Schaffens in höchstem Maße bewusst ist. Nach dem Schließen der Buchdeckel ist kein anders Urteil möglich als dieses: Houellebecq ist das, was man gemeinhin als einen Intellektuellen bezeichnen würde, nämlich jemand, der durch sein Werk auf den momentanen Aggregatszustand der Gesellschaft einzuwirken versucht. Die zweite wichtige Konstante, und das mag paradox erscheinen, ist der omnipräsente Hang zur Weltflucht in seinem Werk. Darüber hinaus geht die Liebe zur Literatur sogar so weit, dass sich Houellebecq ein Bekenntnis zum ewigen Leben und zum Transhumanismus entlocken lässt, einzig um mehr Zeit für das Lesen aufbringen zu können.

Ein Geschädigter der Moderne

Solche nicht ganz unironischen und widersprüchlichen Aussagen seitens des Franzosen sind nicht neu. Doch Houellebecq ist mehr als eine Stimme, die sich berufen fühlt, die liberale Gesellschaft der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn der Vielleser über den Sexus schreibt, und das tu er fast immer auf eine höchst obszöne Art und Weise, dann befriedigt er damit nicht sein sadistisches Verlangen nach Empörung, sondern will den Leser darauf hinweisen, wie sinnentleert die gegenwärtige Vorstellung von Sex und dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern überhaupt ist. Wer sich dem Autor nähert, den beschleicht das Gefühl, dass die überformten Zustände der menschlichen Evolution trotz Fortschritt und Zivilisation subtil bis in die Gegenwart und damit auch in Houellebecq fortwirken. Ob man sich, um das zu verdeutlichen, so radikalen Mitteln bedienen muss, wie es der Franzose in Elementarteilchen oder auch seinem jüngsten Roman Serotonin macht, ist eine andere Frage. Ihre Wirkung verfehlt sie jedoch nicht.

Diese innerliche Zerrissenheit ist typisch für Nutznießer dieser in so vielfältigen Formen kritisierten und geschundenen liberalen Gesellschaft, zu der Houellebecq selbst gehört. Und so ist auch er selbst ein Modernegeschädigter, ein Zweifler, der sich ob der Kenntnis von der Wiederkehr des Religiösen und dem Schaden, den die Französische Revolution durch ihren radikalen Atheismus angerichtet hat, sich selbst nicht mehr in der Lage sieht, aufrichtig an etwas zu glauben. So reicht auch die ästhetische Schönheit, die der Katholizismus repräsentiert, die für seinen Lieblingsschriftsteller Joris Karl Huysmans noch ein wirksames Argument für den Glauben gewesen ist, nicht mehr als Rechtfertigungsgrundlage aus. Zu glauben, nur weil es schön ist, ist in der überkomplexen Postmoderne nicht mehr möglich.

„Wir haben die Utopien, die wir verdienen.“

Konservatismus ist „intellektuelle Faulheit“

Die Französische Revolution bildet, als der größte Einschnitt hin zur Entstehung der modernen Welt, einen zentralen Punkt in den Überlegungen Houellebecqs. Das wird in mehreren Interviews sehr deutlich. Durch die Revolution habe die Gesellschaft ihre tragenden Grundpfeiler einbüßen müssen, sodass sich chaotische Elemente unweigerlich manifestieren mussten. Allzu überraschend ist es demzufolge nicht, dass ausgerechnet einer der prominentesten Reaktionäre, namentlich Joseph de Maistre, zu den hochgeschätzten Autoren des Franzosen gehört. Der Wert in den Schriften des Gegenaufklärers liege darin, „den Plattheiten des Katechismus“ den Reiz der Extravaganz verliehen zu haben – so bemerkte es der rumänische Aphoristiker E. M. Cioran.

„Ich bin für einen ausgewogenen Katholizismus.“

Auch wenn der Verdacht nicht unbegründet erscheint, ist es mehr als nur die Extravaganz, die Houellebecq von de Maistre adaptiert hat, sondern wohl bedeutend entscheidender seine Sicht auf den Verlauf der Geschichte. So zum Beispiel, dass der Katholizismus, trotz aller berechtigten Vorbehalte gegenüber seiner historischen Form, bewiesen habe, in der Lage zu sein, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zusammenzuhalten. Diesen Nachweis zu erbringen sei die postrevolutionäre Ordnung hingegen den Menschen bis heute schuldig. Folgt man Houellebecq in dem wohl lesenswertesten Gespräch des Bandes mit Geoffroy Lejeune, dann sei die Katholische Kirche gut damit beraten, sich auf ihr Kerngeschafft zurückzubesinnen, und das ist zweifelsohne die Verkündung Gottes.

Doch auch wenn Houellebecq genau dies in seinen Romanen vollzieht, die Abgründe der liberalen Gesellschaft aufzuzeigen, ist es anders als bei de Maistre kein tiefgreifender Hass, der den Kettenraucher antreibt, sondern eher ein charakterlicher Fatalismus. Denn Houellebecq ist nicht „bereit zuzugeben, dass der stete Wandel etwas Gutes ist“ – warum auch? So hat auch der Konservatismus seinen Ursprung, folgt man Houellebecq, in der „intellektuellen Faulheit“. Ohnehin: dem Göttlichen komme man nicht durch Demonstrationen oder der aktiven Beteiligung am Weltgeschehen näher, sondern durch die Poesie und die Literatur. Einzig und allein dort, wo es keinen offenen Widerspruch gibt.

Houellebecq gelingt es, die tieferliegenden psychologischen und metaphysischen Dimensionen der menschlichen Existenz zu beschreiben. So kritisiert er zwar das vorgespielte Sein, dem zwanghaften Entsprechenmüssen von Rollen, er selbst jedoch spielt seine Rolle als latent gelangweiltes und emotional abgestumpftes Enfant Terrible nur allzu überzeugend.

Viel dreht sich bei den Betrachtungen von Michel Houellebecq über den Zustand der Welt, um Philosophie und ethische Grundlagen. Zugegeben ist das für einen Schriftsteller nicht unüblich, die gelassene Haltung jedoch, mit der Houellebecq seinen Gegenstand betucht, ragt im zeitgenössischen Schriftstellertum heraus.

„Ein Leben, das nur aus Träumen besteht, ist es in meinen Augen wert, gelebt zu werden.“

Michel Houellebecq, Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen, DuMont 2020, 200 Seiten. 22 Euro, hier erhältlich.

Michel Houellebecq hat sich an unserer Sammlung der »Schriftbilder« beteiligt und uns eigens für diesen Zweck eine Abschrift zukommen lassen.

 

 

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