Beim Fernsehen handelt es sich allen zeitgenössischen Neuentwicklungen zum Trotz noch immer um eines der wirkmächtigsten Medien unserer Zeit. Zunehmend wird es totgesagt. Doch selbst für den Fall, dass es irgendwann einmal vollkommen verschwinden sollte, werden wir es wohl nie ganz loswerden. So hat es doch die intermediären Medien des 21. Jahrhunderts zweifelsfrei nachhaltig beeinflusst und ebenso auch die Kindheit und Jugend weiter Teile der Leser- und Autorenschaft.
Gründe genug also, seinen mit Sicherheit schärfsten Kritiker, den amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman anzuhören. Sein Kollege an der TU Berlin, Norbert Bolz, bezeichnete Postmans Betrachtungen gar als ein „Extrem der Medienkritik“.
Neil Postman, Jahrgang 1931, lehrte Zeit seines Lebens „Medienökologie“ an der Universität in New York, wo er auch 2003 verstarb. Seine Schriften brachten ihm den Vorwurf ein, insgeheim anti-aufklärerisch zu denken und so zu arbeiten. Bei Schlagworten wie „Wir amüsieren uns zu Tode“ und „Wir leiden unter kulturellem Aids“ scheint dieser Vorwurf zunächst wenig verwunderlich. Letztlich wurde Postman jedoch überwiegend im Bereich des linken Kulturpessimismus verortet, wie er sich auch noch in der frühen Phase der sogenannten Frankfurter Schule in Deutschland wiederfand.
Für Postman hatte der Siegeszug des Fernsehens weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. „Das Verschwinden der Kindheit“ war 1982 seine erste Veröffentlichung, die sich umfassend mit diesem Komplex auseinandersetzt. Die gesellschaftliche Kategorie der „Kindheit“ sei demzufolge der abendländischen Zivilisation lange unbekannt gewesen. Die Kindheit entstehe erst durch die Grenzziehung zur Welt der Erwachsenen. Diese Grenze ist am klarsten da zu suchen, wo den Erwachsenen Erfahrungen und Kenntnisse vorbehalten sind.
Das Vorhandensein von Geheimnissen ist für Postman der Schlüssel und notwendige Bedingung für die Existenz der Kindheit. Der Beginn dessen, was wir heute unter dem Begriff Kindheit verstehen, findet Postman darum bei der Erfindung des Buchdrucks. Die Barriere der Literalität schafft exklusive Inhalte, die nur Erwachsenen mit entsprechender Lesebegabung zur Verfügung stehen. Kinder müssen das Lesen schrittweise erlernen – insbesondere durch Erwachsene innerhalb der Institution Schule.
„Von einigen Ausnahmen abgesehen, wird ein erwachsenes Leseverhalten kaum vor dem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr erreicht (und in einigen Fällen natürlich überhaupt nicht). Dabei muß man beachten, daß der schulische Lehrplan selbst immer der strengste und hartnäckigste Ausdruck der von den Erwachsenen ausgeübten Zensur gewesen ist. Man betrachtet die Bücher, die im vierten, siebten oder neunten Schuljahr gelesen werden, nicht allein wegen ihres Wortschatzes und ihrer Syntax als für das jeweilige Alter geeignet, sondern auch deshalb, weil man davon ausgeht, daß sie Informationen, Ideen und Erfahrungen für Schüler des vierten, siebten oder neunten Schuljahres enthalten.“
(Postman 1982, S. 91f)
Das Fernsehen hingegen steht dem vollkommen entgegen. Postman nennt es das „Medium der totalen Enthüllung“, das „egalitäre Kommunikationsmedium schlechthin“. Fernsehen muss wie Bildsprache insgesamt nicht erlernt werden, es benötigt und entwickelt keine Fertigkeiten.
Fernsehinhalte stehen allen unabhängig ihrer Altersgruppe zur Verfügung. Kinder erhalten Zugriff auf Inhalte, die nicht für ihre Altersgruppe bestimmt sind – Inzest, Homosexualität und Sadomasochismus sind für Postman exemplarisch. Beim Lesen waren „Zensurmaßnahmen“ durch Erwachsene noch einfach durchsetzbar. Spätestens mit dem Fernseher im eigenen Kinderzimmer ist es damit vorbei. Mit ihm zerfällt jedes Geheimnis, das „Verschwinden der Kindheit“ ist in Gang gesetzt. Zeitgleich findet die Infantilisierung der Erwachsenen statt, der Muster des neuen verzerrten Kindes übernimmt. Der „Kind-Erwachsene“ ist geboren. Die Folge: eine gesamtgesellschaftliche Degeneration, die ihresgleichen sucht.
Für ein Bewegen in der heutigen Medienlandschaft gleich in welcher Abteilung ist ein Verständnis medientheoretischer Grundlagen unerlässlich. Der „Medienprophet“ (Stefan Koldehoff) Neil Postman ist da für den geneigten Kulturpessimisten jedweder Couleur Pflichtlektüre.