Um ehrlich zu sein war ich nie ein großer Bewunderer des niederländischen Malers Vincent van Gogh (1853-1890), der heute als einer der berühmtesten seiner Zunft gilt. Aus meiner Kindheit kann ich mich noch an den großen Doppelband der gesammelten Werke von van Gogh mit dem illustrierten Schutzumschlag aus unserem Wohnzimmer erinnern. Doch schon in jungen Jahren waren mir die Bilder zu abstrakt, zu farbenfroh, ja irgendwie zu weit weg von meiner Lebenswelt. Von van Gogh blieb in meinem Gedächtnis also nicht mehr hängen als die notwendige Allgemeinbildung.
Ändern sollte sich das mit der Lektüre des Aufsatzes „Der Ursprung des Kunstwerkes“ von Martin Heidegger. In diesem Aufsatz versucht Heidegger das Wesen des Kunstwerks aus sich selbst heraus zu bestimmen. Kennzeichnend für ein Kunstwerk sind demnach weniger ästhetische Kategorien, als ein „sich ins Werk setzen der Wahrheit“. Das Kunstwerk eröffnet dem Betrachter also eine zunächst verborgene Welt. Die Bedeutung dieses Aufsatzes für das Grundverständnis Heideggers, seiner Auffassung der Begriffe Welt und Erde, seien hier nur am Rande erwähnt. Bemerkenswert an diesem Aufsatz ist die großartige Interpretation der Bauernschuhe, die van Gogh auf einem Pariser Markt erwarb und 1886 in einem Stilleben einfing.
„Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.“
Durch diese heideggersche Interpretation der Bauernschuhe wird also die ganze Lebenswelt einer Bäuerin aus der Unverborgenheit gehoben. Der alltägliche Gebrauch und die Routine im Umgang verdecken zunächst das, was durch das Kunstwerk erneut freigelegt wird. Die Beziehung zu dem Ding geht so weit, dass unsere verborgene Verwebung in die Welt und zur Erde ans Licht gebracht wird.
Die Welt durch die Augen van Goghs zeigen will auch der Regisseur und Maler Julian Schnabel mit seiner jüngsten Verfilmung „Van Gogh – An der Schwelle zur Ewigkeit“, die aktuell in den deutschen Kinos läuft. Im Mittelpunkt des Films steht neben der Biographie vor allem die Gefühls- und Gedankenwelt van Goghs.
Der Ruhm van Goghs lässt sich einerseits durch seinen intensiven Farbauftrag, die leuchtenden Ölfarben und die gesellschaftliche Faszination für ausgestoßene und unverstandene Genies anderseits erhellen. Beide Elemente werden in dem Film auf beeindruckende Weise eingefangen. Letzteres geschieht vor allem durch die schauspielerische Glanzleistung Willem Dafoes, der in der Hauptrolle seine bisher wohl anspruchsvollste als auch beste Performance abgeliefert hat. Der Film lädt dazu ein, die Verlorenheit van Goghs in einer Welt, die seine Kunst und seinen Blick auf sie nicht verstehen kann, auf authentische Weise nachzuspüren. Wir erleben einen bis zum Ende seines Lebens ignorierten, aber von seiner Kunst tief überzeugten van Gogh, und auch die prachtvolle Farbenwelt wird cineastisch aufgenommen, gepaart mit einer Kameraführung, die bei dem Zuschauer immer wieder Verwirrung stiftet, aus welcher Perspektive uns die Welt gerade auch gezeigt wird. Getragen wird dieser Blick von einer angenehm langsamen Erzählung, die schließlich im Tod des Malers zusammenläuft.
Deutschsprachiger Trailer: