Die Wiederkehr der Maske – Zur Permanenz des Rituals

Ein Gesicht, das von einer Maske verdeckt wird, ist uns naturgemäß fremd. Annahmen über die Grundstimmung, die innerhalb kürzester Zeit unwillentlich auf den Betrachter ausstrahlen, werden unmöglich gemacht – Stimmungen und Emotionen werden neutralisiert. Wie kaum ein anderes Utensil verkörpert die Maske den Ausnahmezustand.

Die Maske hat unseren Alltag erobert. Und das nicht erst seit der obrigkeitsstaatlichen Verordnung zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung im öffentlichen Raum. Bereits in der Popkultur der vergangenen Jahrzehnte wurde die Symbolkraft der Maske genutzt, um die Wirkung künstlerischer Ausdrucksformen zu steigern und eine konkrete Person in einen außergewöhnlichen Kontext zu rücken. Sie wurde von einem Ritual- zu einem Kunst- und schließlich zu einem Alltagsgegenstand transformiert. Trotz ihrer Dauerpräsenz entkommen wir ihrer ursprünglichen Wirkung nicht, vielmehr erleben wir heute die zähe und mitunter narkotisierende Permanenz des Rituals.

Eine Deutung, um die sich bereits vielfach bemüht wurde, ist, die Maske als Metapher für das entfremdete Individuum zu verstehen. Demnach würde die Dauerpräsenz der Maske bereits mit der Entstehung der modernen Industriekultur selbst aufkommen, die den Einzelnen in der großen Masse unkenntlich werden lässt. Die Maske als physisches Objekt verschwindet in dieser Deutung hinter ihrer symbolischen Form. »Charaktermaske« ist der dazugehörige Begriff aus der marxistischen Soziologie, der diese Entfremdungstendenz auf das kapitalistische System an sich zurückführt.

»Give a man a mask and he will tell you the truth.«
Oscar Wilde

Doch Gesichtslosigkeit trägt auch ein gewisses Befreiungspotential in sich und paradoxerweise zeigen manche Menschen gerade aufgrund des vermeintlichen Schutzes durch die Maske ihr wahres Gesicht. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, folgt man den sich scharfsinnig gebenden Analytikern der Postmoderne, die sich auf die Spur einer Interpretation begeben, die den Menschen in den modernen sozialen Zusammenkünften per se als maskiert versteht. Wir alle entsprächen einer präformierten Rolle, um das Gemeinwesen nicht zu gefährden und den institutionalisierten Erwartungen an den Einzelnen gerecht zu werden.

Folgen wir dieser Deutung der Maske in das hyperindividualisierte 21. Jahrhundert, werden wir recht schnell mit der Maskierung auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen konfrontiert, die offenkundig der optimierten Selbstdarstellung dienen. Dadurch, dass wir Bilder und Gedanken aus unserem Alltag teilen, erwecken wir den Eindruck von Transparenz und Nahbarkeit. Tatsächlich jedoch führt diese Dauerpräsenz der eigenen Person zur inneren Umkehrung. Wir selektieren und wählen fein säuberlich aus, was und womit wir uns an die Öffentlichkeit richten. Alltägliche Abläufe werden oftmals durch den verschönernden Schleier eines Filters nur schemenhaft an die Öffentlichkeit getragen, um so den Eindruck von Normalität zu vermitteln. Wir optimieren nicht nur unseren Alltag, sondern vor allem uns selbst, indem wir unser Leben auf die Erwartungen des Betrachters abstimmen.

Tatsächlich entfernen sich derlei Interpretationen recht schnell von der eigentlichen Symbolfunktion einer Maske. Ein Blick zurück zum Ursprung der Maske könnte also auch für gegenwärtige Interpretationsansätze lohnenswert und aufschlussreich sein.

Die möglichen Zugänge zu dem Phänomen der Maske sind so zahlreich wie ihre Erscheinungsformen selbst, gibt es sie doch in unterschiedlichsten Formen und Spielarten: die archaische Kultmaske, die prähistorische Kriegsmaske, die antike Theatermaske, die entzeitlichte Totenmaske, die vor Chemikalien schützende Gasmaske, die Anonymität gewährende Vermummungsmaske und schließlich auch die sich im omnipräsenten Neusprech „Alltagsmaske“ schimpfende der gegenwärtigen Krise. All diese Formen verweben sich in der Gegenwart zu einem undurchsichtigen Deutungsgeflecht.

Nicht nur in unterschiedlichen rituellen Kontexten kann die Maske als solche eingesetzt werden, auch ihre Funktion wird je nach Zweck angepasst. So kann sie Schutz gewähren, beim Schauspiel eine andere Person verkörpern, der entscheidende Ritualgegenstand sein, oder aber symbolisch – im Kontext der Spätmoderne – für die Entindividualisierung einer Person stehen. Letztgenanntes ist offenkundig eine Eigenschaft, die immer auf die Verwendung der Maske zutrifft, sei diese Wirkung intendiert oder ein einfacher Nebeneffekt: die Person als Träger der Maske wird im Wesentlichen, nämlich in der Einzigartigkeit des menschlichen Gesichts, unkenntlich gemacht. Das Individuum verschwindet hinter ihr und verkörpert dadurch etwas anderes als das Selbst.

Allein die Vielfältigkeit der kulturraumübergreifenden Maskenerscheinungen lässt darauf schließen, dass ihr Erscheinen im Zusammenhang mit archetypisch-anthropologischen Konstanten stehen könnte. Vergegenwärtigen wir uns den Ursprung der Maske, müssen wir gedanklich zu den Urformen menschlichen Zusammenlebens zurückblicken. Denken wir einmal zehntausende Jahre zurück, so hat die Maske ihren Ursprung in der kultischen Anwendung und wurde mit der Absicht eingesetzt, das Individuum im magisch-rituellen Kontext in eine andere Gestalt umzuwandeln. Die Verwandlung eines Schamanen beispielsweise führte zur Menschwerdung eines mythischen Wesens, das mittels der Maske in die konkrete Zeit transportiert wird, oder umgekehrt: der Schamane tritt durch das Tragen der Maske in eine dem einfachen Menschen verschlossene Welt ein. In eine Welt vor dem Fall in die Geschichte, wie der Religionswissenschaftler Mircea Eliade die rituelle Funktion der Maske interpretiert. Nicht mehr der Träger der Maske existiert also, sondern das durch sie verkörperte Wesen. Der Mensch befindet sich in einer Zwischenwelt und ist nurmehr Vermittler göttlicher Weisheit und uralt-ewigen Wissens.

»Jede Maske drückt aus, dass sie nicht der Alltagswelt angehört.«
Mircea Eliade

Die oftmals dionysisch anmutenden Maskenumzüge der ackerbautreibenden Völker haben eine lange Tradition und wurden benutzt, um einen befruchtenden Einfluss auf Vieh und Flur auszuüben. Im badischen Raum ist diese Tradition bis heute bekannt, die Figur des »Krampus« steht dafür stellvertretend, aber auch im rheinischen Karneval sind noch Residuen des Ursprungs dieser Tradition nachzuweisen. Alles dreht sich dabei um die Vergegenwärtigung nicht alltäglicher Wesen. Es handelt sich um einen bewusst herbeigeführten Ausnahmezustand, der die chronologisch fortlaufende Zeit durchbricht und einen anderen Seinszustand herbeiführt. Man könnte auch sagen: Die Maske ist deshalb eine Maske, weil sie einer anderen Welt angehört als der alltäglichen.

Aber auch in der Gegenwart begegnen uns Phänomene, die auf die symbolische Verwandlung der Maske Bezug nehmen. Ein besonders eindrückliches Beispiel aus der modernen Popkultur, in der all die oben angerissenen Deutungsmuster zusammentreffen, liefert ein Film des 1999 verstorbenen Kultregisseurs Stanley Kubrick. Eyes Wide Shut ist ein cineastisches Meisterwerk, das nicht nur mit anhand freudscher Deutungsmuster analysiert werden kann und den Zuschauer dadurch mit seinen ureigenen, teils verborgenen Bedürfnissen konfrontiert, sondern zugleich die schauernd-schöne Anziehungskraft und Strenge eines Rituals veranschaulicht, das einem erlesenen Zirkel vorbehalten ist. Moral und bürgerliche Hierarchien verschwimmen hier. Die Maske ist das Symbol des ganz Anderen.

Diese vielfältigen Erscheinungsformen zeigen, dass die Maske an sich nie zu einem reinen Alltagsgegenstand werden kannzu viel Kultur- und Ritualgeschichte wirkt durch sie hindurch. Auch wenn wir uns durch Infektionsschutzverordnungen noch so nachhaltig an die tägliche Präsenz gewöhnen, bleibt eine phänomenologische Komponente bestehen. Der Ritualzustand wird dauerhaft vergegenwärtigt, und zwar durch eine negative Umkehrung: Die Maske symbolisiert nicht mehr das kultische Verlangen, die gegenwärtige Zeit zu durchbrechen, sondern im Gegenteil, den Erwartungen des Hier und Heute zu entsprechen.

 

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